• Veröffentlichungsdatum : 20.06.2023
  • – Letztes Update : 26.06.2023

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Ukraine-Krieg: Der aktuelle Status quo

Markus Reisner

Vor mehr als einem Jahr begann der Ukraine-Krieg. Der aktuelle Status quo deutet auf einen Abnützungskrieg hin. Wie es dazu kam und wie sich der Kriegsverlauf anhand militärischer Parameter bisher darstellte, analysiert Oberst des Generalstabsdienstes Markus Reisner.

Um den militärischen Status quo darzustellen, macht es Sinn die gegenwärtige Situation im Ukraine-Krieg anhand der drei Führungsebenen (taktisch, operativ und strategisch) sowie anhand der Key Warfighting Capabilities (Prepare, Project, Engage, Sustain, Consult, Command and Control, Protect, Inform), die die NATO vorgibt (und auch das Bundesheer verwendet), zu analysieren. Darüber hinaus ist es nötig den Charakter des Krieges und die Narrative beider Seiten zu erfassen.
 

Militärische Führungsebenen

Bei der Analyse der taktischen Ebene ist vor allem die Wirkung von unterschiedlichen Waffensystemen zu betrachten – was in den Schützengräben passiert, aber auch die Auswirkungen vom Einsatz weitreichender Artilleriesysteme. Bei der operativen Ebene steht das Führen großer Verbände zum Zwecke der Schlacht, z. B. die Möglichkeit einer Offensive, im Vordergrund. Strategie bedeutet das Einsetzen von Kräften und Mitteln, um das langfristige Ziel – den Sieg im Krieg – zu erreichen.

Taktische Ebene

Die Russen haben zu Kriegsbeginn mit bataillonstaktischen Gruppen (BTG) angegriffen. Damit hatten sie 2014 beim Einmarsch in die Separatistengebieten Erfolge, z. B. bei den Kesselschlachten im Donbass. Dort bekamen sie den Eindruck, dass das funktioniert, während die ukrainischen Streitkräfte aus diesen, für sie verheerenden, Ereignissen gelernt haben. Die bataillonstaktische Gruppe hat sich am Beginn des Krieges aber nicht bewährt, da sie kaum Infanterie hat. 2014 war das kein Problem, weil die Separatisten vor Ort waren. Im Ukraine-Krieg ist die Situation jedoch völlig anders, weil das zu erobernde Gebiet ungleich größer ist.

Die russischen Streitkräfte haben in der Ukraine etwas versucht, das man aus dem Zweiten Weltkrieg kannte, die Deep-Operation. Das bedeutet sehr schnell, schmal und tief vorzustoßen, exakt nach Zeittabellen, wann, wo, welches Element welchen Raum eingenommen haben muss. Als sie aber auf Widerstand trafen, hatten sie große Probleme diesen zu bekämpfen. Interessant ist, dass die Ukraine eine neue Taktik entwickelt und angewandt hat. Man hat, vereinfacht erklärt, die Russen fünf Tage in das Land hereingelassen und dann, als deren Betriebsmittel erschöpft waren, in der Tiefe, entlang der Versorgungslinien, angegriffen. Das hat enormes Chaos verursacht, da die sehr knapp bemessenen russischen Kräfte (knapp 200.000 Mann) nun aus den Spitzen der ersten Angriffsstaffel Kräfte ausscheiden mussten, um Versorgungswege zu sichern und Versorgungselemente zu eskortieren. Ab diesem Zeitpunkt nahm das Chaos für Russland seinen Lauf.

Auf der anderen Seite hat die Ukraine ihre Waffensysteme intelligent eingesetzt. Ein Beispiel dafür ist der Nachbau einer russischen endphasengesteuerten Granate vom Typ Krasnopol, die 2014 erbeutet, später nachgebaut und nun erfolgreich eingesetzt wird. Der Einsatz von Drohnen, z. B. vom türkischen Typ Bayraktar TB2 war jedoch nicht so erfolgreich. Spätestens, als die russischen Flugzeuge damit begannen diese vom Himmel zu holen, war der „Bayraktar-Effekt“ vorbei.

Operative Ebene

Auf der operativen Ebene haben beide Seiten Flexibilität bewiesen und gezeigt, dass sie auf Herausforderungen adäquat reagieren können. Auf der ukrainischen Seite waren das die Offensiven bei Kiew, Charkiw und Cherson, die allesamt jedoch einer Anmerkung bedürfen.

Der Kampf um Kiew war erfolgreich, weil die Russen den Ukrainern diesen Raum überließen, der somit nicht zurückerobert werden musste. Das war jedoch ein bedeutender Punktesieg mit enormer psychologischer Bedeutung für die Ukraine. Er hat der Bevölkerung und den Soldaten das Gefühl gegeben, dass sie diesen Krieg für sich entscheiden können.

In Charkiw gab es eine intelligent angelegte Operation, dem Grundsatz Überraschung und Täuschung folgend. Man hatte erkannt, dass die Russen zu wenig Infanterie haben, um eine Operation hinter die Verteidigungsstellungen westlich von Bachmut und Siwersk durchzuführen. Weil sie seit Beginn des Krieges, vor allem von den USA und der NATO, mit Aufklärungsdaten unterstützt werden, haben die Ukrainer eine Lücke in der russischen Front erkannt. Das Ergebnis war ein erfolgreicher Angriff in diese Lücke. Bei Cherson war die Situation anders. Hier muss es im Hintergrund einen Deal gegeben haben. Anders ist es nicht erklärbar, dass sich 30.000 russische Soldaten mit etwa 2.500 Fahrzeugen über Nacht über drei schwerbeschädigte Brücken absetzen konnten, die bis dahin unter Dauerschuss lagen. Dabei drängt sich ein Vergleich mit Dünkirchen auf.

Auch Russland hat am Beginn des Krieges Erfolge erzielt, jedoch nicht geschafft, umzusetzen, was sie geplant hatten. Wesentlich für den weiteren Kriegsverlauf war, dass der Enthauptungsschlag bei Kiew gescheitert ist. Aber die russischen Streitkräfte konnten Mariupol in Besitz nehmen und die Kesselschlacht von Sjewjerodonezk bzw. Lyssytschansk für sich entscheiden. Beide Ereignisse erinnern an die Situation in Bachmut im Frühjahr 2023, das am 20. Mai 2023 eingenommen wurde. Bei Lyssytschansk konnten die russischen Streitkräfte durch die erste Linie bei Popasna durchbrechen. In Verlängerung von Popasna sind Soledar und Bachmut, wo sie jetzt stehen und versuchen die ukrainischen Streitkräfte nachhaltig abzunützen.

Strategische Ebene 

Im Oktober 2022 erkannten die Russen, dass sie vor allem auf der strategischen Ebene handeln können. Sie legen Zeit, Ort und Umfang eines Angriffes auf die Kritische Infrastruktur fest und zermürben so die Ukraine. Seit damals gab es (Stand April 2023) 16 Angriffswellen, die zwischen 40 bis 70 Prozent der Stromversorgung zerstörten. Da die ukrainische Industrie zurzeit nicht produziert, kann ihr Strombedarf an die Haushalte geleitet werden. Darüber hinaus liefert auch die Europäische Union Strom, wodurch die Basisversorgung sichergestellt ist. Es stellt sich jedoch die Frage, wie lange man als Staat einen Krieg führen kann, wenn keine eigenen industriellen Kapazitäten vorhanden sind.

Die russische Luftwaffe hat bewiesen, dass sie erfolgreich angreifen kann. Sie konnte nicht nur Transformatoren punktgenau zerstören, sondern auch die unterschiedlichen Stromnetze voneinander trennen (Hoch- und Niederspannung). Auf Satellitenaufnahmen ist die Ukraine dadurch sehr dunkel geworden. Sie hat nun die Herausforderung, Fliegerabwehrsysteme einzusetzen, von denen sie viele am Beginn des Krieges verloren hat. Wenn man die Größe der Ukraine betrachtet, wird klar, dass ein paar „Patriot“-Batterien für die Luftverteidigung nicht ausreichen.
 

Key Warfighting Capabilities 

Die wesentlichen Fähigkeiten für die Streitkräfteentwicklung sind die sogenannten Key Warfighting Capabilities:

  • Prepare;
  • Project;
  • Engage;
  • Sustain;
  • Consult, Command and Control;
  • Protect;
  • Inform.

Die NATO gibt diese vor, die auch das Österreichische Bundesheer im Prinzip übernommen hat. Ihre Betrachtung ermöglicht eine Analyse des Ukraine-Krieges und das Treffen von Ableitungen.

Prepare

Bei der Vorbereitung und Planung des Krieges hatte die Ukraine einen großen Vorteil. Sie konnte sich acht Jahre lang vorbereiten, wenngleich dessen Ausbruch nicht klar war. 2014 war die ukrainische Armee in Agonie und erlitt schmerzliche Verluste. Danach stellte sie, aufgrund der anhaltenden Bedrohung durch Russland, aus eigener Kraft ihre Streitkräfte neu auf – am Beginn des Krieges waren das die quantitativ stärksten Streitkräfte Europas.

Ein Beispiel für ihre gediegene Vorbereitung geschah bei Kiew. Dort hat man den Fluss Irpin geflutet, die Brücken gesprengt und – durch den Einsatz von Mehrfachraketenwerfer (Typ BM-27 „Uragan“) – die bereitgestellten russischen Kräfte im Raum Butscha vernichtend geschlagen. Das ist übrigens die Vorgeschichte des Massakers von Butscha, verübt durch russischen Soldaten.

Die Ukraine hat es auch verstanden, die Russen in das Land hereinzulassen und erst dann mit mobilen Einheiten, Spezialkräften und vor allem Territorialkräften anzugreifen, anstatt sie an der Grenze aufzuhalten. Sonst wäre das Gleiche passiert wie 2014, als diese an der Grenze geschlagen wurden. Der große Fehler der russischen Führung war, dass sie die ukrainischen Territorial- und Spezialkräfte völlig unterschätzten. Sie konzentrierten sich auf die professionellen Verbände (Brigaden der Landstreitkräfte), haben jedoch beim Vormarsch die Territorialeinheiten völlig übersehen. Diese haben dann die Versorgungslinien und Gefechtsstände angegriffen.

Project

Beim Verlegen von Kräften, Material und Ausrüstung über große Distanzen in kurzer Zeit waren beide Seiten erfolgreich. Die Ukraine hat es geschafft, die Waffenlieferungen rasch in das Land und danach an die Front zu bringen. Am Beginn gab es einige Verluste durch russische Angriffe. Daraus hat man gelernt und die Art und Weise der Waffenimporte verändert. Das war die Basis, um die ukrainischen Landstreitkräfte immer wieder neu aufzustellen.

Auf der anderen Seite waren auch die russischen Streitkräfte in der Lage erfolgreich zu operieren – auch logistisch. Ein Beispiel ist der Abzug von Kiew, wo es gelang in zehn Tagen 50.000 bis 60.000 Mann über 1.000 km im Eisenbahntransport in den Donbass zu verlegen. Interessant ist der Hintergrund dieser Verlegung. Spätestens Ende März war für die Russen klar, dass ihr ursprünglicher Ansatz – vor allem wegen des Mangels an Infanterie – nicht durchführbar ist. Deshalb hat man sich auf den Donbass konzentriert und für den dortigen Ansatz die Kräfte zusammengezogen sowie ein Schwergewicht gebildet.

Engage

Geschwindigkeit ist ein wesentlicher Faktor für eine erfolgreiche Kriegsführung. Die ukrainischen Streitkräfte haben gezeigt, dass sie mit innovativen Lösungen rasch Feuer an den Feind bringen können. Ein Beispiel ist der Artillerieeinsatz, wo man eine intelligente App-Lösungen entwickelt hat, quasi ein „Uber“ für die Artillerie. Dabei gibt es ein gemeinsames Lagebild und eine rasche Kommunikation, die auf Starlink basiert. Wenn ein gegnerisches Fahrzeug erkannt wird, hat das jeder sofort am Schirm und das nächste Wirkmittel bekämpft dieses. Damit sind, vom Erkennen bis zum Bekämpfen, Zeiten von ein bis zwei Minuten möglich, während die Russen sechs bis acht Minuten dafür benötigen. Diese Zeit ist zwar relativ kurz, aber dennoch zu langsam und hängt mit der Doktrin der Streitkräfte zusammen, die sehr zentralistisch geführt werden. In diesem Punkt ist die Ukraine eindeutig überlegen.

Protect

Der Schutz eigener Kräfte ist auch vor der Diskussion zu betrachten, ob der Panzer eine Zukunft in einer Zeit hat, in der Kamikaze-Drohnen am Himmel schwirren? Die Antwort ist: Ja, weil er das einzige Mittel ist, das schnell und beweglich, mit Feuerkraft und Schutz, Gelände in Besitz nehmen kann. Aber er wird das in Zukunft nur können, wenn er Schutzsysteme mitführt oder von diesen begleitet wird, die Angriffe mit Kamikaze-Drohnen verhindern bzw. abwehren.

Jedes Waffensystem hat einen Zweck. Vor allem wird damit versucht aus einer symmetrischen Situation in eine asymmetrische zu gelangen, also eine Überlegenheit auf dem Gefechtsfeld zu erzielen, die letztlich den Kampf und somit den Krieg für die eigenen Seite entscheidet. Ein konkretes Beispiel sind die HIMARS-Systeme. HIMARS hat, auf eine Distanz von 70 km wirkend, die russische Logistik nachhaltig durcheinandergebracht. Die Russen haben mehrere Wochen gebraucht, um diese wieder „in Ordnung“ zu bringen.

Die Ukrainer waren erfolgreich, weil sie wissen, wie die russische Logistik funktioniert. Die Russen haben eine Push-Logistik, bei der Versorgungsgüter – egal ob diese benötigt werden oder nicht – nachgeschoben werden. Der Vorteil dieses einfachen Prinzips ist, dass es auch funktioniert, wenn es keine Kommunikation gibt. Das Problem liegt jedoch in den Details, die die Ukrainer kennen. So wurden am Beginn des Krieges Munitionsdepots mit etwa 1.000 Tonnen an einem Ort neben der Eisenbahn angelegt, ein relativ einfach zu identifizierendes und mit HIMARS zu bekämpfendes Ziel.

Aktuell richten die Russen im Schnitt bis zu zehn Munitionsdepots zu je 100 Tonnen ein, die gut getarnt und verteilt für den Einsatz des HIMARS ein ungleich schwierigeres Ziel sind. Dazu kommt der Munitionsmangel der Ukraine, die sich genau überlegen muss, welche Ziele bekämpft werden sollen. Zusätzlich sind die Russen mittlerweile in der Lage HIMARS-Raketen durch den Einsatz des Raketenabwehrsystems „Pantsir“ abzuschießen. Die Abschussrate liegt nicht bei 100 Prozent, aber doch bei einer substanziellen Rate. Um die Symmetrie wiederherzustellen, war die Lieferung von Antiradarraketen (AGM-88) von den USA nötig. Diese dienten den Angriffen auf die „Pantsir“-Systeme.

Sustain

Beim Durchhalten der Kräfte sind die Größenverhältnisse der kriegsführenden Staaten relevant. Auf der einen Seite gibt es Russland, ein Staat mit etwa 145 Millionen Menschen, auf der anderen Seite die Ukraine mit etwa 35 Millionen Menschen, wenn man die Flüchtlinge wegrechnet. In der Frage der allgemeinen Ressourcen ist das Missverhältnis noch deutlicher, da Russland der mit Abstand größte Staat der Welt ist und massive Bodenschätze hat.

Die ukrainischen Landstreitkräfte waren vor 2022 quantitativ die stärksten Landstreitkräfte Europas. Das haben sie aus eigener Kraft geschafft, auch weil der Westen ihnen nach 2014 nicht jene Unterstützung gegeben hat, die sie benötigten, um Russland nicht zu verärgern. Rüstungsgüter bzw. Waffensysteme wie „Javelins“ haben sie zwar erhalten, aber nicht im nötigen Umfang, um das Land zu verteidigen. Somit waren sie gezwungen diese selbst zu produzieren, wie den Kampfpanzer T-64 „Bulat“.

Ein wesentliches Problem für die Ukraine ist der Abnützungseffekt. Mittlerweile müssen die ukrainischen Landstreitkräfte bereits zum dritten Mal neu aufgestellt werden. Was am Beginn des Krieges verfügbar war, wurde in den Kämpfen bis zum Sommer 2022 signifikant abgenützt. Dann kam es zu den Lieferungen des Westens, vor allem mit den T-Modell-Kampfpanzern, die noch in Europa vorhanden waren – T-72 aus Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Bulgarien oder die letzten T-55 aus Slowenien, die in den Offensiven bei Charkiw und Cherson verbraucht wurden. Vor allem in Cherson hat die Ukraine große Mengen an Gerät verloren.

Wenn sie nun in die Offensive gehen wollen, benötigen sie neues Material. Laut Generalstabschef Walerij Saluschnyj werden 300 Kampfpanzer, 600 bis 700 Kampfschützenpanzer und 500 Artilleriesysteme benötigt. Die europäischen Streitkräfte können diese Menge jedoch nicht zur Verfügung stellen. Es gibt das Gerät entweder nicht oder es wird für die eigenen – meist nicht mehr großen – Streitkräfte benötigt. So müssten bei weiteren Lieferungen aktive Bataillone von NATO-Staaten ihre Panzer abgeben. Das würde, angesichts der aktuellen Situation in Europa, keine Regierung zulassen – zumindest nicht ohne Ersatz, der zurzeit nicht in Sicht ist. Wie sich dieser Engpass auswirkt, zeigt die Aufstellung eines ukrainischen Panzerbataillons. 18 „Leopard“ kommen aus Deutschland, zehn aus Schweden und vier aus Portugal. Bei einer Front mit einer Länge von knapp über 1.100 Kilometern stellt sich die Frage, wo dieses eingesetzt werden soll. Die Herausforderung in diesem Zusammenhang ist, ob man Gerät zurückhält, um massiert zuzuschlagen oder es sofort an die Front bringt.

Auf der anderen Seite hat Russland scheinbar unbegrenzte Reserven. Sie haben den Krieg mit etwa 3.300 Kampfpanzern begonnen. Von denen gingen bisher knapp über 2.000 (Stand: Juni 20023) verloren, viele T-72 B1-, B3-, BM-Modelle. Auch für die russischen Streitkräfte ist der Nachschub ein Problem. So wurden in den letzten vier Monaten etwa 200 Stück T-90 an die Front geliefert, wodurch der Fehlbestand nicht ausgeglichen wird. Dennoch haben sie noch etwa 2.000 Kampfpanzer. Neben dem Hauptpanzerwerk gibt es zwei Reparaturwerke, in denen etwa 10.000 Panzer, die bisher auf Halde waren, schrittweise instandgesetzt werden. Das sind Panzer mit dem technischen Stand der 1980er- und 1990er-Jahre, sie können aber auf dem Gefechtsfeld eingesetzt werden, wo sie niedergekämpft werden müssen.

Der Umfang der russischen Artilleriemunition dürfte vor dem Krieg bei etwa 17 Millionen Granaten gelegen haben, von denen bisher etwa sieben Millionen verschossen wurden. Die aktuelle Produktionsrate liegt zwischen 1,4 und 3,4 Millionen Granaten im Jahr, womit noch genug Munition vorhanden ist. Im Sommer 2022 wurden zu Spitzenzeiten zwischen 80.000 und 90.000 Artilleriegranaten pro Tag von den Russen verschossen, von den Ukrainern bis zu 8.000. Manche europäischen Staaten haben einen Gesamtlagerbestand von etwa 10.000 Artilleriegranaten, von denen sie jährlich knapp 1.000 verschießen. Die USA waren die Ersten, die die Produktion von 155-mm-Granaten auf 90.000 Stück pro Monat erhöht haben, sonst hat das noch niemand getan. Das hängt auch damit zusammen, dass die westliche Industrie nicht ohne eine Abnahmegarantie produzieren kann, da das Risiko zu groß ist, auf der Munition „sitzenzubleiben“.

Die Anzahl der Menschen, der potenziellen Soldaten, spielt ebenfalls eine wesentliche Rolle. Solange die politisch-gesellschaftliche Ordnung in Russland gleichbleibt, können die Streitkräfte Soldaten rekrutieren und die Verluste – zumindest quantitativ – ausgleichen. Für die Ukraine, in der (je nach Zählart) mittlerweile die achte oder zehnte Mobilisierungswelle läuft, ist das ungleich schwieriger. Der Umstand, dass sich Kinder bereits mit 16 Jahren zur Front melden können, zeigt, dass die Anzahl der Soldaten geringer wird. Dazu kommt, dass z. B. die Territorialeinheiten im Westen nicht an umkämpften Frontabschnitten in den Einsatz gehen wollen.

Inform

Der entscheidende Vorteil der Ukraine im bisherigen Kriegsverlauf war nicht nur ihre Taktik, die westlichen Waffenlieferungen oder die auf Starlink basierende Kommunikation. Es war die Intelligence, die ihr von der NATO zur Verfügung gestellt wurde. Damit kann sie tief in das gegnerische Territorium blicken, aber auch mit spezieller Sensorik den gegnerischen Funkverkehr erkennen und daraus Schlüsse ziehen, z. B. wo sich Gefechtsstände befinden. Das hat dazu geführt, dass bisher (Stand: April 2023) zumindest zwei Generalmajore, sieben Brigadiere und 53 Oberste der russischen Streitkräfte gefallen sind. Sie wurden gezielt mit endphasengesteuerter Munition in ihren Gefechtsständen angegriffen.

Auch beim Einsatz von Drohnen ist die Ukraine gut aufgestellt. Täglich hat sie zwischen 3.500 und 4.000 Drohnen an der Frontlinie im Einsatz. Etwa die Hälfte der Flugzeit dient der Eigenaufklärung. Damit wird festgestellt, ob z. B. eigene Fahrzeuge so gut getarnt sind, dass russische Drohnen sie nicht aufklären können. Das war in Cherson ein Vorteil, wo das Gelände sehr offen und von Windschutzgürteln durchzogen ist. Dort befanden sich die ukrainischen Bereitstellungsräume, die aufgeklärt und danach mit Artillerie beschossen wurden.

Der Umstand, dass Drohnen auch Sprengkörper abwerfen können, zwingt beide Seiten, auch auf dem modernen Gefechtsfeld dazu, Luftbeobachter – wie im Zweiten Weltkrieg – einzuteilen. Das ist notwendig, um diese Gefahr zu erkennen und eine gewisse Vorwarnzeit zu haben. Die Folgerung ist, dass eine Infanteriekompanie in Zukunft nur dann in den Einsatz gehen kann, wenn sie über organische Drohnenabwehr verfügt, da sie sonst nicht mehr auf dem Gefechtsfeld bestehen kann.

Consult, Command and Control

Die ukrainische Armee verwendet, im Gegensatz zur Befehlstaktik, die Auftragstaktik. Diese wurde ihr in den letzten acht Jahren im Zuge westlicher Military Assistence nähergebracht. Diese ermöglicht eine rasche und flexible Führung eigener Kräfte auf dem Gefechtsfeld, hat aber die Schwäche, dass sie nur in Kombination mit Starlink funktioniert. Die Russen verwenden die Befehlstaktik. Wenn sie sich zu einem Befehl durchringen, können sie diesen jedoch rasch und nachhaltig umsetzen. Ein Beispiel dafür ist Cherson, das „russische Dünkirchen“, wo sie in kurzer Zeit starke Kräfte abziehen konnten.

Die russische Hierarchie ist ein System mit einem Zaren und mehrerer Bojaren, in dem jeder eine fixe Rolle hat. Wenn ein Bojar zu stark wird, verstößt ihn der Zar, bevor er ihm gefährlich werden kann. Ein historisches Beispiel ist der sowjetische Marschall Schukow, der einflussreichste General der Roten Armee. Er wurde Stalin zu gefährlich und plötzlich als „Plünderer von Berlin“ stigmatisiert und mit anderen Intrigen auf das Abstellgleis gestellt. Ein aktuelles Beispiel ist Sergei Wladimirowitsch Surowikin, der russische Kommandeur, der Putin „zu groß“ wurde. Aus einer Machtperspektive heraus mag das richtig sein, für die Einsatzführung ist es jedoch ein Risiko die „guten Köpfe“ abzusetzen oder zur Untätigkeit zu verdammen.

 

Narrative im Informationskrieg

Der Ukraine-Krieg ist auch ein Informationskrieg. Das erste ukrainische Narrativ war: „Wir schaffen das!“ und „Es macht Sinn uns zu unterstützen“. Jedoch ist es wichtig, dass die Zielgruppe, die Gesellschaften im Westen, versteht, dass die Ukraine das nicht alleine, sondern nur mit Unterstützung schaffen kann. Das Center of Gravity der Ukraine ist die Unterstützung des Westens, wenn diese versiegt, können sie den Krieg nicht weiterführen. Deshalb versuchen sie auch die Narrative hinsichtlich der russischen Kriegsführung zu ändern. Am Beginn des Krieges wurde die russische Luftwaffe als unfähig hingestellt. Später musste man erklären, wie sie es dennoch schaffen, die kritische Infrastruktur der Ukraine mit strategischen Bombern und Marschflugkörpern nachhaltig zu treffen. Damit verbunden war die Aufforderung, dass sie westliche Unterstützung zur Fliegerabwehr benötigen.

Es nützt der Ukraine nicht, wenn man die Russen im Westen lächerlich macht. Man muss sie ernst nehmen und verstehen, dass dieser Krieg für die Ukraine nur dann zu gewinnen ist, wenn sie uneingeschränkt – mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln – unterstützt wird. Ein „paar Panzer“ zu liefern und zu hoffen, dass sich das dennoch irgendwie ausgeht, ist naiv. So sieht das auch U.S.-General Milley. Er weist immer wieder daraufhin, dass die Ukraine massiv unterstützt werden muss, da sie diesen Krieg sonst nicht gewinnen kann. Ähnliche Stimmen kommen aus dem Baltikum. Auch sie weisen darauf hin, dass die Situation ernst ist und nicht mit einem Schulterzucken zu erledigen ist.

Ein Beispiel für die militärische Potenz Russlands ist der bisherige Einsatz von Marschflugkörpern, ballistischen Raketen und (iranischen) Drohnen. Am Beginn des Krieges haben die Russen ca. 530 davon eingesetzt, so viele wie die US-Streitkräfte 2003 im Irak. Viele Experten dachten, dass damit ihre Lager weitgehend erschöpft sein würden. Das war falsch. Im Juni lag die Zahl bei 2.700, im August bei 3.800, im November bei 4.700 und aktuell (Stand: April 2023) liegt sie bei mehr als 5.300. Das gab es so noch nie in der Kriegsgeschichte. Die Ukraine behauptet, dass sie bisher etwa ca. 900 dieser Flugkörper abgeschossen hat. Das bedeutet jedoch, dass 4.400 irgendein Ziel getroffen haben.

Aktuell dürften die russischen Arsenale aber tatsächlich leer werden, wie die Aufdrucke auf Trümmern von Kampfmitteln oder die missbräuchliche Verwendung etwa von Boden-Luft-Raketen oder von Anti-Schiffsraketen als Boden-Boden-Raketen verraten. Das ist auch ein Grund warum es immer wieder Fehltreffer gibt, da diese Wirkmittel für einen anderen Zweck bzw. für andere Ziele konzipiert wurden. Die Russen haben es jedoch geschafft, eine Anschlussversorgung aufzubauen, etwa mit dem Iran. Hier eröffnet sich ein weiterer blinder Fleck des Westens: der Iran, der unter strengsten Sanktionen leidet, konnte trotzdem eine Drohnen-Supermacht werden. Genau diese Anschlussversorgung ist die große Gefahr für die Ukraine und ein strategischer Vorteil für Russland, das – etwa mit Dreifachschichten in Panzerwerken – verdeckt bereits in der Kriegswirtschaft angekommen ist. Die CIA hat nicht durch Zufall erklärt, dass die Chinesen im Hintergrund überlegen würden Russland zu unterstützen, was sie teilweise schon tun. Wie sonst könnten sich die Russen darüber beschweren, dass chinesische Chips nicht wie gewünscht funktionieren und sie bessere liefern sollen?

Der Ukraine-Krieg hat auch eine geopolitische Dimension, die sich für die Gesellschaften des Westens in ihrer Tragweite kaum erschließt. Russland, China oder Indien begnügen sich nicht mehr mit einer untergeordneten Rolle auf der Weltbühne. So hat der indische Außenminister klar zum Ausdruck gebracht, dass der Ukraine-Krieg ein Problem Europas sei, aber keines für Indien. Im Gegenteil bietet er die Möglichkeit, russisches Öl billig zu kaufen, um dieses dann – auch an den Westen – zum dreifachen Preis zu verkaufen. In China gab es beim letzten Parteitag der Kommunistischen Partei eine abschließende Presseerklärung des russischen und des chinesischen Außenministers. Die Botschaft war, dass niemand das Voranschreiten dieser beiden Völker aufhalten könne und die Einigkeit des russischen Volkes nicht in Frage zu stellen wäre.

In diesem Zusammenhang muss man selbstkritisch feststellen, dass im Westen weitgehend die Ernsthaftigkeit fehlt, sich vertieft mit der Situation in der Ukraine auseinanderzusetzen oder die damit verbundenen geopolitischen Implikationen zu erfassen. Während der Westen darüber diskutiert, ob die ukrainischen Streitkräfte stärker sind als die russischen, macht man in Russland alles, damit an der Heimatfront nicht der Eindruck eigener Unfähigkeit entsteht. Zu diesem Zweck gibt es eine Reihe von Medienformaten, die permanent auf die eigene Bevölkerung wirken, aber auch Richtung Westen. Die Russen erwähnen nicht, dass sie die Ukraine angegriffen haben. Ihre Botschaften sind: „Der Westen greift Russland an!“, „Es ist ein Überlebenskampf des russischen Volkes – ein Großer Vaterländischer Krieg 2.0“, „Es geht um alles!“, „Wir kämpften, wie damals die Großeltern, gegen die Faschisten!“, „Wir müssen zusammenstehen!“, aber auch „Wir brauchen ein wenig Zeit, dann werden wir es schaffen, egal wie groß die Verluste sind!“, oder „Denkt immer an den Zweiten Weltkrieg!“ Auf vielen russischen Panzern ist ein kyrillisches „Z“, dessen wahre Bedeutung unklar ist. Eine mögliche Erklärung ist Zashchita (Verteidigung), was zeigt, wie das offizielle Russland den Ukraine-Krieg interpretiert.

Beide Seiten sind in einem verheerenden Abnützungskrieg gefangen, der für beide enorme Verluste bedeutet. Die Ukraine muss jeden Meter Boden schwer verteidigen, auch weil das der politische Wille ist. Viele Städte sind Festungen mit einem hohen symbolischen Charakter. Das gilt für Kiew am Beginn des Krieges ebenso, wie aktuell für Bachmut. Das Schlimmste, das passieren könnte, wäre nicht nur die Einnahme der Stadt, sondern tausende ukrainische Gefangene. Diese würden jene Bilder liefern, die Moskau benötigt, um die Botschaft: „Wir müssen durchhalten, dann werden wir das schaffen!“, zu unterstreichen. Der Fall von Städten wie Mariupol oder Bachmut könnte aber auch für die Ukraine langfristig eine verheerende psychologische Wirkung haben.

Symmetrie vs. Assymetrie

Wenn man die westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine betrachtet, kann man nach mehr als einem Jahr des Krieges einen Trend feststellen:  Die Ukraine bekommt was sie benötigt, um den Abwehrkampf gegen die Russen führen zu können, aber nicht mehr. Wann immer die Russen in der Lage sind aus der symmetrischen Situation eine asymmetrische zu machen, erhalten die Ukrainer lediglich jene Unterstützung, um die Symmetrie wiederherzustellen.

Deshalb bekommt die Ukraine nur 20 HIMARS-Systeme und die Option auf 18 weitere in den nächsten zwei Jahren, aber nicht 50 oder 100, die aus militärischer Sicht notwendig wären. Deshalb erhält sie (bisher) keine Kampfflugzeuge, obwohl die ukrainische Luftwaffe sie dringend benötigen würde, auch im Hinblick auf zukünftige Offensiven. Aus demselben Grund werden keine Boden-Boden-Raketen mit 300 km Reichweite geliefert, wenngleich – auch nachdem sich die Situation im Bachmut zugespitzt hat – Boden-Boden- Raketen mit einer Reichweite von 160 km geliefert werden. Aber nicht nur das. Ballistische Raketen, -Marschflugkörper und (iranische) Drohnen treffen noch immer ihre Ziele, weil die russische Satellitennavigation funktioniert.

Der Hintergrund all dieser Vorgänge ist die nukleare Bewaffnung Russlands. Man versucht ihnen zu verdeutlichen, dass es keinen Sinn macht immer wieder anzurennen, weil man immer wieder den Ausgleich schaffen wird. Gleichzeitig möchte man die Russen nicht in die Enge treiben, damit sie keine irrationale Handlung setzen.

Dieser Krieg wird nicht so schnell zu Ende sein, weil man warten muss, bis die Russen von selbst einsehen, dass sie es nicht schaffen. Das wird aber noch lange dauern, wenn es keine Revolution gibt, wie im Jahr 1917 oder ähnliches. Den meisten Russen, vor allem jenen in St. Petersburg oder Moskau geht es aber relativ gut – dort ist der Krieg noch nicht angekommen. Hinter dem Ural, von wo die Masse der russischen Soldaten kommt, ist die Situation anders. Dieser Raum spielt jedoch eine untergeordnete Rolle im Staat, weshalb von dort keine Revolution ausgehen wird. Die Opposition, die in den westlichen Medien häufig thematisiert wird, präsentiert jedoch – auch das muss man sich eingestehen – nicht die Meinung der Masse der russischen Bevölkerung.
 

Aktuelle Entwicklungen

Die Russen versuchen ihre bisherigen Schwächen sukzessive auszumerzen, etwa dass sie diesen Krieg mit zu wenig Soldaten begannen, was das Resultat einer völligen Fehleinschätzung war. Diesen Irrtum versuchen sie nun durch die Mobilisierung auszugleichen. Ein Angreifer benötigt gegenüber dem Verteidiger eine mindestens dreifache Überlegenheit, wenn der Verteidiger eingegraben ist, eine vierfache und im urbanen Umfeld sogar eine achtfache, um einen Erfolg erzielen zu können. Die Russen haben zurzeit ca. 400.000 Soldaten im Einsatz, doppelt so viele wie am Beginn des Krieges, aber im Prinzip zu wenige für einen Angriffskrieg. Bei den verfügbaren mechanisierten Kräften sieht die Situation jedoch anders aus, dort sind die Russen deutlich im Vorteil.

Die Ukraine versucht auf der operativen Ebene Kräfte zusammenzuführen, um in die schon lange ankündigte Offensive gehen zu können. Nach den Offensiven bei Kiew, Charkiw und bei Cherson sollte Richtung Melitopol und dem Asowschen Meer angegiffen werden. Die operative Absicht wäre, die russischen Kräfte auf der Krim in Saporischschja und Cherson zu isolieren und strategisch einen Zustand zu schaffen, bei dem die Russen in Bachmut angreifen können, da die Versorgung der isolierten Teile für sie dann vorrangig wäre. (Anmerkung: Am 4. Juni begann die ukrainische Frühjahrsoffensive).

Russland hat das erkannt und mit den 30.000 aus Cherson abgezogenen Soldaten das Gelände verstärkt sowie mit der Wagner-Gruppe bei Bachmut enormen Druck ausgeübt. Die Ukrainer haben ein Bataillon nach dem anderen dorthin gesandt, bis schließlich keines mehr für die Offensive da war – entweder sind sie dort verblutet oder kämpfen dort noch immer. Mit den neu aufzustellenden Brigaden, die zwölf neuen Brigaden der Offensive, möchte man zwei korpsstarke Elemente bilden, um noch einmal Richtung Süden vorzustoßen bzw. in den Raum Kremina. Dort ist eine wichtige Landverbindung, die man unterbrechen möchte.

Ob die russische Offensive im Winter tatsächlich stattgefunden hat, ist schwer zu sagen. Vermutlich hat sie das und verfolgt den Zweck, immer mehr ukrainische Kräfte an die Front zu holen, und diese innerhalb der Reichweite der eigenen Artillerie zu vernichten. Das geschah bereits in Pobasna, wo der Kessel für mehrere Wochen offenblieb, um die ukrainischen Kräfte vor die Rohre der russischen Artillerie zu locken.

Auf der strategischen Ebene versucht sich die Ukraine zu wehren und jene Waffenträger anzugreifen, die schwere Schäden verursachen. Ein Beispiel ist der Angriff auf den Luftwaffenstützpunkt Engels, von wo aus schwere Bomber starten. Russland hat die Bomber nun um 4.000 Kilometer Richtung Osten verlegt. Sie fliegen nun länger, sind aber unerreichbar für die Ukraine. Ein anderes Beispiel ist Sewastopol, wo es den kriegsgeschichtlich interessanten Versuch gab, lediglich mit unbemannten Systemen anzugreifen. Seit April 2023 gibt es auch wiederholte Versuche mit Drohnen in Russland wirksam zu werden. Die Ukraine hat gesagt, dass diese nicht von ihnen kommen, sondern aus Russland selbst – von Partisanen, die bereits Angriffe durchführen würden. Man muss das jedoch als Versuch betrachten, einerseits die strategische Infrastruktur zu treffen, andererseits eine symbolische Wirkung zu erzielen. Dabei kommt auch das Element des Informationskrieges zu tragen. Wenn eine Drohne knapp vor oder gar in Moskau abstürzt, kann man beispielsweise zeigen, dass die russische Fliegerabwehr nicht funktioniert. Das sind aber nur Nadelstiche, wenngleich mit hoher Symbolik.
 

Fazit

Die russischen Streitkräfte haben es zum zweiten Mal geschafft, der Ukraine eine Abnutzungskriegsführung mit einem Stellungskrieg aufzuzwingen. Das trifft die Ukraine, neben der skizzierten Problematik hinsichlich ihren Ressourcen, auch weil sie die bewegliche Kriegsführung besser beherrschen als die statische.

Die Situation erinnert an den Ersten Weltkrieg, wenngleich mit anderen Rahmenbedingungen. 1914 hat man in allen europäischen Hauptstädten – auch in Wien – gedacht: In ein paar Monaten ist der Krieg vorbei und wir kommen als Sieger zurück. Das war nicht der Fall und 1915 kam die Ernüchterung als das Kriegsministerium feststellen musste, dass eine Kriegswirtschaft notwendig ist und im großen Stil rekrutiert werden muss. In dieser Situation sind die kriegsführenden Parteien heute in der Ukraine. 1916 hat man die Fühler für einen Frieden ausgestreckt, 1918 war der Krieg aber erst zu Ende.

Am 4. Juni begann die ukrainische Frühjahrsoffensive. Sie stellt einen wichtigen Kulminationspunkt in diesem Krieg dar. Von ihrem weiteren Verlauf wird auch der weitere Kriegsverlauf abhängen.

Oberst dG Dr. Markus Reisner, PhD ist Leiter der Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie, dzt. Kommandant der Garde in Wien.

 

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