• Veröffentlichungsdatum : 13.04.2017
  • – Letztes Update : 08.05.2018

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Besatzungszeit und Russengräber

Gerold Keusch

In Österreich erinnern zahlreiche Denkmäler an den Zweiten Weltkrieg und die Besatzungszeit. Sie sind steinerne Zeugen, die mahnen sollen den Frieden zu bewahren, und dennoch oft verfallen. 2015 wurde der Amstettner „Russenfriedhof“, ein Relikt der Besatzungszeit renoviert. Im Gespräch mit TRUPPENDIENST erläutert Günter Kiermaier, der Initiator der Renovierung, wie es dazu kam und wie er die Soldaten der Roten Armee als Kind erlebte.

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„Mein erster Kontakt mit Russen war im Alter von drei Jahren, da sowjetische Soldaten im alten Nebengebäude unseres Gasthofes einquartiert waren.“ Günter Kiermaier sitzt im Gastgarten seines ehemaligen Betriebes und erzählt, wie er die Besatzungszeit erlebte. „Mein Vater bekam Zigaretten von den Soldaten, meine Mutter und ich Pralinen. Seit damals habe ich eine russische Seele.“ Die Ankunft der Roten Armee am 8. Mai 1945 erlebte er als dreijähriges Kind.

„In unserem Haus gab es damals Fremdenzimmer. In jedem musste während der NS-Zeit ein Hitlerbild hängen. Mein Großvater, der die Nazis ablehnte, nahm alle Bilder herunter bevor die Sowjets kamen. Nur eines hat er übersehen. Als ein sowjetischer Soldat in den Gasthof kam entdeckte er es. Mein Großvater reagierte blitzschnell und schlug das Bild mit seinem Gehstock von der Wand. Daraufhin umarmte ihn der russische Soldat und sagte: Charascho (gut) Papa.“ Ein prägendes Erlebnis in der Familiengeschichte, das ihm sein Großvater später häufig erzählte. Der Gasthof war bei den sowjetischen Offizieren beliebt, den Mannschaften war der Besuch von Gastwirtschaften jedoch verboten. Sie mussten die Betreuungseinrichtungen bei ihren Quartieren benutzen.

Russische Begräbnisse

Als Kind beobachtete Kiermaier fallweise die Begräbnisse der sowjetischen Soldaten. Die Besatzungstruppen waren in Mauer, etwa fünf Kilometer südöstlich von Amstetten untergebracht. Unmittelbar nach dem Kriegsende befanden sich dort etwa 20 000 Mann. Nirgendwo sonst in Österreich waren mehr Besatzungssoldaten auf engerem Raum konzentriert als dort. Die Soldaten lagerten anfangs im Heidewald und wurden später auch in den Gebäuden des heutigen Landesklinikums Mauer kaserniert.

Der Friedhof der Roten Armee befand sich jedoch in Amstetten. Wenn einer ihrer Kameraden starb, fuhren die Abordnungen mit den Särgen der Toten bis zum Stadtrand von Amstetten. Dort hielten die Fahrzeuge an, die Mannschaft stieg ab und marschierte im Kondukt bis zum Schulpark, dem damaligen Stalinpark, der den Sowjets als Friedhof diente. „Das Kondukt führte an unserem Haus vorbei. Die Leichname der Toten lagen, nach russischer Tradition in einem offenen Sarg der aufgestellt war, damit man das Gesicht und die Orden sehen konnte. Ich blickte vom ersten Stock unseres Hauses auf die toten Soldaten. Als der Leichenzug im Stalinpark ankam wurde der Sarg beim Grab zugenagelt und in die Erde hinabgelassen. Das konnte ich von meinem Klassenzimmer, das neben dem Park lag, beobachten.“

Der Schulpark war während der Besatzungszeit eine von drei sowjetischen Bestattungsanlagen in der Stadt. Die zweite befand sich am Neuen Friedhof und die dritte am Hauptplatz, an der Stelle wo am 8. Mai 1945 der Kilianbrunnen von einer Bombe vernichtet wurde. In dem ehemaligen Bombentrichter wurden zwei Sowjetsoldaten bestattet, die am letzten Tag des Zweiten Weltkrieges, in der Nähe von Amstetten fielen. Der Marmorstein, der seit September 1945 dort der Grabstein der Soldaten war, wurde 1957 mit ihren sterblichen Überresten auf den Neuen Friedhof verlegt. Maßgeblich dafür war nicht zuletzt der öffentliche Druck. So forderte beispielsweise der Amstettner Anzeiger die „Entfernung des an die schlimmste Zeit unserer Stadt erinnernden Russendenkmales auf dem Hauptplatz“. Auch der Friedhof im Stadtpark wurde aufgelassen. Die Soldaten, die in dem Park begraben waren, wurden exhumiert und am Neuen Friedhof beigesetzt.

Mit der Pistole beim Vokabelprüfen

 „Von 1953 bis 1957 hatte ich Russischunterricht in der Hauptschule. Unsere Russischlehrerin kam eigentlich aus der Ukraine. Sie war eine Seele von einer Frau und sehr mütterlich.“ Als die Sowjettruppen kamen, wurde sie vor die Wahl gestellt: Entweder sie unterrichtet oder sie muss zurück nach Russland. Ein besonderes Erlebnis während des Russischunterichtes waren die Besuche des sowjetischen Stadtkommandanten, der in die Schule kam um Vokabeln zu prüfen. „Er war ein sehr großer Mann, kam in Uniform und hatte seine Pistole dabei. Wir Kinder hatten große Angst vor ihm, obwohl er ein heiterer Mensch und immer nett und freundlich war. Bekanntlich haben die Russen ja Kinder sehr gerne. Noch mehr Angst hatte jedoch unsere Lehrerin.“

In Amstetten gab es einen Dolmetscher für die Sowjettruppen, der aus Russland stammte. Er flüchtete als die Bolschewiken in der kommunistischen Partei die Macht übernommen hatten, da er zur Gruppe der Menschewiki (parteiinterne Konkurrenz; Anm.) gehörte. Auch er wurde vor die Wahl gestellt: Kooperieren oder Gulag. „Nachdem wir Freunde geworden waren, erzählte er mir von den Stadtbewohnern, die ihre Mitbürger denunziert hatten. Er nannte aber keine Namen, obwohl er sie alle kannte. Die Sowjets waren ja auf Hinweise aus der Bevölkerung angewiesen, da sie weder die Sprache kannten, noch in die Gesellschaft eingebunden waren.“

Tränen in den Augen

„In den 1980ern blieb an einem Abend ein Bus mit Leuten aus Russland vor dem Gasthof stehen.“ Es war ein Chor Russischer Kosaken aus der Stadt Tambow im Don Becken. Sie waren auf Tournee und auf ihrem Weg quer durch Europa zufällig nach Amstetten gekommen. Da es schon spät war, wollten sie übernachten und am nächsten Tag weiterfahren. „Mir fiel ein, dass am nächsten Tag das Totengedenken des Kameradschaftsbundes für die Gefallenen der beiden Weltkriege stattfinden würde. Ich fragte den Leiter des Kosakenchors, ob sie daran teilnehmen möchten. Als er bejahte, rief ich den Obmann des Kameradschaftsbundes an, der mit der Teilnahme der Russen einverstanden war.“ Am nächsten Tag marschierte der Kosakenchor in traditioneller Kleidung beim „Heldengedenken“ mit. Mädchen des russischen Chors legten Blumen vor das Kriegerdenkmal. „Den Angehörigen des Kameradschaftsbundes, viele von ihnen Veteranen der Ostfront, standen Tränen in den Augen.“

Renovierung des Friedhofes

„Seit 2011 dachte ich immer öfter an die Renovierung des Russenfriedhofes, der in einem erbärmlichen Zustand war.“ Mit den Jahren war er verwachsen und auch die Inschriften auf den Grabsteinen waren kaum noch zu lesen. Langsam geriet er in Vergessenheit, so dass jüngere Mitbürger oft nicht wussten, dass es diesen Friedhof überhaupt gibt.

Die sowjetische Kriegsgräberanlage am Neuen Friedhof wurde im Jahr 1947 als Heldenfriedhof auf Anordnung der sowjetischen Besatzungsmacht errichtet. In den Folgejahren wurde die Anlage beispielsweise 1952 durch einen Obelisken ergänzt. Im März 1948 übernahm die Stadtgemeinde diese Anlage und verpflichtete sich zu ihrer Pflege und Erhaltung. Gemäß Art. 19 des Staatsvertrages ist es die Aufgabe der Republik Österreich, die Grabanlagen gefallener alliierter Soldaten in einem würdigen Zustand zu erhalten.

„Die Bürgermeisterin konnte rasch von dem Projekt überzeugt werden. Sie und die Stadtamtsleiterin wurden zur treibenden Kraft, um die Renovierung umsetzen zu können. Die Geldmittel für dieses Vorhaben mussten vom Land beim zuständigen Ministerium (das BM.I; Anm.) beantragt werden. Die bürokratischen Formalitäten gingen rasch und reibungslos über die Bühne und bereits nach einem halben Jahr war das Geld für das Projekt bewilligt. Parallel dazu nahm ich Verbindung mit der russischen Botschaft auf, die dieses Vorhaben mit Freude zur Kenntnis nahm“, schildert der ehemalige Nationalrat seine Bemühungen.

2015 war der Umbau der „Russengräber“ abgeschlossen. Alle Gräber wurden neu eingefasst, die Inschriften auf den Grabsteinen nachgezogen und der Teil des Friedhofes neu gestaltet. Die Eröffnung fand am 17. Juni 2016 statt. Im Jahr 2017 soll als nächster Schritt das Denkmal im Schulpark, dem ehemaligen Stalinpark, neu gestaltet werden.

Würdige Stätten

Das Denkmal im Schulpark ist der Rest des sowjetischen Friedhofes. Der, für solche Denkmäler charakteristische, Obelisk entspricht den sowjetischen Vorgaben für die Gestaltung derartiger Bauwerke in jener Zeit. Diese wurden von sowjetischen Architekten geplant und im stalinistischen Stil gebaut. Auch die Anlage am Neuen Friedhof entspricht diesen Gestaltungsvorgaben. Das gleiche galt für die ehemalige Begräbnisstätte am Hauptplatz.

Während der Besatzungszeit wurden im Stalinpark und auf dem Hauptplatz regelmäßig Feierlichkeiten abgehalten, beispielsweise beim „Ehrentag der Roten Armee“ (23. Februar) oder den Jahrestagen zur Befreiung Wiens (13. April) sowie der Befreiung vom Nationalsozialismus (8. Mai). In anderen Orten Niederösterreichs wurden die Denkmäler der Roten Armee entgegen der Vereinbarung im Staatsvertrag abgetragen. In Amstetten hat dieser Obelisk noch heute einen festen Platz als Erinnerungsobjekt an die Nachkriegszeit.

„Die Russengräber sind nun eine würdige Begräbnisstätte und ein Mahnmal gegen den Krieg.“ Hier sind, den vorliegenden Daten zufolge, 233 sowjetische Staatsangehörige bestattet. Ein Teil von ihnen waren Soldaten der Roten Armee, die bei den Kämpfen zwischen Wien und Amstetten gefallen oder aus unterschiedlichen Gründen während der Besatzungszeit in Amstetten verstorben sind. Die meisten Bestatteten sind sowjetische Zwangsarbeiter oder Kriegsgefangene. „Wenn man vor den Grabsteinen steht und die Inschriften liest, sieht man wie jung die Toten waren. Wenn man sich dann vor Augen führt, dass diese Männer Frauen, Kinder, Eltern und Geschwister hatten, dann wird einem erst bewusst wie grausam Kriege sind. Erst der Transfer in die eigene Psyche macht die Geschichte und die Gräuel des Krieges greifbar.“

Im Tod vereint

Der ehemalige Stalinpark ist heute das Zentrum der Erinnerungskultur in Amstetten. Hier befinden sich das 1960 erbaute Kriegerdenkmal zu Ehren der Gefallenen der Stadt während des Ersten und des Zweiten Weltkrieges. Daneben steht ein Gedenkstein, der an die Widerstandkämpfer der Stadt erinnert, die vom NS-Regime getötet wurden. Er wurde im Jahr 1965 zuerst am Alten Friedhof aufgestellt und 1998 in den Schulpark verlegt. Neben dem Denkmal für die Soldaten der Roten Armee befindet sich ein Mahnmal, das der im Holocaust vernichteten, jüdischen Gemeinde von Amstetten gewidmet ist. Es ist in modernem Stil ausgeführt und wurde 1999 in der Parkanlage errichtet.

„Im Amstettner Schulpark wird der Widersinn des Krieges am stärksten spürbar. Hier steht das Kriegerdenkmal für die Gefallenen beider Weltkriege, neben dem Denkmal für die Sowjetsoldaten, dem der Widerstandkämpfer und jenem der Juden, die dem Holocaust zum Opfer fielen. Im Tod sind sie alle vereint. Deshalb ist die Begräbnis- und Gedenkkultur so wichtig. Sie ist nicht nur ein Andenken für die Toten, sondern vor allem eine Mahnung an die Lebenden. Und sie ist vor allem eines: Eine Investition in den Frieden.“

Zur Person

Kommerzialrat Günter Kiermaier wurde 1942 in Amstetten geboren. Er absolvierte eine Lehre als Einzelhandelskaufmann und nach dem Präsenzdienst eine als Kellner, übernahm später die Gastwirtschaft seiner Eltern. Von 1990 bis 2002 saß er als Abgeordneter der SPÖ im Österreichischen Nationalrat.

Kiermaier war Bezirksparteivorsitzender der SPÖ Amstetten, Präsident des Sozialdemokratischen Wirtschaftsverbandes Niederösterreich und Vizepräsident der Wirtschaftskammer Niederösterreich. Darüber hinaus war er Landesobmann der Arbeitsgemeinschaft Christentum und Sozialismus. Sein politisches und privates Engagement sind vom Wunsch nach Gerechtigkeit und Ausgleich geprägt. Er gilt als Mensch, der für jede Person ein offenes Ohr hat und die Gabe besitzt, konträre Positionen und Meinungen im respektvollen Dialog zusammenzuführen.

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Offiziersstellvertreter Gerold Keusch ist Redakteur bei TRUPPENDIENST.

 

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Meinungen (1)

  • Eva Österreicher // 19.04.2017, 22:18 Uhr Gratuliere zu diesem sehr objektiven und informativen Artikel über die Bestzungszeit und Russengräber - auch wenn die negativen Aspekte der russischen Besatzer hier ausgespart wurden. Als nach dem Krieg Geborene war ich bisher immer darauf angewiesen, dass mir ältere Menschen, die diese schwierige Zeit ertragen mussten, erzählten. Dabei kamen die russischen Besatzungssoldaten nicht immer sehr gut weg. Auch in der Schule, von den Medien erfuhren wir immer nur von den "Gräueltaten" der Russen, die es zweifelsohne gegeben hat. Doch niemand informierte uns darüber, welche Verbrechen die Truppen der anderen Besatzungstruppen aus dem Westen an unserem Volk begingen. Erst in späteren Jahren erfuhr ich durch Zufall von den grausamen Verbrechen der US-Soldaten in Deutschland und Österreich.