• Veröffentlichungsdatum : 18.06.2025

  • 21 Min -
  • 4240 Wörter

Ukraine-Krieg Neue Phase

Markus Reisner

Mehr als 1 200 Tage nach dem Beginn des Krieges spitzt sich die Lage für die Ukraine zu. Das ist auf regionale und globale Aspekte zurückzuführen. Vor allem die geopolitische Lage ist aktuell von vielen Unsicherheiten und unvorhersehbaren Ereignissen geprägt, die sich auf die Ukraine ungünstig auswirken.

Ein Blick auf die Karte zeigt die gegenwärtige Situation (Stand: April 2025), die ein Ergebnis der Kämpfe des letzten Jahres ist. Die drei wichtigsten Frontabschnitte der vergangenen Monate waren

  • die lange Front von Kupjansk bis nach Saporischschja, 
  • der kurze Frontabschnitt bei Charkiw und 
  • der ebenfalls kurze Frontabschnitt bei Kursk.

In allen drei Bereichen befindet sich die Russische Föderation mit ihren Streitkräften auf dem Vormarsch. Die ukrainische Seite versucht vor allem sich zu verteidigen oder zu verzögern, teilweise ist sie sogar in den Angriff übergegangen, wie im August 2024 in Kursk. Vergleicht man die Gebiete, die zwischen dem Februar 2024 und dem Februar 2025 von beiden Seiten in Besitz genommen wurden, so hat Russland knapp 4.500 km² erobert, die Ukraine knapp 500 km² im Raum Kursk. Dieser Raum ging mittlerweile wieder verloren. Die aktuelle Situation lässt sich mit dem Kampf „David gegen Goliath“ vergleichen. Die Ukraine (David) hat am Beginn des Krieges überraschend die ersten Runden gegen das übermächtig erscheinende Russland (Goliath) für sich entschieden. Da die Ukraine – im Gegensatz zum biblischen David – jedoch keinen raschen Sieg erringen konnte, scheint Goliath aufgrund seiner Masse und Kraft zunehmend die Oberhand zu gewinnen.

Phase 7

Im Herbst des Jahres 2024 erreichte die Phase 7 des Ukraine-Krieges, die zweite russische Sommeroffensive, ihren Höhepunkt. Dies geschah zwei bis drei Wochen vor der Rasputiza (Schlammperiode), mit deren Beginn die Bewegungen beider Seiten stark eingeschränkt wurden. Die zweite russische Sommeroffensive war wesentlich erfolgreicher als die erste, die ein Jahr zuvor stattgefunden hatte. Ausschlaggebend dafür waren die Anpassungen, die die russischen Streitkräfte vor allem auf taktischer Ebene vorgenommen haben.

Ein Merkmal dieser Anpassungen ist der vermehrte Einsatz von Infanterie. Russland hatte im Herbst 2024 Truppen in der Stärke von etwa 640.000 Soldaten in der Ostukraine stationiert und deren Anzahl bis zum Jahresende auf etwa 700.000 Soldaten erhöht. Genaue Zahlen sind schwer verfügbar, die Expertengemeinschaft geht aber davon aus, dass Russland jedes Monat weitere 30.000 bis 35.000 Soldaten mobilisiert. Die ukrainischen Streitkräfte setzen ebenfalls vermehrt Infanterie ein, wenngleich sie mittlerweile Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Soldaten haben. Zusätzlich zum Zufluss der Soldaten haben die Russen ihre Taktiken angepasst und unter anderem die Panzerungen ihrer Kampffahrzeuge verbessert, z. B. mit den immer häufiger auftretenden Varianten des „Schildkrötenpanzers“.

Vor allem nimmt jedoch auf russischer Seite die Elektronische Kriegsführung und damit der Einsatz von Störsendern zu, die mittlerweile die gesamte Frontlinie abdecken. Das sind (Stand: Ende April 2025) bereits etwa 1.000 km an der langen Front von Kupjansk bis nach Saporischschja, plus 100 km bei Charkiw, und es waren über mehrere Monate weitere 100 km bei Kursk – insgesamt mehr als 1.200 km. Die Elektronische Kriegsführung stört vor allem die GPS-Module westlicher Präzisionswaffen. Zusätzlich setzen die Russen First-Person-View-Drohnen (FPV-Drohnen) oder Gleitbomben ein, die bis zu 3.000 kg wiegen. Durch diese Beispiele zeigt Russland die Fähigkeit sich anzupassen. Die FPV-Drohnen wurden ursprünglich von den Ukrainern entwickelt, Russland produziert diese jedoch bereits im industriellen Maßstab.

Phase 8

Die nächste Phase des Ukraine-Krieges (Phase 8) wurde mit dem Beginn der Präsidentschaft von Donald Trump in den USA eingeleitet. Diese ist von Trumps Wunsch geprägt, rasch mit Friedensverhandlungen zu beginnen. Unklar ist jedoch, zu welchen Konditionen diese stattfinden werden. Immer deutlicher zeichnet sich ein Paradigmenwechsel der USA in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik ab. Dieser wird wesentliche Auswirkungen auf den Verlauf des Ukraine-Krieges, aber auch auf die zukünftige sicherheitspolitische Ausrichtung Europas haben. Um die aktuelle Phase 8 darzustellen, wird diese auf der strategischen, operativen und taktischen Ebene erörtert.

Strategische Ebene

Das Ziel der russischen Seite auf der strategischen Ebene ist unverändert die Zerstörung der Kritischen Infrastruktur der Ukraine. Das ist die Voraussetzung für einen langen Krieg und das Abnützen der ukrainischen Kräfte. Aktuell führt Russland die dritte Kampagne gegen die Kritische Infrastruktur durch, die mittlerweile zu 80 Prozent zerstört oder beschädigt ist. Entgegen aller Annahmen hat es die Ukraine aber geschafft, den vergangenen Winter relativ gut zu überstehen. Dennoch stellt sich die Frage, wie lange sie mit der zunehmenden Zerstörung der Kritischen Infrastruktur in der Lage sein wird, diesen Krieg zu führen. In diesem Bereich wirkt sich vor allem der Mangel an Fliegerabwehrsystemen mittlerer und weiter Reichweite negativ aus.

Russland geht langsam und überlegt vor. Dabei bedient es sich einer Kombination von unterschiedlichen Waffensystemen. So fliegen täglich bis zu 200 Drohnen (im Monat bis zu 2 600 Stück) vom Typ „Geran“ 2 oder „Shahed“ 136/131 auf Ziele in der Ukraine, die alle zwei bis drei Wochen mit Marschflugkörpern ergänzt werden. Diese Angriffe erfolgen bereits in der Tiefe des Landes, um dort Ziele der Kritischen Infrastruktur zu zerstören. Aufgrund der hohen Anzahl an Drohnen, des Mangels an Fliegerabwehrsystemen und der damit verbundenen Sättigung des Luftraumes ist es für die ukrainische Seite schwierig entgegenzuwirken. Deshalb treffen auch immer mehr russische Drohnen und Marschflugkörper ihre Ziele.

Die Ukraine versucht entgegenzuhalten und mit einer eigenen strategischen Luftkampagne Russland zu treffen. Ein Ziel ist die Erdölindustrie, weil diese die Masse der russischen Exporteinnahmen generiert. In den vergangenen Monaten ist es tatsächlich gelungen, 20 der 30 wichtigsten Raffinerien in Russland anzugreifen und dort zum Teil schwere Beschädigungen zu verursachen. Die Ukraine kann diese Angriffe durchführen, da sie es geschafft hat, Hochtechnologie innovativ zu nutzen und weitreichende Drohnensysteme zu produzieren. Mit diesen Drohnen gelingen solche Angriffe, wenngleich die Wirkung noch immer zu gering und schwer messbar ist. In diesem Zusammenhang stellt sich nicht nur die Frage, wie lange Russland diesen Krieg führen kann, sondern ob die Ukraine in der Lage ist, diesen so lange zu führen, um tatsächlich saturierende Effekte bei der russischen Seite zu erzielen.

Operative Ebene

Auf der operativen Ebene zeigt sich, dass Russland konstant neue Truppen an die Front zuführt und mit diesen an mehreren Frontabschnitten gleichzeitig angreift. Man nimmt an, dass im Frühjahr 2025 bereits zwischen 650.000 und 700.000 Soldaten eingesetzt sind, die in mehreren – insgesamt sechs – operativen Manövergruppen agieren. Demgegenüber stehen etwa 400.000 ukrainische Soldaten unmittelbar an der Front. Weitere etwa 400 000 befinden sich in der Tiefe, um die Ukraine gegen eine potenzielle Bedrohung aus dem Norden abzusichern.

Die große Herausforderung für die Streitkräfte der Ukraine ist die Überdehnung ihrer Truppen. Eine durchschnittliche ukrainische Brigade mit einer personellen Stärke von etwa 3.500 Soldaten muss aktuell einen bis zu 27 km langen Bereich durch den Einsatz seiner Bataillone abdecken. Diese haben eine Sollstärke von etwa 500 Mann, aber einen Ist-Stand, der oft nur 150 bis 200 Mann beträgt. Die Verbände verfügen also oft nur mehr über 25 bis 30 Prozent ihrer Soldaten. Somit entstehen immer mehr Lücken. Die russischen Streitkräfte sind jedoch weiterhin in der Lage, neue Soldaten zuzuführen, die Überdehnung der Front auszunützen und die ukrainischen Verbände anzugreifen. Die Folge eines russischen Frontdurchbruches könnte ein „Dammbruch“ sein. Bei diesem droht, dass die ukrainischen Kräfte schnell Richtung Westen gespült werden und sich erst wieder beim Dnepr, der nächsten starken Verteidigungslinie in der Mitte der Ukraine, organisieren können.

Ein zusätzlicher relevanter Faktor auf russischer Seite ist der zunehmende Einsatz von Gleitbomben gegen ukrainische Stellungen. Die Russen sind nicht nur in der Lage, durch billige Anbausätze effiziente Waffensysteme mit einer Reichweite von 70 km zu bauen, sondern haben mittlerweile auch Systeme mit einer Reichweite von bis zu 165 km entwickelt. Diese Gleitbomben, beispielsweise jene der 3.000-kg-Klasse, haben eine verheerende Wirkung auf die ukrainischen Stellungen. Alleine im Jahr 2024 dürften 44 000 Stück von den bisher im Krieg insgesamt 51.000 abgeworfenen Gleitbomben eingesetzt worden sein. Im Jahr 2025 soll das russische Produktionsziel dieser Waffensysteme bei etwa 70.000 Stück liegen, womit auch die ungefähre Menge bekannt ist, die an der Front eingesetzt werden kann.

Das größte Defizit der Ukraine besteht auf operativer Ebene in ihrem Mangel an Soldaten, da das Wehrpotenzial des Staates nach mehr als drei Jahren Krieg bereits ziemlich erschöpft ist. Aktuell steht man vor der Frage, ob 18- bis 25-jährige Wehrpflichtige rekrutiert werden sollen. Die Ukraine stellt dennoch immer wieder neue Verbände auf, z. B. die 155. Brigade. Als diese Brigade an der Front angekommen war, verließen jedoch viele Soldaten ihre Stellungen und desertierten. Die Gründe dafür dürften eine Mischung aus Unterbesetzung, fehlender Moral, aber auch einer als unzureichend empfundenen Ausbildung sein. Tatsächlich wird die Ausbildung in den ukrainischen Streitkräften in fünf bis sechs Wochen verkürzt durchgeführt. Dadurch sind die Soldaten oft nicht auf das vorbereitet, was sie an der Front erwartet. Die fehlenden Soldaten erhöhen jedenfalls das Risiko eines russischen Durchbruches.

Taktische Ebene

Das Gefechtsfeld kann (für beide Seiten) in drei Bereiche unterteilt werden,

  • den eigenen rückwärtigen (REAR), 
  • den Raum, in dem unmittelbar gekämpft wird (CLOSE), und 
  • jenen in der Tiefe (DEEP) des Gegners.

Die Masse der Kämpfe findet im unmittelbaren Bereich zwischen den beiden Kriegsparteien statt, in einer Distanz von etwa zehn bis 15 km. Dort können die FPV-Drohnen, aber auch die Artillerie ihre Wirkung am besten entfalten und entsprechende Effekte erzielen. Je größer die Distanz desto höher ist die Bedeutung der Artillerie. Aufgrund der völlig überdehnten Gefechtsstreifen der ukrainischen Bataillone schaffen es die Russen immer wieder, Lücken zu erkennen und durch diese in kleinen Gruppen zu Fuß oder auf Motorrädern einzusickern. Zusätzlich versuchen sie, durch eine hohe Anzahl von Angriffen entlang der gesamten Front die ukrainischen Streitkräfte immer weiter zurückzudrängen. Tatsächlich gelingt es ihnen – wenn auch nur langsam – immer wieder, einen Schritt weiterzugehen und die nächsten Quadratkilometer in Besitz zu nehmen.

Obwohl die Ukraine zunehmend Schwierigkeiten damit hat, den Russen wirksame Mittel (Personal und Material) entgegenzusetzen, kann sie sich noch effektiv verteidigen und den Vormarsch des Gegners verzögern. Einer der Gründe, die das ermöglichen, ist der Einsatz von FPV-Drohnen gegen russische Ziele an der Front. Die Russen setzen verstärkt auf kleine Kampfgruppen oder Stoßtrupps. Diese bestehen zumeist aus ein oder zwei Kampfpanzern, von denen einer mit einem Minenräumgerät ausgestattet ist, und ein bis zwei Kampfschützenpanzern. Die russischen Soldaten marschieren in Kolonne zu einem Punkt, sitzen dort ab und greifen die ukrainischen Stellungen mit Feuerunterstützung an. Durch den Einsatz von FPV-Drohnen und Artillerie versuchen die ukrainischen Verteidiger, einen Angriffserfolg zu verhindern. Bis jetzt gelingt das, wenngleich das Momentum aktuell klar bei den russischen Streitkräften liegt.

Drohnen und Artillerie

An der Front ist die Ukraine vor allem auf Drohnen und Artillerie angewiesen, um gegen die feindliche Artillerie wirken zu können. Sie hat aber nach wie vor zu wenig davon. Während Nordkorea zwei Jahre hintereinander ungefähr jeweils drei Millionen Artilleriegranaten an Russland geliefert hat – zusätzlich zu den von Russland produzierten sechs Millionen – erhielt die Ukraine von ihren westlichen Verbündeten im Jahr 2024 etwa 1,6 Millionen und im Jahr 2023 etwa 1,3 Millionen Artilleriegranaten. Das entspricht knapp einem Viertel der russischen Kapazitäten.

Da mittlerweile beide Seiten Drohnen einsetzen, müssen sich auch beide Seiten gegen diese zur Wehr setzen. Eine Möglichkeit, das zu tun, ist das Sichern von Versorgungslinien mit einfachen, aber innovativen und effizienten Mitteln. Die Russen machen das beispielsweise durch das Spannen von kilometerlangen Netzen, in denen sich die FPV-Drohnen verfangen und so neutralisiert werden. Um den Einschränkungen des elektromagnetischen Feldes auszuweichen, werden vermehrt draht- bzw. glasfasergesteuerte Drohnen eingesetzt. Diese sind grundsätzlich identisch aufgebaut wie die funkgesteuerten Geräte. Sie bestehen aus einem Akku, einem Wirkmittel, der eigentlichen Drohne und zusätzlich einem Glasfaserdraht.

Dieser ermöglicht Reichweiten zwischen 10 und 15 km, wobei aktuell bis zu 40 km möglich sein dürften. Während des Fluges wird der Draht „abgerollt“ und die Drohne punktgenau in ihr Ziel gelenkt, ohne dass sie z. B. durch Störsysteme beeinflusst werden kann. Beide Seiten nützen diese Drohnensteuerung mittlerweile im großen Stil. So wichtig Drohnen in der aktuellen Kriegsführung sind, ist ihr Einsatz dennoch nicht immer erfolgreich. Etwa 60 bis 80 Prozent erreichen ihre Ziele nicht, trotzdem sind sie aber für 60 bis 70 Prozent der Ausfälle oder Zerstörungen von Kampffahrzeugen verantwortlich – auf beiden Seiten.

Lage an der Front

Um die Lage an der Front erfassen zu können, ist es günstig, einige wesentliche Abschnitte zu betrachten. Das sind, im Norden beginnend, die Bereiche

  • Kursk, 
  • Charkiw,
  • Tschassiw Jar und
  • Pokrowsk.

 Kursk

Im Raum Kursk ist es der russischen Seite bis zum März gelungen, knapp 1.100 km² zurückzuerobern und erneut in Besitz zu nehmen. Das waren über 90 Prozent des Territoriums, das die Ukraine dort erobert hatte. Mitte März 2025 fand der finale Kampf um die Grenzregion südlich Sudscha statt, dem zentralen Logistikort der dort eingesetzten ukrainischen Kräfte. Diese versuchten, den Raum so lange wie möglich zu halten, um ein Faustpfand für zukünftige Verhandlungen zu haben. Letztlich mussten sie aber weichen und den Raum Kursk aufgeben. Wiederholte Gegenangriffe westlich des Einbruchsraumes im vergangenen Jahr, zum Jahreswechsel im Nordosten und im Februar 2025 im Südosten davon haben der Ukraine nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Eine Entlastung des Logistikknotenpunktes war daher nicht mehr möglich. Schließlich begann Russland südlich von Sudscha, mit weitreichenden Drohnen die ukrainischen Versorgungslinien anzugreifen und zu zerstören. Das hatte negative Auswirkungen auf die ukrainische Logistik, die dadurch verhindert wurde. Dies führte schließlich zum ukrainischen Abzug aus Kursk.

Charkiw

Nördlich der Stadt Charkiw finden heftige Kämpfe statt. Jedoch schaffen es die Russen dort nicht weiter vorzurücken, wenngleich die Angriffe im nordostwärts gelegenen Wowtschansk zugenommen haben. Südostwärts von Charkiw gelang es den Russen nach schweren Gefechten bei Kupjansk jedoch, den Fluss Oskil zu furten und Brückenköpfe zu errichten. Nun könnten russische Kräfte versuchen, mit einem parallel geführten Stoß ein Stück des ukrainischen Territoriums herauszubrechen, was die ukrainische Seite verhindern möchte. Die Voraussetzung für das weitere Vorgehen der russischen Truppen ist das Ausweiten der Brückenköpfe beim Fluss Oskil, um dort Bereitstellungsräume für mögliche zukünftige Angriffe zu schaffen.

Tschassiw Jar

Die Stadt Tschassiw Jar war in den vergangenen Monaten immer wieder heftig umkämpft. Auch dort trennt die ukrainische und die russische Seite ein Wasserhindernis, der Siwerskyj-Donez-Donbas-Kanal. Den russischen Truppen ist es in diesem Bereich ebenfalls gelungen, Brückenköpfe zu bilden. Zusätzlich konnten sie in Tschassiw Jar eindringen und versuchen, jenes dort bereits seit mehreren Monaten umkämpfte Höhengelände in Besitz zu nehmen, von dem aus sie das Gebiet Richtung Westen beherrschen können.

Pokrowsk

Der Raum um die Stadt Pokrowsk hat drei Hotspots. Die Russen haben es geschafft, bei Otscheretyne durchzubrechen und weiter Richtung Westen vorzurücken. Damit waren die Voraussetzungen gegeben, Pokrowsk im Süden zu umgehen und Richtung Westen vorzustoßen. Pokrowsk ist bedeutend, da es nicht nur ein wichtiger Logistikknotenpunkt für die ukrainische Seite ist, sondern dies – im Fall einer Einnahme – auch für die russische Seite sein würde. Die Stadt könnte damit quasi zum Sprungbrett eines weiteren russischen Vorstoßes Richtung Westen werden. Im Moment versuchen russische Verbände, die Stadt im Westen und im Osten zu umfassen und diese wichtige ukrainische Versorgungsdrehscheibe abzuschneiden.

Während die Kämpfe um Pokrowsk toben, haben es die russischen Truppen im Süden geschafft, den Kessel im Raum Kurachowe immer mehr in Besitz zu nehmen. In den finalen Gefechten um die Stadt versuchte die russische Seite schließlich, die letzten verbliebenen ukrainischen Kräfte herauszudrücken und zum Abzug Richtung Westen zu zwingen.Wenn die Situation in der einen oder anderen Stadt erörtert wird, darf nicht vergessen werden, dass diese Städte massiven Zerstörungen ausgesetzt sind. Ein Beispiel dafür ist die Bergbaustadt Torezk östlich von Pokrowsk, die völlig zerstört ist. Neben dem urbanen Gebiet wird dort vor allem um einige Schlackehügel gekämpft, die in diesem flachen Gelände jedoch die einzige Möglichkeit für eine weitreichende Beobachtung sind.

Abnützungskrieg

Zusammenfassend kann man feststellen, dass der Ukraine-Krieg sowohl im Jahr 2024 als auch im ersten Quartal des Jahres 2025 den Charakter eines Abnützungskrieges hatte. Das wird auch weiterhin so bleiben. Um das Wesen eines solchen Krieges zu verstehen, sind einige Faktoren wesentlich:

  • Ressourcen und deren Bedeutung;
  • der Faktor Zeit und seine Auswirkung; 
  • der Umstand, dass beide Seiten ungleich kämpfen, da sich ihre Verbündeten signifikant unterscheiden.

Russland hat China, Indien, Nordkorea, den Iran und noch weitere Staaten als verlässliche Verbündete. Die Ukraine muss im Gegensatz dazu immer wieder versuchen, Europa und die USA davon zu überzeugen, ihr Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Fakt ist, dass Russland sukzessive die Oberhand gewinnt, und sich die Frage stellt, wie lange die Ukraine in diesem Krieg noch durchhalten kann, da auch die Kampfmoral der ukrainischen Soldaten und das Durchhaltevermögen der Zivilbevölkerung schwinden.

 

Geopolitische Dimension

Im Hinblick auf die Ressourcen ist die veränderte geopolitische Lage nach dem Amtsantritt von Donald Trump als US-Präsident ein Faktum, das wesentliche Auswirkungen hat. Diese sind noch weitgehend unklar, nehmen aber von Woche zu Woche schärfere Konturen an – mit schwerwiegenden Konsequenzen für die Situation in der Ukraine, aber auch in Europa.

Partner USA

Ein bemerkenswertes Ereignis, das die aktuelle Zeitenwende markiert, war die Münchner Sicherheitskonferenz, die von 14. bis 16. Februar 2025 stattfand. Bereits in deren Vorfeld gab es Aussagen von US-Präsident Trump, die darauf hingewiesen haben, dass es sein Ziel sein könnte, sich mit Putin zu einigen. Dabei wurde offensichtlich, dass Europa zunehmend ins Hintertreffen gerät und die europäische Rolle bei etwaigen Friedensverhandlungen oder anderen Aktivitäten mit immer mehr Fragezeichen verbunden ist.

US-Verteidigungsminister Pete Heg-seth sprach klar und unmissverständlich die folgenden Punkte an: Erstens sei es aus seiner Sicht unrealistisch, dass die Ukraine wieder zu den Grenzen von 2014 zurückkehren könne. Zweitens sei es gerade dieses Ziel (das Herstellen der Ukraine in den Grenzen von 2021), das den Krieg verlängern würde. Drittens müssten die Europäer im Hinblick auf mögliche Sicherheitsgarantien mehr Verantwortung übernehmen. Zusätzlich hat Hegseth ausgeschlossen, dass sich in Zukunft US-Soldaten in der Ukraine befinden würden oder dass eine mögliche Operation in der Ukraine durch den Artikel 5 gedeckt sei. Damit sprach er die mögliche NATO-Mitgliedschaft der Ukraine an, die aus Sicht der USA unerreichbar sei. Interessant ist, dass die Forderungen der USA noch deutlich über die bereits angeführten hinausgehen. So betonte Donald Trump, dass er „sein Geld“ zurück möchte. Damit will er zum Ausdruck bringen, dass die Ressourcen der Ukraine (Mineralien, Erdöl, Erdgas etc.) den USA zur Verfügung stehen sollen – quasi als Bezahlung für die bisherige Unterstützung. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz wurde sogar ein Vertrag auf den Tisch gelegt, der vorsah, dass die Ukraine 50 Prozent ihrer Rohstoffressourcen an die USA abtreten solle.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verweigerte zunächst die Unterschrift unter dieses Papier. Am 28. Februar 2025 sollte dennoch ein Rohstoff-Übereinkommen zwischen der Ukraine und den USA unterzeichnet werden. Aufgrund des Eklats im Weißen Haus zwischen Selenskyj und Trump, das zur frühzeitigen Abreise des ukrainischen Präsidenten führte, kam es aber vorerst zu keiner Vertragsunterzeichnung. Vielmehr stoppte US-Präsident Trump am 3. März 2025 temporär die Militärhilfen an die Ukraine, die ein paar Tage später jedoch wieder fortgesetzt wurden. Am 30. April 2025 einigten sich die USA und die Ukraine schließlich und unterzeichneten ein Rohstoffabkommen. Noch ist unklar, wie sich das Verhältnis zwischen den USA und der Ukraine bzw. den USA und Russland entwickeln wird. Der Faktor Ressourcen erhält durch die jüngsten Entwicklungen jedenfalls eine zusätzliche Dimension, die sich nicht auf eine strategisch-militärische für die Ukraine beschränkt, sondern auch eine geopolitisch-ökonomische für die USA oder Europa aufweist.

Partner EU

Wenn die USA als verlässlicher Partner wegfielen, wäre zu bedenken, dass die militärische Hilfe der USA für den bisherigen Erfolg der Ukraine zentral war. Wenn diese Unterstützung nicht mehr verfügbar wäre, müsste entweder Europa einspringen oder die Ukraine muss die Konsequenzen tragen. Wie lange die Ukraine den Krieg dann noch weiterführen kann, ist fraglich. Europa hätte das industrielle, ökonomische und rüstungstechnologische Potenzial, um die Ukraine zu unterstützen und einen Ausfall der US-Militärhilfe abzufedern. Es stellt sich jedoch die Frage, ob der politische Wille vorhanden ist, das zu tun, da diese Unterstützung mit sehr hohen Kosten verbunden wäre. Finanzielle Mittel sind in Europa gegenwärtig jedoch knapp, da die meisten Staatskassen leer sind – auch aufgrund der wirtschaftlich fordernden Situation auf dem Kontinent. Ein Anfang März 2025 beschlossenes 800 Milliarden Euro Paket für Investitionen in die Streitkräfte (Readiness 2030) soll nun Abhilfe schaffen.

Demilitarisierte Zone?

Hinsichtlich möglicher Friedensgespräche steht immer wieder eine demilitarisierte Zone im Raum. Diese wäre eine Option im Zusammenhang mit einem möglichen Friedensschluss oder zumindest einem Waffenstillstand. Die europäische Seite sieht die damit verbundene Waffenstillstandslinie entlang der aktuellen Frontlinie, beziehungsweise Richtung Norden an der Grenze zwischen der Ukraine und Russland.

Das deckt sich jedoch nicht mit der russischen Forderung der Gestaltung einer solchen Zone, die deutlich darüber hinaus reicht. Wenn man die Reichweiten der vom Westen gelieferten Waffensysteme betrachtet (z. B. den Marschflugkörper „Storm Shadow“), erkennt man, dass aus den ukrainischen Gebieten westlich einer demilitarisierten Zone entlang der aktuellen Front sogar Moskau getroffen werden könnte. Russland wird – falls eine solche Zone überhaupt eine Option ist – deshalb versuchen, eine demilitarisierte Zone ostwärts des Dnepr zu errichten. Damit wäre ausgeschlossen, dass die Ukraine Moskau mit weitreichenden Waffensystemen bedrohen kann.

In den russischen sozialen Netzwerken kursieren bereits Karten, die genau dieses Szenario darstellen. Zusätzlich zeigen diese Karten, dass Oblaste westlich des Dnepr sowie die Stadt Odessa in russischem Besitz wären und es eine Landbrücke nach Transnistrien gäbe. Würde dieser Plan umgesetzt, wäre die Ukraine ein Binnenstaat ohne Zugriff auf die Regionen, in denen sich die Masse der Rohstoffe befinden. Auf europäischer Seite herrscht indessen große Ratlosigkeit und Ungewissheit, wie man mit dieser veränderten Situation umgehen soll. Vor allem stellt sich die Frage, ob Europa am Tisch sitzen und an Verhandlungen zur Beendigung des Ukraine-Krieges teilnehmen wird, wenn diese stattfinden sollten. Die nächste Frage ist, welche Staaten sich an einer internationale Truppe beteiligen könnten, die einen zukünftigen Frieden oder Waffenstillstand überwachen soll.

Schließlich haben die USA klargestellt, dass sie keine Truppen stellen werden und an die europäische Verantwortung appelliert. Diese Frage erhält eine zusätzliche Brisanz, da Putin eine Friedenstruppe mit europäischer Beteiligung strikt ablehnt. Schließlich wäre zu klären, welches Mandat diese Friedenstruppe haben soll, wie groß ihre Stärke wäre und wo diese eingesetzt würde. Diese Fragen und die damit verbundenen Unsicherheiten vergrößern die Ratlosigkeit in Brüssel sowie in den anderen europäischen Hauptstädten und belasten die dortigen Regierungen stärker als jene in Moskau, Washington oder Peking.

Hinsichtlich des Einsatzes und des Charakters einer Friedenstruppe sind die Entfernungen in der Ukraine eine wesentliche Komponente. Alleine die Frontlinie – ohne die Räume Kursk und Charkiw – erstreckt sich über eine Distanz von etwa 1.100 km, das entspricht der Luftlinie zwischen Berlin und Rom. Hinzu kommt noch die Grenze zu Russland. Diese enorm lange Linie müsste in weiterer Folge mit Truppen „bewirtschaftet“ werden. Zum Einsatz kämen aber nicht nur Soldaten im unmittelbaren Bereich einer Waffenstillstandszone, sondern auch jene im Hinterland für die umfangreiche Unterstützung und Versorgung dieser Kräfte. Zusätzlich müsste diese Friedenstruppe ebenfalls eine abschreckende Wirkung entfalten, damit sie von den Russen ernst genommen würde.

Zeitenwende

Das wohl entscheidendste Ereignis des Februar 2025 war, dass US-Präsident Donald Trump den Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, wieder auf die Weltbühne zurückgebracht hat. Im Jahr 2014 hat der damalige US-Präsident Barack Obama Russland noch als Regionalmacht bezeichnet. Jetzt klingt das völlig anders, denn Trump scheint Putin nicht nur als regionalen Konkurrenten und Gegner einzustufen, sondern als einen „World Leader“. Damit weist er ihm – zumindest rhetorisch, immer stärker aber auch faktisch – einen Platz an den globalen Hebeln der Weltpolitik zu, wo sich Putin auch selbst sieht. Darüber hinaus meint Trump, dass Frieden nur durch Macht erreichbar sei, und spricht Putin diese Macht zu. Damit hat der russische Präsident bereits gewisse Ziele erreicht, die ihm wichtig sind.

Das heißt, Putin ist „zurück auf der Bühne“. Alle müssen mit ihm reden, um eine Lösung für die Ukraine zu erreichen. Niemand hätte diese wesentliche Lageänderung besser zum Ausdruck bringen können als der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen. Er hat in seiner Abschiedsrede von einem alleuropäischen Albtraum und von möglichen Folgen gesprochen, die insbesondere den Europäern noch nicht bewusst sein würden. Heusgen hat nicht übertrieben, da die Entwicklungen seit dem Februar 2025 tatsächlich ein politisches Erdbeben von globaler Dimension auslösten, das potenziell negative Auswirkungen auf Europa haben kann.

Friedensverhandlungen?

Die wichtigsten Aussagen der USA und Russlands nach dem Telefonat Mitte März zwischen Putin und Trump lassen erkennen, dass Russland eindeutig auf Zeit spielt. Es wurde vereinbart, dass es in den 30 Tagen danach keine strategischen russischen Luftangriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur geben soll. Im Gegenzug würde auch die Ukraine ihre Drohnenangriffe auf Russland einstellen. Während der letzten drei strategischen russischen Luftoffensiven gegen die Ukraine fanden durchschnittlich alle zwei bis drei Wochen, also in einem Intervall von 14 bis 21 Tagen, massive Luftangriffe mit Marschflugkörpern statt. Zwischen diesen Angriffswellen kam es täglich zu Einflügen russischer Drohnen, um die ukrainische Flugabwehr zu schwächen. Die 30-tägige Vereinbarung bedeutet daher keine wirkliche Erleichterung oder Atempause für die Ukraine. Sie ist vielmehr das minimal mögliche Zugeständnis in einem Verhandlungsprozess.

Fazit

Die militärische Situation stellt sich im Moment zu Ungunsten der Ukraine dar. Das gilt sowohl für die strategische, operative und taktische Ebene als auch für die geopolitische Situation, die ebenfalls kritisch ist. Die Ukraine abzuschreiben, wäre dennoch verfrüht. Schließlich hat sie in den vergangenen drei Jahren gezeigt, dass sie es trotz Rückschlägen immer wieder schafft, dem russischen Angriff zu trotzen.

Der ukrainische Erfolg hängt nach wie vor von der westlichen Unterstützung ab, die aktuell jedoch mit einigen Fragezeichen verbunden ist. Zusätzlich gilt es, dem gegenwärtigen Mangel an Soldaten zu begegnen, um die bereits ausgedünnten Kräfte an der Front zu verstärken und die dortigen Lücken zu füllen. Europa ist spätesten seit 2025 mit einer völlig veränderten geo- und sicherheitspolitischen Lage konfrontiert, die für den Kontinent äußerst ungünstig ist. Die Herausforderung ist es, die richtigen Antworten auf die geopolitischen Fragestellungen der Gegenwart sowie der Zukunft zu finden und eine militärische Stärke zu erreichen, die die künftige Sicherheit Europas garantieren kann.

 

Oberst dG Dr. Markus Reisner, PhD; 
Leiter Institut 1 an der Theresianischen Militärakademie


Dieser Artikel erschien im TRUPPENDIENST 2/2025 (403).

Zur Ausgabe 2/2025 (403).


 

Ihre Meinung

Meinungen (0)