• Veröffentlichungsdatum : 17.08.2022

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Schwere Waffen für die Ukraine

Markus Reisner

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wendet sich seit Kriegsbeginn immer wieder an den Westen und fordert die Lieferung schwerer Waffen. Welche Waffensysteme wurden bisher geliefert und welche Wirkung konnten sie im Kampf gegen Russland erzielen?

Um einen bewaffneten Konflikt erfolgreich für sich zu entscheiden, müssen moderne Streitkräfte über verschiedene Fähigkeiten verfügen. Diese lassen sich in die Bereiche Vorbereitung, Projektion, Angriff, Schutz, Durchhaltevermögen, Führung und Aufklärung gliedern. Sieg oder Niederlage in einem Konflikt hängen von der Erfüllung dieser Fähigkeitsbereiche ab. Im Falle der ukrainischen Streitkräfte sind diese Fähigkeiten in den einzelnen Teilstreitkräften abgebildet.

Für die ukrainischen Streitkräfte haben derzeit jedoch vor allem folgende Bereiche besondere Bedeutung:

  • Führung;
  • Aufklärung;
  • Angriff.

Die ukrainischen Landstreitkräfte

Die ukrainischen Landstreitkräfte sind über das gesamte Staatsgebiet verteilt. Ihr Schwergewicht liegt jedoch im Osten bzw. Südosten der Ukraine, in der Region Donbass. Dort halten sie sich beispielsweise bei Charkiw, aber auch entlang der langen Frontlinie von Cherson bis Saporischschja auf, wo die Kämpfe gegen die russischen Streitkräfte stattfinden.

Zu Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 waren die ukrainischen Streitkräfte, hinsichtlich der materiellen Ausstattung, gut aufgestellt. Sie verfügten über knapp 2.400 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge, etwa 1.500 Artilleriegeschütze und Mörser sowie etwa 500 Mehrfachraketenwerfer. Diese Geräte befinden sich in verschiedenen Brigaden, wie Gebirgsbrigaden, motorisierten Brigaden, mechanisierten Brigaden, Panzerbrigaden oder Artilleriebrigaden. Diese Verbände sind die Kernelemente des Gefechtes. Am 24. Februar 2022 verfügte die Ukraine beispielsweise über zwei aktive Panzerbrigaden, vier in Reserve und ein selbstständiges Panzerbataillon. Damit diese Brigaden ihre Fähigkeiten entwickeln können, brauchen sie Unterstützungskräfte, wie die Fliegerabwehr.

Bisher konnten die ukrainischen Streitkräfte im Krieg gegen Russland eine Niederlage vermeiden. Das hat im Wesentlichen drei Gründe: die ukrainische Taktik, die Lieferung von Waffen ihrer westlichen Verbündeten (Panzerabwehrwaffen, Flugabwehrlenkwaffen) sowie die Übermittlung von Aufklärungsdaten seitens der USA und der NATO. Diese drei Bereiche stärkten die Führungs-, Aufklärungs- und Angriffsfähigkeiten wesentlich.
 

Bisherige Lieferung schwerer Waffen

Inwiefern hat die bisherige Lieferung schwerer Waffen dazu beigetragen, dass die ukrainischen Landstreitkräfte ihre Angriffsfähigkeit verbessern konnten? Die Ukraine erhielt bisher Kampfpanzer, Kampfschützenpanzer bzw. gepanzerte Transportfahrzeuge und Artilleriesysteme.

Panzer und gepanzerte Fahrzeuge

Tschechien, Polen und Bulgarien lieferten insgesamt knapp 250 Kampfpanzer des Typs T-72 an die Ukraine. Mit diesem System sind die ukrainischen Soldaten bereits vertraut. Mit dieser Anzahl an Kampfpanzern kann man den Kern zweier verminderter Panzerbrigaden bilden bzw. knapp vier Panzerbataillone ausstatten. Tschechien, Polen, die Niederlande und Litauen lieferten außerdem knapp 100 Kampfschützenpanzer oder gepanzerte Transportfahrzeuge.

Artilleriesysteme

Zusätzlich erhielten die ukrainischen Streitkräfte Artilleriesysteme (gezogene Geschütze und Selbstfahrlafetten), deren Bedeutung vor allem in den vergangenen Wochen hoch war. Estland und Bulgarien lieferten Systeme aus der Zeit des Kalten Krieges, Italien lieferte Systeme mit dem Kaliber 155 mm, Australien, die USA und Kanada lieferten das System M777. Insgesamt erhielt die Ukraine etwa 140 gezogene Geschütze, die Anzahl einer verminderten Artillerie-Brigade. Polen und Norwegen lieferten Selbstfahrlafetten (M-109-Derivate), genauso wie Tschechien (Dana, 2S1) und Frankreich (CAESAR). Die zwölf CAESAR-Systeme von Frankreich erwiesen sich auf dem Gefechtsfeld bisher als sehr potent, da sie eine hohe Reichweite haben.

Mehrfachraketenwerfer

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj fordert immer wieder die Lieferung von Mehrfachraketenwerfer-Systemen. Bisher erhielt die Ukraine knapp 20 Stück des tschechischen Systems RM-70 und ebenfalls knapp 20 Stück vom Typ BM-21. Beide Systeme verschießen Munition sowjetischer Provenienz aus der Zeit des Kalten Krieges. Außerdem wurden bis jetzt sechzehn HIMARS Mehrfachraketenwerfer geliefert. Hinzu kommen M270 Mehrfachraketenwerfer aus Deutschland und Großbritannien. Es stellt sich jedoch die Frage, ob diese geringe Stückzahl den gewünschten Effekt erzielen kann.

Warum ist die Artillerie so wichtig? Der Hintergrund ist, dass beide Seiten versuchen sich außerhalb der Reichweite der gegnerischen Geschütze zu bekämpfen. Die Lieferung der Panzerhaubitze 2000 oder der französischen CEASAR-Systeme machte es bereits möglich, dass ukrainische Truppen außerhalb der Reichweite russischer Geschütze wirksam wurden. Dennoch ist die russische Artillerie der ukrainischen noch bei weitem überlegen, beispielweise mit dem russischen System „Smertsch“ (70 km Reichweite).
 

Forderungen und Einsatz

Am 13. Juni 2022 forderte ein ukrainischer Regierungsberater via Twitter die Lieferung von über 1.000 Geschützen (gezogen und selbstfahrend), 300 Mehrfachraketenwerfern, über 500 Kampfpanzern und über 2.000 Kampfschützenpanzern bzw. gepanzerten Transportfahrzeugen. Wenn man diese Forderungen mit den bisherigen Lieferungen vergleicht, erkennt man, dass noch nicht viel erreicht wurde.

Abnützung

Die ukrainischen Streitkräfte haben momentan mit zwei Dilemmas zu kämpfen. Zum einen nützt Russland die Ukraine seit Kriegsbeginn laufend mit Luftangriffen ab. Der ukrainische Präsident erwähnte in einer seiner Ansprachen, dass bis jetzt mehr als 2.600 Marschflugkörper, aber auch ballistische taktische Raketen, eingesetzt wurden. Diese Zahl hat sich auf über 3.000 erhöht. Das führt zu dem Problem, dass dieses Arsenal an Marschflugkörpern und taktischen Raketen bekämpft werden muss. Die bis jetzt durchgeführten Waffenlieferungen führten zwar dazu, dass die Bereiche Führungsfähigkeit, Aufklärung aber auch Angriffsfähigkeit gestärkt wurden. Andere wesentliche Fähigkeiten, wie der Bereich Schutz, jedoch noch nicht.

Um russische Luftangriffe abzuwehren, würden die ukrainischen Streitkräfte potente Fliegerabwehrsysteme, wie das System S300 benötigen. Die Herausforderung ist, dass die gelieferten westlichen Waffensysteme zwar in den Einsatz gebracht werden können, dort besteht jedoch die Gefahr, dass sie von russischen Streitkräften aufgeklärt und angegriffen zu werden. Außerdem könnten die Waffensysteme auch in die Hände russischer Soldaten fallen.

Einsatz der Waffensysteme

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Was soll mit den importierten Waffensystemen geschehen? Soll gewartet werden, bis ein geschlossener Einsatz möglich ist oder sollen diese Systeme sukzessive an die Front gebracht und dort eingesetzt werden? Die Wichtigkeit dieser Frage wird greifbar, wenn man die Stückzahl der angelieferten Systeme betrachtet. Von der deutschen Panzerhaubitze 2000 wurden bis jetzt fünfzehn Stück geliefert. Von diesen sind nach deutschen Angaben nur mehr fünf im Einsatz. Der Rest befindet sich in Reparatur oder ist gar zerstört. Selbst von Systemen alter Bauart wie der tschechischen 2S1 wurden, wie bereits erwähnt, nur knapp 20 Stück geliefert.

Momentan sieht es danach aus, dass die gelieferten Waffensysteme stückweise an die Front in den Einsatz gehen. Damit stellt sich die Frage, ob sie dort ihre Wirkung tatsächlich entfalten können. Soll man ein Brigade-Äquivalent zusammenfassen und dann angreifen oder die Elemente, die hereinkommen, Stück für Stück an die Front verlegen?
 

Fazit

Die Lieferung von schweren Waffensystemen bringt eine ganze Reihe von Herausforderungen mit sich. Dazu gehören nicht nur der Schutz von Lieferungen gegen russische Luftangriffe oder die Entscheidung, ob die Geräte Stück für Stück oder geschlossen in den Einsatz gehen sollen.

Vor allem stellt sich die Frage der Ausbildung, da die besten Waffen wenig nützen, wenn die ukrainischen Soldaten sie nicht richtig bedienen und einsetzen können. Zusätzlich zur Ausbildung und deren Qualität ist auch die Frage zu stellen, ob die richtige Munition in der richtigen Anzahl verfügbar ist, um die Herausforderungen der ukrainischen Streitkräfte bewerkstelligen zu können. Hinzu kommen die Herausforderungen der Instandsetzung.

Oberst dG Dr. Markus Reisner, PhD ist Leiter der Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie.

 

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