• Veröffentlichungsdatum : 08.09.2023
  • – Letztes Update : 12.09.2023

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Die gescheiterte Option der "kooperativen Neutralität"

Ernest F. Enzelsberger

Der Krieg in der Ukraine fordert die Schweizer Außenpolitik. Er löst innenpolitisch eine Diskussion über den Wert und den Inhalt der Neutralität au, nachdem die Schweiz am 28. Februar 2022 die EU-Sanktionen gegen Russland übernommen hatte. Die Schweizer Neutralität ist bewaffnet, dauernd und selbstgewählt.

Umfragen zeigen, dass selten zuvor die Neutralität als Selbstverständlichkeit von einer größeren Gruppe von Schweizern kritisch hinterfragt wurde. Der Präsident der Schweizerischen Offiziersgesellschaft (SOG), Oberst der Miliz Dominik Knill, der beispielweise meint: „Die immerwährende Neutralität schränkt den Handlungsspielraum ein. Eine Abkehr, hin zur gewöhnlichen Neutralität, sollte thematisiert werden. Diese würde der Schweiz gestatten, grundsätzlich neutral zu sein, aber je nach Konfliktform darauf verzichten zu können. Eine militärische Weisheit besagt: Je ungewisser und komplexer die Entwicklung, desto wichtiger die Handlungsfreiheit.“ Rechtlich gilt weiterhin die immerwährende bewaffnete Neutralität, wie sie die Pariser Konferenz 1815 anerkannte und 2002 bei der Aufnahme der Schweiz in die UNO bestätigt wurde.

Mitte März 2022 beauftragte der Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), der freisinnige Tessiner Politiker Ignazio Cassis, sein Departement, bis zum Sommer einen „Neutralitätsbericht“ zu schreiben. Der Bericht sollte die Grundlage für eine neue politische Debatte über die Neutralität schaffen. Er stützte sich auf eine im März 2022 veröffentlichte Broschüre über die Neutralität, die ein besseres Verständnis des Themas ermöglichen sollte. Das EDA hatte bei der Ausarbeitung des Berichtes die Führung übernommen und arbeitete eng mit den anderen Departementen zusammen. Das Dokument sollte vor allem jene Faktoren aufzeigen, die der Bundesrat bei seinen Entscheidungen zu berücksichtigen hat. 

Die Rede des Bundespräsidenten

Am 23. Mai 2022 überraschte Ignazio Cassis, der 2022 auch das Amt des Schweizer Bundespräsidenten innehatte, in seiner Eröffnungsrede beim Weltwirtschaftsforum in Davos mit einer neuen Wortschöpfung, der „kooperativen Neutralität“. Der Begriff war zwar neu, entspricht aber durchaus der Politik der Schweiz, ihren außenpolitischen Grundsatz immer wieder neu zu gestalten. Dazu führte Ignazio Cassis aus: „Gegenüber der brachialen Verletzung fundamentaler Werte, die auch unsere Werte sind, gibt es grundsätzlich keine neutrale Haltung. Denn diese Werte stehen für die Freiheit schlechthin. Passivität toleriert den Rechtsbruch und kann dem Aggressor in die Hände spielen. Deshalb steht die Schweiz mit den Ländern zusammen, die diesem Angriff (gemeint ist der Krieg in der Ukraine; Anm.) auf die Grundfesten der Demokratie nicht tatenlos zuschauen. Diese kooperative Neutralität entspricht der Schweiz.

Kooperativ als neutrales Land, das sich für die Stärkung eigener und gemeinsamer Grundwerte einsetzt. Kooperativ als neutrales Land, das sich für die Sicherung eigener und gemeinsamer Friedensbemühungen einsetzt. Kooperativ als neutrales Land, das sich für eine regelbasierte und stabile Sicherheitsarchitektur einsetzt, die nur multilateral entstehen kann.

Neutralität heißt nicht, abseits zu stehen. Der staatspolitische Zwilling unserer Neutralität war und ist denn auch die Solidarität. Die Neutralität der Schweiz war nie starr, sondern wurde stets weiterentwickelt. Denn die Welt steht nie still. Konflikte und ihre Auswirkungen sind internationaler geworden. ,Gemeinsam‘ heißt, dass das Denken in größeren Räumen wichtiger wird. Wenn unser demokratisches Umfeld bedroht ist und völkerrechtlich vereinbarte Werte wanken, ist auch die Schweiz bedroht. Das erleben wir jetzt.

Seine Grenzen findet der Handlungsspielraum im Neutralitätsrecht. Auf der Basis des Haager Abkommens gelten für die Schweiz die Grundsätze, keine Teilnahme an Kriegen, internationale Zusammenarbeit – aber keine Mitgliedschaft in militärischen Allianzen –, keine Truppen und Waffenlieferungen für Kriegsparteien, keine Durchgangsrechte.“

Einen Tag später präzisierte Ignazio Cassis laut einer Aussendung des EDA: „Ich habe gestern in meiner Eröffnungsrede die ,kooperative Neutralität‘ genannt. Was meine ich damit? Unsere Neutralität ist kein starres Gebilde, sondern muss sich den Realitäten anpassen. Neutralität hat keinen Selbstzweck. Der Krieg in der Ukraine hat uns gezeigt, dass wir unsere Ziele nur gemeinsam mit anderen erreichen können.

Wir stehen zusammen, wenn es um die Verteidigung unserer Werte geht. Wir stehen zusammen, wenn es um den Erhalt und die Wiederherstellung des Friedens geht. Und wir kooperieren, um gemeinsam mit anderen Ländern Regeln zu gestalten, die ein friedliches Zusammenleben ermöglichen.

In einem Interview, das am 25. Juni 2022 in den Zeitungen ESH, La Liberté und Journal du Jura veröffentlicht worden war, sagte Ignazio Cassis: „Wir müssen die Neutralität nicht wiederaufbauen, sondern weiterentwickeln, damit sie glaubwürdig bleibt und in Ländern, die die gleichen Werte wie die Schweiz teilen, anerkannt werde.“ Dies sei eine langfristige Aufgabe. Die Anpassung solle evolutiv und nicht als Zäsur erfolgen. 

Der Neutralitätsbericht

Bereits im Juli 2022 zitierten verschiedene Medien erstmals aus dem Neutralitätsbericht, den das EDA verfasst hatte. „Der Ukraine-Krieg beschleunigt den Übergang in eine neue Epoche“, wird darin festgestellt. Nach einer gründlichen Analyse der neuen Lage kommen die Autoren zu dem Schluss, dass die geltende Neutralitätskonzeption angepasst werden müsse. Der Bericht sollte nach dem ursprünglichen Zeitplan Mitte August in den Bundesrat kommen, wobei der Ministeriumsantrag vorsah, dass die Regierung dann als weitaus beste Option die „kooperative Neutralität“ ausruft. 

Der Berichtsentwurf des EDA reihte die Idee der „kooperativen Neutralität“ in den Kontext von fünf Optionen für die Weiterentwicklung der Neutralität ein, die es für eine zeitgemäße Neutralitätskonzeption überprüfte. Diese sind: 

  • die integrale Neutralität; 
  • der Status quo; 
  • die kooperative Neutralität; 
  • die Ad-hoc-Neutralität;  
  • der Verzicht auf die Neutralität.

Die „kooperative Neutralität“ ist eine Weiterentwicklung des Status quo. Im Entwurf des EDA heißt es dazu, „dass in der heutigen Welt die Unabhängigkeit und Sicherheit der Schweiz nur gemeinsam mit anderen erreicht werden kann.“ 

Das Neutralitätsrecht solle auch künftig eingehalten, aber womöglich zugunsten der Kooperation ausgelegt werden. Der neutralitätspolitische Spielraum soll vor allem für die Kooperation in der Sicherheitspolitik genutzt werden. Hinter der kooperativen Neutralität steht der Gedanke, dass Neutralität zu einer Stärkung und nicht zu einer Schwächung des Multilateralismus führen sollte.   

Laut der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vom 8. September 2022 wollte die damals neue Cassis-Doktrin eine engere sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit der NATO und der EU ermöglichen, etwa mit gemeinsamen Militärübungen. Derzeit ist die Schweiz in der NATO-Partnerschaft „Partnership for Peace“ (PfP) aktiv. Damit zeige das Land die „Bereitschaft, mehr Mitverantwortung für die Sicherheit in Europa zu tragen“. Gleichzeitig sollte die bewaffnete und dauernde Neutralität der Schweiz bewahrt werden. Diesen Punkt sieht der Schweizer Militärpublizist Bruno Lezzi skeptisch. Die schwergewichtige Ausrichtung des Bündnisses auf allfällige militärische Konfrontationen mit Russland und China stelle für die Schweiz schon jetzt neutralitätsrechtlich eine sehr hohe Hürde für neue Kooperationsformen dar. Keinesfalls dürfe die Illusion genährt werden, das Neutralitätsrecht erlaube eine Verteidigungskooperation, die bald einen erheblichen Sicherheitsgewinn brächte. Bruno Lezzi sieht die Schweiz insgesamt sicherheitspolitisch in der Zwickmühle.

Bei der Übernahme von Sanktionen sollte sich nichts ändern. Der direkte Export von Kriegsmaterial bleibt verboten. Aber laut Ignazio Cassis waren Anpassungen des Kriegsmaterialgesetzes vorgesehen, um die Wiederausfuhrregeln für Partnerländer zu lockern. Dies sollte ermöglichen, dass Länder wie Deutschland und Dänemark Schweizer Waffen an die Ukraine weitergeben, die sie in Friedenszeiten beschafft hatten, beispielsweise den Radschützenpanzer „Piranha“. 2022 hat der Bund entsprechende Gesuche der beiden Länder abgelehnt. Wenn die Schweiz in Zukunft Waffen an bestimmte Länder liefern möchte, sollte sie laut EDA prüfen, welchen Ermessensspielraum sie im Hinblick auf die Neutralität hat, ohne gegen das Neutralitätsrecht zu verstoßen oder die Glaubwürdigkeit zu verlieren, die notwendig ist, um als neutraler Staat wahrgenommen zu werden. 

Wie es weiter heißt, sei eine Kooperation mit „Wertepartnern“ derzeit nur beschränkt möglich. Dabei erwarteten diese ein Bekenntnis der Schweiz zur Wertegemeinschaft und zur internationalen Ordnung, dem auch Taten folgen.

Reaktionen 

Am 7. September 2022 wurde schließlich der Neutralitätsbericht im Bundesrat behandelt und von diesem zurückgewiesen, was für Außenminister Ignazio Cassis eine schwere politische Niederlage bedeutete. Der Bericht selbst wurde geheim gehalten. Namentlich fand das Konzept der „kooperativen Neutralität“ keinen Anklang. Die NZZ titelte am 8. September 2022: „Cassis wird neutralisiert. Nach großen Ankündigungen ist der Bundespräsident mit seinem Neutralitätsbericht im Bundesrat aufgelaufen.“ Ignazio Cassis musste sich auch fragen lassen, ob es wirklich klug war, während eines Krieges in Europa die Neutralität neu zu definieren. Zuletzt sei er praktisch isoliert gewesen und musste mit ansehen, wie sein Vorhaben scheiterte. Außerdem sitzt die Schweiz seit Oktober als Beobachterin im UNO-Sicherheitsrat und ab Jänner 2023 als vollwertiges Mitglied im Rat. Das sei nicht der Moment, um die Neutralität zu reformieren, auch wenn sich an der Rolle der Schweiz letztlich nichts ändert. Die Bestrebungen von Ignazio Cassis, die Schweizer Neutralität neu zu denken und vorwärtszubringen, waren umsonst. Er musste seinen Berichtsentwurf für eine Veröffentlichung im Herbst anpassen. 

In der amtlichen Mitteilung des EDA vom 7. September 2022 hieß es dazu nur: „Der Bundesrat ist der Ansicht, dass die Neutralitätspolitik, wie sie seit dem Neutralitätsbericht vom 29. November 1993 definiert und praktiziert wurde, ihre Gültigkeit behält. Sie lässt der Schweiz einen hinreichend großen Handlungsspielraum, um auf die Ereignisse in Europa seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges zu reagieren. Die Entscheide, die der Bundesrat seit Ausbruch des Ukraine-Konfliktes getroffen hat, wie zum Beispiel die Übernahme der Sanktionen der EU gegen Russland, sind mit der Neutralitätspolitik der Schweiz vereinbar. Ausgehend von diesem Standpunkt soll der Entwurf des Neutralitätsberichtes angepasst und im Herbst vom Bundesrat verabschiedet werden. Der Bundesrat wird die Auswirkungen des Konfliktes auf die internationalen Beziehungen weiter analysieren und nächstes Jahr im Rahmen der außenpolitischen Strategie eine Auslegeordnung vornehmen, die auch die Neutralitätspolitik der Schweiz abdeckt.“  

Das heutige Verständnis der Schweizer Neutralität basiert noch immer auf dem Neutralitätsbericht von 1993. Er entstand nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Glauben an eine geopolitische Entwicklung Richtung Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Für die Professorin für Völkerrecht an der Universität Zürich Helen Keller markiert der Neutralitätsbericht 1993 die letzte große Zäsur. Darin revidierte der Bundesrat unter dem Eindruck des Zweiten Golf-Krieges von 1990 seine Neutralitätspolitik zugunsten einer Öffnung gegenüber der internationalen Gemeinschaft. Er machte damit den Weg für die Beteiligung an internationalen Sanktionen frei. Insbesondere eine Beteiligung an internationalen Wirtschaftssanktionen, die außerhalb der UNO, allen voran von der EU beschlossen werden, sollte in Zukunft möglich sein. Auch ein allfälliger Beitritt der Schweiz zur UNO, der 2002 erfolgte, wurde in diesem Bericht thematisiert. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass auch ein EU-Beitritt mit der schweizerischen Neutralität vereinbar wäre.

Am 26. Oktober 2022 hat der Bundesrat nach langem Zögern den Bericht zur Neutralität „Klarheit und Orientierung in der Neutralitätspolitik“ verabschiedet. Er kommt darin laut EDA erwartungsgemäß zu dem Schluss, dass die aktuelle Neutralitätspraxis genügend Handlungsspielraum bietet, um die Neutralität im heutigen internationalen Kontext als Instrument der Schweizer Sicherheits- und Außenpolitik zu nutzen. Daran konnten auch die letzten 30 Jahre und der russische Angriff auf die Ukraine nichts ändern. Daher will der Bundesrat die 1993 letztmals festgehalte und seither weitergeführte Praxis der Neutralität beibehalten. Es bleibt also alles beim Alten. 

Einstellung der Schweizer zur Neutralität

Laut der Studie „Sicherheit“ der Militärakademie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich und dem Center for Security Studies (CSS) geht im Frühjahr 2022 nach dem Beginn des Ukraine-Krieges eine Mehrheit von 58 Prozent der Schweizer davon aus, dass es künftig zu mehr kriegerischen Konflikten in Europa kommen wird. Ein Beitritt der Schweiz zur NATO wird von einem Viertel der Bevölkerung gefordert. Die Bereitschaft zu einer Annäherung der Schweiz an die NATO ist signifikant gestiegen. Derzeit können sich 52 Prozent – das sind gegenüber Jänner 2021 plus sieben Prozentpunkte – eine engere Kooperation vorstellen. Der Stellenwert der Neutralität als Schutz vor internationalen Konflikten sank um elf Prozentpunkte auf 58 Prozent. Ein Drittel der stimmberechtigten Bevölkerung ist der Meinung, dass der Beitritt zu einem europäischen Verteidigungsbündnis mehr Sicherheit bringen würde als die Beibehaltung der Neutralität. In Zahlen sind das 35 Prozent oder plus zwölf Prozentpunkte gegenüber dem Jänner 2021. Insgesamt ist die Zustimmung zur Schweizer Neutralität von 97 auf 89 Prozent gesunken. 

Auf einen Blick

Der Ukraine-Krieg hat in der Schweiz die Diskussion über die Neutralität neu entfacht. Mit dem Modell der „kooperativen Neutralität“ setzte der Schweizer Bundespräsident Ignazio Cassis einen neuen Impuls. Trotz des Wandels hin zu einer positiveren Einstellung der Schweizer Bevölkerung zur NATO und zu einem europäischen Verteidigungsbündnis war der Vorstoß innenpolitisch ungeschickt vorbereitet. Auch wenn der Neutralitätsbericht vom Bundesrat abgelehnt wurde, bleibt die Diskussion über die Neuinterpretation der Neutralität in der Schweiz aufrecht.   

Hauptmann aD Prof. Ing. Ernest F. Enzelsberger MBA; Präsident der Gesellschaft für Landesverteidigung und Sicherheitspolitik in Vorarlberg, Militärexperte für Publizistik und Massenmedien.


Dieser Artikel erschien im TRUPPENDIENST.

Zur Ausgabe 2/2023 (391).


 

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