• Veröffentlichungsdatum : 10.09.2021
  • – Letztes Update : 16.09.2021

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Verloren im Wüstensand - Teil 1

Anna Hlawatsch

Die Bilder der Terroranschläge des 11. September 2001 auf New York und Washington gingen um die Welt. Schlagartig war dem Westen die Gefahr des transnationalen, islamistischen Terrorismus bewusst geworden. USA und NATO reagierten mit einer Militärintervention in Afghanistan. Die Zweckkoalition einte ein Ziel, die Zerschlagung des Terrornetzwerkes Al-Qaida. 20 Jahre später ist der Einsatz beendet und Kabul fest in der Hand der Taliban. Afghanistan steckt in einer schweren humanitären Krise. Die Welt beschäftigt sich mit der Schuldfrage und schielt dennoch auf die Bodenschätze des Landes.

In den Morgenstunden des 11. September 2001 entführten 19 Islamisten, bewaffnet mit Messern und Pfefferspray, vier Linienflugzeuge der American Airlines. Binnen weniger Minuten hatten die Geißelnehmer die Kontrolle über die Flugzeuge erlangt und die vollbetankten Maschinen in todbringende Marschflugkörper verwandelt. Als Flug 11 in den Nordturm des World Trade Centers stürzte, wurde zunächst von einem tragischen Unfall ausgegangen. Kurz darauf explodierte die zweite Maschine im Südturm. Die Stadt, die niemals schläft, verstummte.

Den Dschihadisten war Unfassbares gelungen. Sie hatten nicht nur einen Anschlag auf das World Trade Center verübt, sondern das wichtigste Wahrzeichen der amerikanischen Dominanz im Welthandel in Flammen gesetzt. Einst als Zeichen des Weltfriedens konzipiert, sollten die insgesamt sieben Gebäude, mit den Twin Towers als Wahrzeichen, durchlässigen Handel für alle Länder und alle Menschen symbolisieren. Gleichzeitig waren sie damals die höchsten Gebäude der westlichen Hemisphäre und nicht zuletzt, der Nabel von New York City. Fassungslos verharrten die Augen der Welt auf das im Rauch verschluckte Manhattan, als das dritte Flugzeug im Pentagon, dem US-Verteidigungsministerium in Washington, niederging. Der Aufschlag der 100 Tonnen schweren Boeing zerstörte innerhalb weniger Sekunden vier Prozent der insgesamt 610.000 Quadratmeter großen Fläche des Gebäudekomplexes. 125 Mitarbeiter und 59 Passagiere des Flugzeuges starben. Minuten später zerschellte der vierte Flieger auf einem Feld in Pennsylvania. Beherzte Passagiere hatten ihre Entführer überwältigt, und so einen vermeintlichen Absturz in das Weiße Haus oder das Capitol verhindert. Die Terroranschläge dauerten weniger als zwei Stunden, 3.000 Menschen verloren ihr Leben. In die Geschichtsbücher ging „9/11“ als jener Tag ein, der die Welt nachhaltig veränderte und der US-Präsident Georg W. Bush in der Abenddämmerung dazu veranlasste in sein Tagebuch zu schreiben: „Das Pearl Harbor des 21. Jahrhunderts hat sich heute ereignet (…). Wir glauben, es ist Osama bin Laden.

 

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen versuchte bereits am nächsten Tag mit der Verabschiedung der Resolution 1368 der getroffenen US-Gesellschaft Sicherheit zu vermitteln. Die Resolution unterstrich das Recht der USA zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung nach Art. 51 der UN-Charta. Der NATO-Rat reagierte mit der Bewertung der Anschläge als Bedrohung für den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit, im Sinne der Beistandsverpflichtung des Nordatlantikvertrages.

Am 17. September erklärte US-Präsident Bush Osama Bin Laden offiziell zum Hauptverantwortlichen und verlangte dessen Festnahme „tot oder lebendig“. Doch der Sohn der schwerreichen saudi-arabischen Bauunternehmer-Dynastie „Saudi Binladin Group“ tauchte im Schutzmantel der Taliban in Afghanistan unter. Deren Anhänger sahen in „9/11“ einen Vergeltungsschlag für das Eingreifen der USA in die islamische Welt und in Osama bin Laden einen Helden, welcher deren Ehre wiederhergestellt hatte. Taliban-Führer Mullah Omar weigerte sich daher Bin Laden an die USA auszuliefern. Auch die Aufforderung des UN-Sicherheitsrates an das Taliban-Regime änderte daran nichts. Bush sah sich unter Zugzwang. Am 7. Oktober 2001 eröffnete das US-Militär mit britischer Unterstützung eine Serie von Bombenangriffen gegen die Taliban- und Al-Qaida-Truppen. Die Operation „Enduring Freedom“ hatte begonnen.

Gekommen um zu bleiben

Unbemerkt war eine kleine Anzahl an US-Spezialeinheiten und CIA-Agenten nach Afghanistan gelangt. Ihre Aufgabe war es die Ziele für die Bombardierungen auszuwählen und bei der Organisation der afghanischen Opposition zu helfen. Unterstützt wurden die US-Mission unter anderem von der British Army und den Milizen der afghanischen Nordallianz. Noch bevor US-Bodentruppen zum Einsatz kamen, waren die Taliban gestürzt und ihre Anführer nach Pakistan geflohen. Die USA fühlten sich in der Position des Überlegenen. Noch ahnten sie nicht, dass sich der Einsatz zum längsten Krieg der US-Geschichte hinziehen würde. Am 14. November 2001 verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1378, die den USA eine zentrale Rolle bei der Einrichtung einer Übergangsverwaltung zusicherte.

Im Dezember 2001 fokussierten sich die USA auf Osama bin Laden. Nach der Bombardierung seines vermeintlichen Unterschlupfs, dem Höhlenkomplex Tora Bora im Osten Afghanistan, lieferten sich US-Truppen heftige Gefechte mit Al-Qaida-Soldaten. Bin Laden floh über die Grenze nach Pakistan. Ein Zugriff schien in weite Ferne gerückt und so erklärten die USA am 2. Mai 2003 den Kampfeinsatz für beendet. Innerhalb kürzester Zeit wurden Truppen, Ausrüstung und Geheimdienstressourcen abgezogen. Die US-Truppen bereiteten sich auf die Invasion des Iraks vor. Die Vereinigten Nationen unterstützten unterdessen den Wiederaufbau der afghanischen Übergangsregierung. Mit der Resolution 1386 wurde die Entsendung der internationalen Truppen für die International Security Assistance Force (ISAF) im Dezember 2001 fixiert. Die ersten Soldaten trafen im Februar 2002 in Afghanistan ein. Ihr Einsatzgebiet beschränkte sich zu Beginn auf Kabul und dessen Umland, ab 2003 wurde die Mission auf das ganze Land ausgeweitet. Ziel der ISAF war es, gemeinsam mit den afghanischen Sicherheitskräften gegen die Taliban-Kämpfer vorzugehen. Zugleich waren die Soldaten mit der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte betraut.

Die Fokussierung der USA auf den Irak nutzten die Taliban für eine Neugruppierung. Binnen weniger Jahre gelang es ihnen weite Teile Afghanistans zurückzuerobern. Als Reaktion entsandte die NATO tausende Soldaten, vor allem aus Großbritannien. Hunderte von ihnen starben bei Kämpfen mit den Taliban in der afghanischen Provinz Helmand. Zu den größten Truppenstellern der ISAF zählte allerdings nicht Großbritannien, sondern die USA und Deutschland. Am 22. Dezember 2001 erteilte der Deutsche Bundestag das erste Mandat für die Beteiligung der Bundeswehr, zunächst auf sechs Monate und 1.200 Soldaten begrenzt. Das Mandat wurde anschließend jedes Jahr verlängert, zuletzt im Februar 2014. Auch das Österreichische Bundesheer war seit 2002 an den Friedensbemühungen in Afghanistan beteiligt. Bis August 2013 waren rund 60 Soldaten für die ISAF im Einsatz. Von Februar bis Dezember 2002 führten Spezialkräfte des Jagdkommandos gemeinsam mit Soldaten des Jägerbataillons 25 Patrouillen und Wachaufgaben in und um Kabul durch. Im Wahljahr 2005 sicherten rund 100 Bundesheer-Soldaten den Urnengang in der Region Kunduz. Am 13. Juni 2013 übergab die ISAF die Sicherheitsverantwortung an die afghanische Regierung. Die internationalen Truppen verblieben in Afghanistan.

Am 17. Februar 2009 beschloss der damals neue US-Präsident Barack Obama die Truppen in Afghanistan aufzustocken. Die erste große Entscheidung des Oberbefehlshabers ließ 17.000 zusätzliche Soldaten in Kabul einfliegen. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits 38.000 US-Soldaten und 32.000 Soldaten von 40 NATO-Staaten bzw. Verbündeter vor Ort. Bis 2010 wuchs das US-Kontingent auf über 100.000 Soldaten an. Während sie mit der Sicherung Afghanistans betraut waren, begab sich die Spezialeinheit Navy Seals auf die Suche nach Osama bin Laden. Am 1. Mai spürten sie ihn im pakistanischem Abbottabad, einer Hochburg des pakistanischen Militärs, auf. Der Befehl zur Tötung Bin Ladens gilt bis heute als umstritten, da ihm kein gerichtlicher Beschluss zu Grunde liegt. Durch den Tod Bin Ladens gelang es zwar das Terrornetzwerk al-Qaida zu schwächen, gleichzeitig hinterließ er ein Ungleichgewicht im Nahen Osten. Dieser Umstand und das von den USA mitausgelöste Chaos im Irak förderte schließlich die Entstehung der Terrormiliz Islamischer Staat (IS).

Im Mai 2014 zog die US-Regierung den Großteil ihrer Truppen aus Afghanistan ab. Die Folgemission „Resolute Support“ sah die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte sowie deren Beratung und Unterstützung vor. Der Westen erhoffte sich dadurch nicht nur Stabilität zu generieren, sondern auch die Integration des Staates in das westlich-demokratische Wertesystem. Doch Afghanistan, seit Jahrhunderten externen Einflussnahmen ausgesetzt, machte es seinen Invasoren noch nie leicht.

 

Unbezwingbarer Hindukusch

Bereits Alexander der Große (329 v. Chr.) erhoffte sich durch die Besetzung Afghanistans die Kontrolle der Seidenstraße zu erlangen, der für Jahrtausende wichtigsten Handelsverbindung zwischen China und dem Westen. Der Welteroberer, der bis dahin von Sieg zu Sieg geeilt war, scheiterte kläglich am Hindukusch. Im 19. Jahrhundert war Afghanistan Puffer für das koloniale Ringen zwischen Großbritannien und Russland. Während des Kalten Krieges war es Schauplatz des Konfliktes zwischen der Sowjetunion und den USA. Die Russen waren den Afghanen nicht unbekannt. Seit den Fünfzigern- und Sechzigern unterstützten sie Afghanistan finanziell – sie gewährten Kredite, bauten die Infrastruktur aus und errichteten Schulen. Sowjetische Spezialisten waren mit der Ausbildung der afghanischen Armee betraut. Die damit einhergehende Modernisierung der Gesellschaft gefiel jedoch nicht allen, so auch Osama bin Laden.

Als im Juli 1973 Mohammed Daoud Khan gegen seinen Cousin König Mohammed Zahir Shah putschte, endete nicht nur dessen vierzigjährige Regentschaft, sondern auch der Frieden in Afghanistan. Unter Shah hatte das Land Fortschritte am internationalen Parkett, bei Menschenrechten und der Gleichberechtigung von Frauen gemacht. Der Tourismus florierte, viele Westeuropäer sahen im Hindukusch eine Art „Traumland“. In den Gassen ertönte Jazzmusik, unverschleierte Frauen gingen zur Universität und haschischrauchende Hippies blieben auf ihrem Weg von Amsterdam nach Indien in Afghanistan hängen. Doch mit dem Putsch stürzte Afghanistan nach und nach in einen Strudel der Instabilität und Gewalt.

Im April 1978 kam es erneut zu einem Umsturz. Dieser gipfelte in der Machtübernahme der kommunistischen Demokratischen Volkspartei Afghanistans unter Nur Muhammed Taraki. Es folgten zahlreiche Reformen und eine Säkularisierung, die die Entmachtung der regierenden Oberschicht zur Folge hatte. Die Machtübernahme Tarakis gilt zugleich als Geburtsstunde verschiedener islamischer Rebellengruppen der Mujahedin. Die Regentschaft Tarakis sollte nicht lange andauern, im September 1979 wurde er durch Anhänger des Ministerpräsidenten Hafizullah Amin ermordet. Zuvor hatte Taraki die Sowjetunion um militärische Unterstützung angesucht.

Die Sowjetunion übte sich in der Rolle des Retters und beschloss den militärischen Einmarsch. Binnen sechs Monaten wollte Kreml-Chef Leonid Breschnew die Lage stabilisieren. Eine Fehlkalkulation mit schweren Folgen, nicht nur für Afghanistan. Am ersten Weihnachtstag 1979 nahmen sowjetische Fallschirmjäger den Flughafen Kabul ein. Die Vorboten der Operation „Sturm 333“ hatten ihre Mission erfolgreich beendet. Beinahe zeitgleich bahnten sich 400 Kilometer nördlich Panzerkolonnen, ausgehend von Usbekistan, ihren Weg Richtung Kabul. Nur Stunden später hatten die sowjetischen Kommandotruppen die Hauptstadt, das Telegrafenamt und das Rundfunkgebäude unter ihre Kontrolle gebracht und Präsident Hafizullah Amin gestürzt. Die Operation verlief planmäßig, dennoch unterrichtete US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski US-Präsident Jimmy Carter von der Möglichkeit, den Sowjets „ihr Vietnam zu bescheren“.

Zunächst gelang es den afghanischen und sowjetischen Truppen die Städte und Verbindungsrouten unter Kontrolle zu halten, im Landesinneren eskalierte die Situation jedoch zunehmend. Vor allem, weil sich große Teile der afghanischen Armee der Widerstandsbewegung der Mujahedin angeschlossen hatten. Diese erhielten Unterstützung der USA und von Osama bin Laden. 1986 versprach Kreml-Chef Michail Gorbatschow das Ende dieses verlustreichen Krieges. Die Verhandlungen mündeten im April 1988 im Genfer Abkommen, das Normalisierung und gegenseitige Nichteinmischung vorsah. Russland und die USA gelobten den Verzicht auf die Einmischung in innerafghanische Angelegenheiten. Am 15. Mai 1988 war das Ende der sowjetischen Intervention besiegelt und die sowjetischen Truppen verließen Afghanistan.

In den neun Jahren Krieg starben mehr als eine Million Menschen, fünf Millionen flüchteten ins Ausland. Für Russland hatte der Einmarsch weitreichende außerpolitische Folgen. Sanktionen der westlichen Staaten, einschließlich des Boykotts der Olympischen Sommerspiele in Moskau 1980, folgten. In Afghanistan brach ein Bürgerkrieg aus, die Zentralregierung konnte sich nur mit Hilfe der Sowjetunion halten. Moskau unterstützte die afghanische Regierung bis zum Augustputsch 1991, der Gorbatschows Macht brach und die Sowjetunion zerfallen ließ. Als Folge ging auch die afghanischen Regierung unter. Im Frühjahr 1992 kontrollieren die Mujahedin faktisch ganz Afghanistan. Der Krieg mündete beinahe nahtlos in die nächste Phase. In Diadochenkriegen bekämpften sich die Mujahedin-Gruppen. Die Weltöffentlichkeit ignorierte diese Entwicklungen beinahe völlig. Unterstützung erfuhren die Konfliktparteien allerdings durch den Iran, Usbekistan, Indien und vor allem Pakistan.

Ab 1993 betraten die Taliban das „Spielfeld“. Innerhalb weniger Monate eroberten sie große Teile des Landes. Nicht ganz unbeteiligt an ihrem Erfolgszug war der pakistanische Geheimdienst. Seit 1979 unterstützte er Osama bin Laden, damals noch Mitglied der afghanischen Mujahedin, im Kampf gegen die Sowjetunion. Noch heute wird Pakistan nachgesagt, Dschihadistengruppen Schutz und Unterstützung zu bieten. Eine Zerschlagung dieser Netzwerke sei auch deshalb nicht möglich, sagen US-Experten. Unter US-Präsident Donald Trump schlossen die USA im Februar 2020 mit den Taliban ein Abkommen. Dieses sah den Abzug aller US-Truppen bis 1. Mai 2021 vor, im Gegenzug verpflichten sich die Taliban zu Friedensgesprächen mit der afghanischen Regierung. Damit war auch der Abzug der NATO besiegelt.

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Mag. Anna Hlawatsch ist Redakteurin beim TRUPPENDIENST.

 

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