Am Vorabend einer neuen Weltordnung?
Die Welt verändert sich gerade massiv. Die Entwicklungen des Februar 2025 sind ein politisches Erdbeben von globaler Dimension, das auf Europa massive negative Auswirkungen haben kann. Es scheint, als ob sich die Menschheit wieder im 19. Jahrhundert befinden würde. Das heißt, wer mehr Macht hat und in der Lage ist, militärische Macht zu projizieren, wird den Ton angeben. Die Frage, die sich Europa – nicht nur die politischen Entscheidungsträger, sondern eigentlich auch jeder Bürger – nun stellen muss, ist: „Was bedeutet das für uns?“
Die aktuellen globalen Ereignisse sind als historisch einzustufen, weil sie das Ende einer regelbasierten Weltordnung markieren, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gilt. Den meisten Menschen ist das als „Eintagsfliegen der Geschichte“ nicht bewusst. Europa befindet sich zurzeit in einem Schockzustand und hat noch nicht verstanden, was aktuell passiert. Es gab und gibt zwar eine rege Diskussion zur Sicherheitspolitik, aber die meisten Menschen – sowohl Bürger als auch Entscheidungsträger – schieben dieses Thema immer noch beiseite. Viele sind übersättigt und wollen nichts mehr vom Ukraine-Krieg oder den anderen negativen Entwicklungen hören oder lesen.
Fakt ist, dass sich die Situation für Europa von Monat zu Monat verschlechtert – auch durch die politischen Vorgänge in den USA. Der Ukraine-Krieg ist nur ein Phänomen dieser Entwicklung. De facto niemand – weder in der Politik noch in der Gesellschaft – hat jedoch ernsthaft damit begonnen, sich mit dieser geänderten Situation auseinanderzusetzen. Schließlich dachten viele, dass man nach dem Ende des Kalten Krieges am „Ende der Geschichte“ angekommen war, um Francis Fukuyama zu zitieren. Der am Beginn der 1990er-Jahre von den Scorpions besungene „Wind of Change“ – ein Leben in Demokratie, Frieden, Freiheit, Wohlstand und internationaler Freundschaft sowie Zusammenarbeit – schien nach dem Ende des Kalten Krieges unumkehrbar. Die damit zusammenhängende Friedensdividende aufgrund der massiven Kürzungen der Verteidigungsbudgets wurde von Europas Bürgern zu Recht eingefordert. Kriegerische Auseinandersetzungen, die es mit den Jugoslawien-Kriegen sogar mitten in Europa gab, wurden ausgeblendet und als Geburtswehen einer neuen friedlichen Weltordnung interpretiert.
Das Ergebnis dieses politisch-gesellschaftlichen Zuganges ist, dass die europäischen Streitkräfte, auch die der NATO-Mitgliedstaaten, massiv zurückgerüstet wurden. Es gibt zwar Fähigkeitsbereiche, in denen die europäischen Streitkräfte nach wie vor relativ gut aufgestellt sind – auch weil sie zum Beispiel in Afghanistan und im Irak im Einsatz waren. Es gibt aber wesentliche Bereiche, für die das nicht gilt. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird realisiert, dass die Lage prekär ist und Europa ohne die USA nur über unzureichende militärische Fähigkeiten verfügt. Deshalb müssen sich die Entscheidungsträger nun die Köpfe darüber zerbrechen, wie sie das ändern können. Das ist möglich, geht aber nicht von heute auf morgen, sondern dauert Jahre. Die europäische Rüstungsindustrie wäre jedenfalls in der Lage, genug Güter zu produzieren – sowohl für die Ukraine als auch für die Aufrüstung der Streitkräfte der europäischen Staaten.
Entscheidend ist aber der politische Wille zur Auftragsvergabe, die sehr viel Geld kostet. Finanzielle Mittel sind in den knappen Staatsbudgets heute aber de facto nicht verfügbar. Daran ändern auch die 800 Milliarden Euro nicht viel, die Brüssel Anfang März 2025 für die Aufrüstung der EU-Mitgliedsstaaten bewilligt hat. Schließlich handelt es sich dabei nicht um Bargeld, sondern um einen zusätzlichen Finanzierungsrahmen, der weitere Schulden zur Folge hat. Zusätzlich lahmt die Wirtschaft in Europa, deren Ankurbelung ebenso finanziert werden muss wie andere Herausforderungen, z. B. der Kampf gegen den Klimawandel. Für die Politik ist es schwierig, der Bevölkerung, die in einem scheinbar unumkehrbaren Frieden aufgewachsen ist, nun die Notwendigkeit hoher militärischer Ausgaben zu erklären. Im Vergleich zu den Kosten eines Krieges sind diese Ausgaben aber relativ gering.
Geschichte wiederholt sich nicht, auch wenn das manche Menschen behaupten, sie folgt jedoch ähnlichen Mustern, wodurch es Parallelen zwischen damals und heute gibt. In der Vergangenheit war es ebenfalls so, dass die Menschen nicht damit gerechnet haben, dass Ereignisse eskalieren können. Ein Beispiel ist der Vorabend des Zweiten Weltkrieges. In München hat man im Jahr 1938 noch gehofft, dass man mit dem Deutschen Reich irgendwie ein Auskommen gefunden hat. Das Gegenteil war der Fall. De facto niemand hat damals damit gerechnet, dass es zu einem Zweiten Weltkrieg kommen würde, auch wenn viele Historiker das heute teilweise anders vermitteln. Gerade deshalb ist es notwendig, die aktuellen Entwicklungen ernsthaft zu betrachten und jene Schritte zu setzen, die verhindern, dass wieder eine Situation wie damals eintritt. Das heißt konkret, dass Europa wieder ein sicherheitspolitischer Akteur werden muss. Nicht im Sinne der Projektion von Aggression, sondern vielmehr durch Projektion von militärischer Abschreckung. Nur so wird Europa international ernst genommen werden, was momentan nicht der Fall ist.
Die Welt ordnet sich gerade neu. Am Ende des Kalten Krieges waren die USA die alleinigen Sieger und die einzige Weltmacht. Heute, drei Jahrzehnte später, haben sich Staaten wie China, Indien und Russland aus eigener Kraft erholt und sind zu Mächten von globaler Dimension geworden – und sie handeln auch danach. Die USA sind im Gegensatz zu früher aber nicht mehr in der Lage, ihre Macht so zu projizieren, wie sie es noch vor ein paar Jahren gewohnt waren. Im Gegenteil: Sie müssen nun selbst Allianzen schmieden. Zusätzlich haben sie das Problem, dass ihr Gegenüber mittlerweile ebenfalls sehr potent ist, beispielsweise bei der Technologieentwicklung. Der globale Norden steht nun in Konkurrenz zum globalen Süden, und niemand weiß, wie diese Konfrontation ausgehen wird. Viele Menschen in der sogenannten Zweiten und Dritten Welt – Entscheidungsträger und Bürger gleichermaßen – begrüßen die veränderten geopolitischen Verhältnisse und die damit einhergehende Schwächung des Westens. Sie haben ihre teilweise traumatischen kolonialen Erfahrungen und asymmetrischen Abhängigkeiten zu ihren Ungunsten und auf ihre Kosten nicht vergessen.
Deshalb freut es die meisten, dass sich die globalen Vorzeichen gerade ändern, und empfinden das als gut und richtig. In diesem Zusammenhang darf man nicht vergessen, dass die Zweite und Dritte Welt nicht nur Rohstoffe besitzt. Mittlerweile verfügt sie ebenfalls über die technologischen Möglichkeiten, diese zu veredeln und hochwertige Produkte herzustellen, die der Westen benötigt, weil er sie selbst nicht mehr produziert. Ein Ausdruck dieser neuen Abhängigkeit ist das selbstbewusste und immer stärkere Auftreten des globalen Südens. Ob das „gute Leben“ in der aktuellen Ersten Welt in einer neuen Weltordnung noch möglich sein wird, hängt davon ab, ob diese in Zukunft auf Rohstoffe zugreifen kann. Der große Rohstoffbedarf, der nicht selbst gedeckt werden kann, ist eine der Achillesfersen Europas. Eine Diplomatie mit sicherheitspolitischem Fokus sowie potenten Streitkräften würde die Wahrscheinlichkeit erhöhen, ernst genommen zu werden. Dann müsste Brüssel auch nicht mehr darum betteln, um an einem Tisch für Friedensverhandlungen sitzen zu dürfen oder Rohstoffe zu erhalten.
Eine Folgerung der skizzierten Lage ist, dass die Welt der Zukunft möglicherweise vor allem durch China, die USA und Russland beeinflusst wird. Jedenfalls haben alle drei Mächte Ambitionen von globaler Relevanz, wodurch die (noch) geltende Weltordnung plötzlich in einer Art und Weise in Frage gestellt wird, wie das vor ein paar Jahren noch kaum jemand erwartet hätte. Das europäische Ziel muss eine frei bestimmte Sicherheitspolitik sein – ein Austausch auf Augenhöhe und keine Unterwerfung unter wessen Herrschaft auch immer. Dies kann nur durch eine starke militärische Komponente erfolgen, mit der potenzielle Aggressoren glaubhaft abgeschreckt werden. In jedem Fall ist es wichtig, jetzt selbstbewusst zu handeln und die richtigen Entscheidungen für eine sichere Zukunft Europas zu treffen.
Oberst dG Dr. Markus Reisner, PhD; Leiter Institut 1 an der Theresianischen Militärakademie

Dieser Artikel erschien im TRUPPENDIENST 2/2025 (403).