• Veröffentlichungsdatum : 21.02.2017
  • – Letztes Update : 08.05.2018

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  • 2104 Wörter

Vergessene Opfer

Gerold Keusch

In den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges lösten sich die Fronten auf. Die deutschen Truppen zogen sich Richtung Westen zurück, um in die US-Zone zu gelangen. Bevor sie auf die amerikanischen Soldaten trafen, warfen sie ihre Waffen, Munition und Kampfmittel weg. Tödliche Relikte, die noch lange neben den Wegen und in den Wäldern lagen.

Anmerkung: Die kursiven Textstellen sind Zitate von Zeitzeugen. Diese entstammen Büchern, Chroniken und Protokollen zum Thema oder wurden in Zeitzeugeninterviews vom Autor erhoben. 

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Am 27. April 1945 erklärte die provisorische österreichische Regierung unter dem Vorsitz von Dr. Karl Renner in Wien die Unabhängigkeit Österreichs. Die Stadt war damals bereits seit zwei Wochen von den Sowjets besetzt. In dem Dokument, das vorerst nur von der UdSSR anerkannt wurde, wurde der Anschluss an Deutschland für Null und Nichtig erklärt.

Dieser Tag, war für die Menschen am Land einer wie viele andere auch zu Kriegsende. Dass es mit dem Dritten Reich zu Ende ging, hörten sie anfangs von den Sendern der Alliierten und aus Gerüchten. Später sahen sie die Flüchtlinge, die sich in immer größerer Anzahl Richtung Westen bewegten. Aus den Gesprächen mit ihnen konnte man erfahren, wie nahe die Front und mit ihr das Kriegsende bereits waren. Spätestens als sich in den ersten Maitagen immer mehr deutsche Soldaten und militärische Einheiten zwischen die Flüchtlingen mischten war klar, dass es den „Endsieg“ nicht mehr geben könne.

Spätes Ostergeschenk

An diesem 27. April 1945 findet eine Frau aus Strengberg zwei Ostereier aus Metall neben der Straße, die mit einem roten Knopf verziert sind. Ostern war zwar schon vor einem knappen Monat, aber die Kinder würden sich über die Eier sicherlich freuen. Die Mutter legte die Geschenke in ihre Schürze und brachte sie nach Hause. Die Freude bei der sechseinhalbjährigen Tochter und dem viereinhalbjährigen Sohn über das Geschenk muss groß gewesen sein. Einige Stunden später entdeckten die Kinder, dass man den roten Knopf herausschrauben kann. Wenn der Knopf abgeschraubt ist, baumelt er an einer Schnur, die ihm mit dem Metallkörper verbindet. Die Kinder zogen an der Schnur. Ein lauter Knall. Die Nachbarn sahen eine Rauchwolke bei der Haustüre aufsteigen. Die Ostereier waren explodiert - es waren Eihandgranaten. Die verstümmelten Kinder wurden sofort medizinisch versorgt und so schnell wie möglich mit einem Militärlastwagen in das nächste Spital gebracht. Der Sohn verstarb noch in der gleichen Nacht, das Mädchen einen Tag später.

Die Handgranaten, welche die Mutter ihren Kindern versehentlich als tödliches Geschenk gab, waren Eihandgranate. Sie wurden von Soldaten geworfen, um gegnerische Schützen im Nahkampf, in und hinter Deckungen, zu bekämpfen. 84 Millionen Stück dieses Kampfmittels wurden zwischen 1940 und 1945 produziert. Sie wurden entwickelt, da die Stielhandgranaten, aufgrund ihrer Größe für die Soldaten im Gefecht zu unhandlich waren. Die Granaten waren 76 mm hoch, 230 Gramm schwer, mit 112 Gramm Sprengstoff gefüllt und von einem Splittermantel umgeben. Der Zündmechanismus bestand aus einem Knopf, der nach dem Abschrauben eine Schnur freigab. Zog man an der Schnur, aktivierte man den Zünder, der bei der Standardgranate etwa viereinhalb Sekunden später detonierte. Es gab jedoch auch andere Zünder, wie den roten, der den Kindern in Strengberg zum Verhängnis wurde. Dieser hatte eine Verzögerungszeit von nur einer Sekunde und wurde vor allem für Sprengfallen eingesetzt.

Kriegsrelikte

Die Wiesen neben den Straßen waren in den letzten Tagen des Krieges und auch noch danach voll von Kriegsrelikten. Die zurückfluteten deutschen Soldaten ließen teilweise freiwillig, teilweise weil sie von den alliierten Soldaten dazu aufgefordert wurden ihre Waffen und Kampfmittel liegen. Die Kriegsrelikte neben den Straßen wurden relativ rasch nach dem Kriegsende beseitigt. Dafür wurde die Bevölkerung vor Ort, unter ihnen auch Kinder, von den Alliierten eingeteilt. Monate später fand man jedoch noch Granaten, Munition und Kampfmittel in den ehemaligen Stellungen oder in den Unterkünften der Soldaten.

Ein Zeitzeuge erinnert sich: „Wir sind zum Bäcker gegangen um Brot zu holen. Auf dem Weg war ein Teich. Dort sind Waffen und Munition gelegen. Wir haben herumgesucht und ich habe eine Sprengkapsel aufgehoben. Dabei ist sie explodiert. Es hat mir die ganze Handfläche und zwei Finger weggerissen. Der Daumen und ein Finger sind mir geblieben.“ Das Kind von damals überlebte den Unfall, andere hatten weniger Glück.

Panzerfaust

„Wir haben mit Panzerfäusten, Handgranaten etc. gespielt. Einmal hat ein Junge eine Panzerfaust gefunden und wollte mit ihr spielen. Ein Freund sagte ihm noch, dass er sie anders halten muss. Kurz nachdem er sie umgedreht hatte, blitzte der Feuerstrahl und die Granate zischte los. Er hatte Glück, dass ihm nichts geschah“, erzählt ein Kind von damals. Neben den Handgranaten waren vor allem die Panzerfäuste für die Kinder und Jugendlichen interessant. Diese lagen in großen Mengen in den Gräben der Straßen oder in den Wäldern und wurden oft zur tödlichen Gefahr für ihre Finder. „Mein Bruder kam bei einem tragischen Unfall im Alter von 16 Jahren ums Leben. Er hat mit einem Freund eine Panzerfaust gefunden und sich mit ihr gespielt. Als sie losging wurde mein Bruder von einem Splitter im Kopf getroffen. Er war auf der Stelle tot“, die Familie dieses Zeitzeugen war noch in den ersten Tagen im Frieden mit dem Tod konfrontiert.

Die Panzerfaust war eine Einmannwaffe zur Bekämpfung von gepanzerten Fahrzeugen. Neben dem Standardmodell „Panzerfaust 30“, die ab August 1943 ausgeliefert wurde, gab es noch die Varianten „60“ und „100“. Die Zahl stand für die Einsatzschussweite der Waffe. Sie bestand aus einer Abschussvorrichtung und einer Granate, die 3,3 kg wog mit 1,6 kg Sprengstoff gefüllt war. Die Durchschlagsleistung betrug 20 cm Panzerstahl. Die Waffe war rückstoßfrei, was bedeutete, dass hinter der Waffe ein Feuerstrahl aus dem Werferrohr „schoss“. Die Gefahr, welche der Aufenthalt in diesem Bereich bedeutete, war vielen Kindern, die mit der Waffe spielten nicht bewusst.

Die Waffe funktionierte nach dem Hohlladungsprinzip. Dabei wird eine Sprengladung in Trichterform so konstruiert, dass bei ihrer Explosion der nach innen wirkende Druck einen Strahl bildet. Das wird mit einer zylinderförmigen Ladung erreicht, die eine Aushöhlung in Form eines Kegels hat. Der Strahl „bohrt“ durch Druck und Hitze ein Loch in das Material sobald er auftrifft. Wie tief dieses ist, hängt von dessen Konsistenz und der Art und Menge des Sprengstoffes ab. Der Strahl kann Panzerstahl, Beton, aber auch einen Menschen durchschlagen. Selbst wenn die Ladung nicht ausgelöst wird, reicht die Wucht des Geschosses, um tödliche Verletzungen zu verursachen. Im Zweiten Weltkrieg wurden etwa 6,7 Millionen Stück dieser Waffe produziert.

Tödliche Glut

In Kollmitzberg, etwa 10 km nördlich von Amstetten befanden sich am 8. Mai 1945 Soldaten der Waffen-SS in einem Gehöft. Sie waren soeben den sowjetischen Truppen entkommen. Nun wollten sie sich über die Donau absetzen, um dort in US-Gefangenschaft zu gehen. Die etwa 20 Soldaten diskutierten im Hof. „Dabei sind sie auf die Idee gekommen mit ihren zwei Panzern in einen Graben zu fahren und dort alles zu vernichten. (...) Die haben alles auf einen Haufen geworfen und das ganze Gerät dann mit einem Zeitzünder gesprengt.“

Durch den Lärm der Detonation kamen Schaulustige aus den umliegenden Gehöften zu dem Graben im Wald. Auf der Suche nach Kriegsmaterial begannen sie, in den noch glosenden Haufen mit Stecken herumzustochern. Dadurch schoben sie einige scharfe Granaten in die Glut. Durch die Hitze setzten die Zünder um und mehrere Granaten detonierten. „Ich bin an dem Tag mit meinem Vater fort gewesen und gerade heimgekommen. Wir haben den Knall der Explosion gehört und die Rauchwolke gesehen, die über unserem Wald stand“, der Zeitzeuge kann sich noch genau an diesen Tag erinnern. Ein 16jähriger Schüler wurde von einem Granatsplitter ins Herz getroffen. Er starb an Ort und Stelle. Zwei weitere Kinder wurden bei der Detonation stark verwundet. Einer starb kurze Zeit später, der andere verlor sein Bein.

„Der Anblick vor Ort war verheerend. In den umgeknickten Bäumen hingen Uniformen und Hemden. Im ganzen Wald waren Waffen und Munition verstreut. Dazwischen standen die Panzer in denen Leichen lagen - es war ein furchtbarer Anblick.“

8,8-cm-Granaten

Vor allem bei den Buben waren sowohl Kriegsausrüstung, als auch Waffen und Munition sehr beliebt. „Auf den Bänken spielen kleine Buben mit Gewehren, die ihnen abziehende Soldaten geschenkt haben, allerdings ohne Verschluss. Jeder Junge, den man auf der Straße begegnet, trägt einen Stahlhelm oder mehrere und Gasmasken“, beschreibt eine Schulchronik die Bilder der Tage nach dem Ende des Krieges.

Das Hantieren mit Granaten war damals ein beliebter Zeitvertreib bei den Kindern und Jugendlichen. Das war gefährlich und das war ihnen auch bewusst: „Damals lagen genügend Granaten in der Gegend herum und wir haben damit gespielt. Wenn ein Kind ein Geschoß von der Granate schlug, haben sich die anderen Kinder hinter einem Obstbaum in Deckung gelegt, bevor der nächste dran war. Wäre eine Granate explodiert, dann hätte es nur einen von uns nicht erwischt.“

Die 8,8 cm Kanone, für die diese Granaten bestimmt waren, war ursprünglich als Fliegerabwehrkanone konzipiert. Sie wurde später auch gegen Erdziele und zur Panzerabwehr eingesetzt. Aufgrund ihrer hohen Durchschlagskraft war sie in leicht modifizierter Form die Hauptwaffe des Panzerkampfwagen VI, der unter dem Namen „Tiger“ bekannt wurde. Die Kanone wurde auch bei anderen Panzermodellen verwendet. Die Granaten mit denen sich die Kinder spielten waren vermutlich „Panzergranaten 39“. Diese Standardgranate wurde für verschiedene Kaliber gefertigt und wirkte grundsätzlich als Wuchtgeschoss. Sie hatte aber auch eine kleinere Sprengladung mit einem Verzögerungszünder. Wenn die Granate die Panzerung eines Gegners durchschlug, explodierte sie im Kampfraum.

Die Gefahr ist nicht gebannt

Noch viele Jahre nach dem Krieg wurden Relikte gefunden. „Für uns Kinder war es in den 70er Jahren fast schon ein Sport nach Kriegsgerät zu suchen. Neben dem Fluss konnten wir häufig Patronen finden. Am meisten haben wir uns über Leuchtspurmunition gefreut“, erzählt ein Kind der 1970er-Jahre. „Ich habe ein paar interessante Funde gemacht. Einmal fand ich eine Panzerfaust, ein anderes Mal eine Panzermine. Besonders stolz war ich auf den Teil einer Bombe, der wie ein Zünder aussah.“ Genauso wie nach dem Krieg, war den Kinder und Jugendlichen die Gefahr nicht immer bewusst, in die sie sich begaben. Für viele war die Suche nach Waffen und Kriegsmaterial einfach ein großes Abenteuer.

Noch heute gibt es Bomben, Munitions- und Waffenfunde. Immer wieder kommt es vor, dass bei Baggerarbeiten Fliegerbomben aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden und entschärft werden müssen. In den Wäldern findet so mancher Schwammerlsucher immer noch Waffen oder Kampfmittel, die seit mehr als 70 Jahren dort liegen. Nur ein Experte kann beurteilen, ob es sich dabei um eine Spreng- oder eine Wuchtgranate handelt. Auch nach Jahrzehnten in der Natur können die Kriegsrelikte noch funktionsfähig sein. Eine leichte Berührung kann ausreichen, um den Zünder und damit den Sprengstoff zur Detonation zu bringen.

Erst vor wenigen Jahren kam es zu einem Unfall mit einer Weltkriegsgranate. Zwei Männer fanden diese bei der Feldarbeit und nahmen sie nach Hause mit, wo sie explodierte. Ein besonders spektakulärer Vorfall ereignete sich 2014. Kurz nachdem eine Frau im Wohnzimmer ihren Ofen einheizte, erlebte sie eine böse Überraschung: In einem Holzscheit steckte ein Geschoss, das aufgrund der Hitze detonierte. Das Kriegsrelikt dürfte im Zweiten Weltkrieg einen Baum getroffen haben. Im Laufe der Jahre hat es sich darin so verwachsen, dass es nicht einmal beim Spalten des Holzes auffiel. 

Entminungsdienst

In Österreich ist der Entminungsdienst für die Räumung von Munition und Kampfmitteln, die aus der Zeit vor 1955 stammen, zuständig. Er ist eine selbstständige Dienststelle innerhalb der Heeresverwaltung und seit dem 1. Jänner 2013 beim Bundesministerium für Landesverteidigung und Sport angesiedelt. Neben der Dienststelle in Wien gibt es Außenstellen in Graz und Linz-Hörsching mit einer 24-Stunden-Rufbereitschaft. Die Spezialisten des Entminungsdienstes können rasch vor Ort sein, um verdächtige Funde zu untersuchen und gegebenenfalls zu beseitigen. Die Bergung und Beseitigung von Kriegsrelikten ist kostenlos. In besonders schwierigen Fällen werden die Relikte der beiden Weltkriege an Ort und Stelle vernichtet. Jedes Jahr rücken die Mitarbeiter des Entminungsdienstes etwa tausend Mal zu Einsätzen aus. Seen und Flüsse zählen ebenso zu ihrem Einsatzgebiet wie Städte, Wälder oder alpines Gelände.

Meldungen und Einsätze

Im Jahr 2015 gingen 1 200 Fund- bzw. Wahrnehmungsmeldungen von Kriegsmaterial verschiedenster Art beim Entminungsdienst ein. Um die Sicherheit der Bevölkerung zu gewährleisten und um Sachwerte zu erhalten wurden 45 631 kg Kriegsmaterial, davon 21 Bombenblindgänger geborgen, untersucht, abtransportiert und vernichtet. Fast die Hälfte der Einsätze fand in Niederösterreich statt. Erstmals in seiner Geschichte war der Entminungsdienst 2015 auch im Ausland eingesetzt. In Slowenien unterstützte er die Entschärfung einer 500-kg-US-Fliegerbombe in der Bucht von Piran.

Richtiges Verhalten bei verdächtigen Funden

Durch den leichtfertigen Umgang mit Munition und Kampfmittel sind seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges unzählige Menschen schwer verletzt oder getötet worden. Deshalb empfiehlt der Entminungsdienst bei Funden das folgende Verhalten:

  • Abstand halten und verhindern, dass sich andere Personen oder Tiere dem Fund nähern. 
  • Die nächste Polizeidienststelle oder das Bundesheer kontaktieren.


Offiziersstellvertreter Gerold Keusch ist Redakteur bei TRUPPENDIENST.


Link zur Serie

Was macht ein Entminungsexperte?

Entminungsdienst des Österreichischen Bundesheeres

 

Ihre Meinung

Meinungen (2)

  • Burghard Filzer // 07.03.2017, 21:00 Uhr Sehr interessanter Artikel. Nur eine kleine Korrektur, die deutsche Eierhandgranate 39 war natürlich nur 76 mm hoch.
    Liebe Grüße
  • H.Trauttenberg // 27.09.2020, 18:41 Uhr Gratuliere Osrv Keusch zu dem hervorragendem Artikel über das Heydrich Attentat!