• Veröffentlichungsdatum : 03.05.2023
  • – Letztes Update : 28.04.2023

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Verboten tödlich

Erwin Richter

Chemische Waffen sind eigentlich streng reglementiert. Trotzdem wurden sie unter anderem 2018 im syrischen Bürgerkrieg eingesetzt. Die Liste der Kampfstoffe musste 2019 sogar um die Nowitschok-Gruppe erweitert werden. Die kostengünstige Produktion und die Umgehung der Abkommen mit Multikomponentenwaffen oder Midspectrum Agents verhindern nach wie vor deren Eindämmung.

Einst wurden chemische Kampfstoffe als Waffe zur Vernichtung gegnerischer Streitkräfte konzipiert und aufgrund der geringen Produktionskosten als „Waffen des armen Mannes“ bezeichnet. In jüngster Vergangenheit wurden sie eher für Attentate und als Terror- und Bürgerkriegswaffe eingesetzt. Der forensische Nachweis ist manchmal schwierig. Im Frühjahr 2022 berichtete das ukrainische Asow-Regiment aus dem belagerten Mariupol, dass eine Drohne unbekannte Substanzen versprüht hätte. Dies hätte zu Atemnot und Ataxie (Bewegungsstörung; Anm.) geführt. Bestätigt werden konnte dies bislang nicht. Anders war die Situation im syrischen Bürgerkrieg, in dem die unabhängige Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) den Einsatz von chemischen Kampfstoffen bestätigte. Die Verwendung von Nervenkampfstoffen konnte auch bei einigen Attentaten auf Einzelpersonen verifiziert werden. Diese Vorfälle verdeutlichen, dass chemische Waffen wieder eine Option sind und – wie es der Generaldirektor der OPCW, Fernando Arias, im November 2018 sinngemäß formulierte – das Chemiewaffenverbot „erheblich unter Druck setzen“. 

Definition und Kategorisierung

Der Ausdruck „chemische Waffen“ wird für folgende Gegenstände verwendet: 

  • toxische Chemikalien und ihre Vorprodukte mit Ausnahme derjenigen, die gemäß der Chemiewaffenkonvention (CWK) für nicht verbotene Zwecke bestimmt sind, solange diese nach Art und Menge mit solchen Zwecken vereinbar sind; 
  • Munition oder Geräte, die eigens dazu entworfen wurden, durch die toxischen Eigenschaften der Chemikalien den Tod oder Körperschäden herbeizuführen; 
  • jede Ausrüstung, die eigens dazu entworfen wurde, im unmittelbaren Zusammenhang mit Munition oder Geräten verwendet zu werden. 

Toxische Chemikalien

Eine „toxische Chemikalie“ ist jede Chemikalie, die durch ihre chemische Wirkung auf die Lebensvorgänge den Tod, eine vorübergehende Handlungsunfähigkeit oder einen Dauerschaden bei Mensch oder Tier herbeiführen kann. Dazu gehören alle derartigen Chemikalien, ungeachtet ihrer Herkunft oder der Art ihrer Produktion.  

Vorprodukt

„Vorprodukt“ (engl. Precursor) ist eine chemische Reaktionskomponente, die auf irgendeiner Stufe bei jeder Art von Produktion einer toxischen Chemikalie beteiligt ist. Dazu gehört jede Schlüsselkomponente eines binären oder Mehrkomponentensystems. Eine „Schlüsselkomponente“ ist ein Vorprodukt, das für die Bestimmung der toxischen Eigenschaften des Endproduktes maßgeblich verantwortlich ist und mit anderen Chemikalien im binären oder Mehrkomponentensystem schnell reagiert. 

Chemische Kampfstoffe

Chemische Kampfstoffe sind aufgrund ihrer militärischen Nutzbarkeit (Tödlichkeit, Toxizität, Lagerfähigkeit, Produktion etc.) eine Gruppe der chemischen Gefahrstoffe. Die Liste 1 der Chemiewaffenkonvention (CWK) regelt, was als chemischer Kampfstoff gilt. Zudem gibt es einige chemische Substanzen, die sowohl als Kampfstoff als auch für friedliche Zwecke (z. B. Blausäure, Phosgen bei industriellen Prozessen oder N-Lost zur medizinischen Krebstherapie) verwendet werden. 

Im erweiterten Sinn (nicht gemäß CWK; Anm.) werden auch Brand- (Napalm), Nebel- und Rauchstoffe sowie Entlaubungsmittel (Herbizide) und Nesselstoffe zu den chemischen Waffen gezählt. Chemische Waffen gehören zu den Massenvernichtungswaffen (MVW).

Einteilung der C-Kampfstoffe

Man kann chemische Kampfstoffe nach unterschiedlichen Aspekten unterteilen, wie

  • dem Aggregatzustand, z. B. fest, flüssig, gas- und aerosolförmig,
  • der allgemeinen Wirkung, z. B. verlustbringend (tödlich) und störend („incapacitating“),
  • dem Verhalten, z. B. flüchtig und sesshaft (Einsatzarten),
  • dem Eindringweg, z. B. Atem- und/oder Kontaktgifte (Kontaktgifte wirken auch über die Haut, sind meist sesshaft und erfordern Dekontaminationsmaßnahmen),
  • dem tatsächlichen Ort ihrer Wirkung auf Lebewesen: Nerven-, Haut-, Lungen-, Blut-, Psycho- und Reizkampfstoffe.

Chemiewaffenkonvention

Die Chemiewaffenkonvention aus dem Jahr 1997 ist ein internationales Abrüstungsübereinkommen, dessen Ziel ein weltweites Verbot aller chemischen Waffen und die Vernichtung noch vorhandener Chemiewaffenbestände ist. Es regelt die Verbote zu deren Entwicklung, Herstellung, Lagerung, Besitz, Weitergabe und des Einsatzes chemischer Waffen sowie Vorgaben zu deren Vernichtung. Die CWK trat am 29. April 1997 in Kraft.

Die Konvention sieht eine Reihe umfassender und konkreter Abrüstungsschritte vor. Mit Hinterlegung der Ratifizierungsurkunde bei den Vereinten Nationen verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten damals, vorhandene Bestände zu deklarieren und bis zum (inzwischen vergangenen) Jahr 2012 sämtliche Chemiewaffen unter internationaler Aufsicht zu vernichten.

Kontrolle und Überwachung

Mit der Überwachung zur Einhaltung der Konvention ist die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons –  OPWC) mit Sitz in Den Haag beauftragt. Ihre Organe sind die Konferenz der Vertragsstaaten, der Exekutivrat und das Technische Sekretariat. Im „Verifikationsanhang“ der Konvention sind einzelne Bereiche der Vertragspflichten näher ausformuliert. 

Die chemische Industrie ist den Kontrollen der OPCW unterworfen, soweit sie relevante Chemikalien verwendet oder produziert. Einzelne Chemikalien werden in drei Listen aufgeführt, wobei 

  • die Liste 1 chemische Kampfstoffe enthält, 
  • die Liste 2 direkte Vorprodukte zur Herstellung chemischer Kampfstoffe (z. B. Thiodiglycol zur Produktion von S-Lost) und 
  • die Liste 3 relevante Massenchemikalien, wie das hoch toxische Phosgen oder Vorprodukte wie Triethanolamin beinhaltet. 

Alle meldepflichtigen Daten unterliegen einer systematischen Verifikation durch Inspektionen vor Ort. Damit geht die CWK über die bloße Ächtung und Vernichtung von Massenvernichtungswaffen hinaus und trägt maßgeblich dazu bei, dass chemische Waffen nicht weiterverbreitet werden. Bei vermuteten Verstößen kann jeder Vertragsstaat der OPCW eine Verdachtsinspektion verlangen, die von einer Konferenz der Vertragsstaaten bewilligt werden muss. Werden die Verdachtsmomente erhärtet, kann die OPCW sowohl die UN-Generalversammlung als auch den UN-Sicherheitsrat einschalten. Letzterer kann mit Sanktionen die Nichteinhaltung ahnden. Die Chemiewaffenkonvention steht im Einklang mit den – im Genfer Protokoll von 1925 getroffenen – Grundsätzen des Verbotes des Einsatzes von chemischen Waffen im Krieg. Die OPCW unterstützt Staaten bei der Vernichtung von Chemiewaffen sowie beim Aufbau von nationalen Schutzprogrammen gegen chemische Waffen und von Kapazitäten, um auf den Einsatz von chemischen Waffen zu reagieren. Zudem verfügt die OPCW seit 2018 über ein dauerhaftes „Investigation and Identification Team (IIT)“. Dieses Gremium ging aus dem „Joint Investigative Mechanism (JIM)“ hervor, das in Kooperation mit der UNO ins Leben gerufen worden war, um den Einsatz von chemischen Waffen in Syrien zu untersuchen. Auch im Fall der Anschläge auf Sergej und Julia Skripal in Salisbury 2018 sowie auf Alexei Nawalny 2020 unterstützte die OPCW die Analyse der toxischen Chemikalien. 

Neuer Kampfstoff

Ende November 2019 wurde die Liste der Kampfstoffe erstmals um die Nowitschok-Gruppe erweitert. Die CWK hat mit 193 Mitgliedern (Stand: September 2022) beinahe universelle Geltung. Syrien trat der Konvention am 14. September 2013 bei. Nur vier Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen sind der CWK noch nicht beigetreten: Ägypten, Israel, Nordkorea und Südsudan. 2013 wurde das Engagement der Organisation mit einem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. 

Bis heute wurden ungefähr 70.000 Tonnen chemischer Kampfstoffe vernichtet – das sind etwa 98 Prozent der offiziell deklarierten Chemiewaffenbestände. Die USA werden ihre verbleibenden Bestände an Chemiewaffen voraussichtlich bis Ende 2023 vernichtet haben.

Rückblick

Brandkampfstoffe (Naphtha, Griechisches Feuer) zur Kriegsführung wurden bereits in der Antike verwendet. Die erste großflächige Anwendung chemischer Kampfstoffe erfolgte im Ersten Weltkrieg. Nach kleinräumigeren Einsätzen durch französische und deutsche Truppen erfolgte an der Westfront bei Ypern (Belgien) der erste groß angelegte Einsatz von etwa 150 Tonnen Chlorgas durch deutsche Truppen am 22. April 1915. Die chemische Waffe sollte die gegnerischen Truppen nötigen, ihre Stellungen zu verlassen, um sie durch Flachfeuer zu bekämpfen und in weiterer Folge den Stellungskrieg beenden zu können. Im Verlauf des Krieges wurden chemische Kampfstoffe von allen Kriegsparteien zum Einsatz gebracht, immer neuere und tödlichere Kampfstoffe entwickelt sowie Einsatztechniken und Schutzmaßnahmen erfunden und verbessert. Insgesamt wurden etwa 40 chemische Substanzen als unitäre Kampfstoffe (chemische Waffen; Anm.) eingesetzt, die etwa 1,3 Millionen Vergiftete und rund 100.000 Tote forderten. Die chemische Waffe erwies sich als effizient, wenn auch die Ausfälle im Vergleich zu anderen damals verfügbaren Waffensystemen sehr gering waren. Zudem zeigte sich, dass die Kampfstoffe stark wetterabhängig waren, vor allem die wechselnde Windrichtung machte sie beschränkt berechenbar. Die ersten Kampfstoffe waren extrem flüchtig. Erst ab 1917 verwendete man auch sesshafte Hautkampfstoffe, die später als Kampfstoffe der zweiten Generation bezeichnet wurden.

Zwischenkriegszeit

Als Folge der Kampfstoffeinsätze im Ersten Weltkrieg wurden die chemischen Waffen mit dem Genfer Protokoll 1925 international geächtet. Dennoch setzten Staaten chemische Kampfstoffe in der Zwischenkriegszeit (Spanien gegen Marokko ab 1924, Italien im italienisch-libyschen Krieg 1930 und gegen Abessinien 1935, die Rote Armee gegen Aufständische 1920/21) ein.

Mit der Entwicklung von Luftfahrzeugen stieg die Gefahr, dass chemische Kampfstoffe auch aus der Luft gegen Truppen und Zivilbevölkerung zum Einsatz gebracht werden. Trotz des Verbotes der chemischen Kriegsführung gingen Forschungen an geeigneten Kampfstoffen wie zu Schutzmaßnahmen weiter voran. Mit der Entdeckung des Kampfstoffes Tabun in Deutschland 1936 wurden die Nervenkampfstoffe als dritte Generation der chemischen Kampfstoffe eingeführt. Ab 1937 setzte Japan in China mehrmals chemische Kampfstoffe ein.

Zweiter Weltkrieg

Während des Zweiten Weltkrieges fanden keine großflächigen Kampfstoffeinsätze auf europäischem Boden statt. Beim Einmarsch deutscher Truppen in Polen 1939 wurden zwei deutsche Soldaten durch eine Lostbombe getötet und mehrere andere verletzt. 1943 bombardierte die deutsche Luftwaffe den italienischen Hafen von Bari und traf dabei amerikanische Frachter, die mit dem Hautkampfstoff Lost beladen waren. Die unbeabsichtigte Freisetzung des Kampfstoffes erforderte zahlreiche Tote und Vergiftete. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden umfangreiche deutsche Kampfstoffbestände in der Nord- und Ostsee versenkt. Andere Länder versenkten  ihre chemischen Kampfstoffe ebenso im Meer.

Kalter Krieg

In der Ära des Kalten Krieges (1945 bis 1990) wurden chemische Kampfstoffeinsätze unter anderem von Ägypten im Jemen (1960er-Jahre) und von den USA gegen Vietnam (Herbizide und Reizkampfstoffe in den 1960er-Jahren) bekannt. Zahlreiche Militärdoktrinen sahen den Einsatz chemischer Kampfstoffe vor. Der massive Einsatz von chemischen Waffen durch den Irak in den 1980er-Jahren gegen den Iran und die kurdische Zivilbevölkerung rief internationale Proteste hervor, die zum erneuten Verbot chemischer Waffen im Rahmen der Chemiewaffenkonvention führten.

Binäre chemische Kampfstoffe

Seit den 1950er-Jahren wurden binäre chemische Kampfstoffe entwickelt. Hier werden zwei oder mehr im Vergleich zum Endstoff relativ ungefährliche Substanzen voneinander getrennt in einem Einsatzbehälter (wie einem Geschoss oder einer Granate) gelagert. Bei dieser Waffe entsteht der eigentliche Kampfstoff erst während des Fluges des Projektiles zum Ziel, meist durch einfaches Vermischen der Komponenten, teilweise unter Zuhilfenahme eines geeigneten Katalysators. Im Gegensatz dazu sind die älteren unitären Kampfstoffe unmittelbar einsatzbereit. Beispiele binärer Kampfstoffe sind die Nervenkampfstoffe Sarin (GB), Soman (GD) und VX. Die Binärtechnik erlaubt auch eine gefahrlosere Handhabung bei der Lagerung, beim Transport und beim Einsatz. Während eines Versuches zur chemischen Kriegsführung wurde 1968 in der Wüste von Utah, USA, unbeabsichtigt VX versprüht wodurch etwa 4.000 Schafe verendeten.

Militärische Einsätze

Einige der letzten großflächigen chemischen Kampfstoffeinsätze in einem Krieg zwischen Staaten und im Rahmen von militärischen Operationen fanden in den 1980er-Jahren statt: Trotz des Verbotes entwickelte der Irak von 1979 bis 1991 im „Project 922“ chemische Kampfstoffe und setzte diese im Ersten Golfkrieg (1980 bis 1988) sowie bei der „Operation Anfal“ gegen die kurdische Zivilbevölkerung (1988) ein. Mehr als 10.000 Personen wurden dabei getötet, mehr als 50.000 schwer verletzt. Im November 1980 erschienen erste Meldungen über den Abwurf von mit chemischen Kampfstoffen befüllten Kanistern über iranischen Stellungen durch die irakische Armee. Insgesamt erfolgten 284 Einsätze, die 5.765 Tote und 42.931 Verletzte forderten. Verwendet wurden der Hautkampfstoff Lost (Senfgas) und die Nervenkampfstoffe Tabun und Sarin, die oft als sogenannte „taktische Mischungen“ mittels Fliegerbomben, Raketenwerfern, Artilleriewaffen und auch einfachen Kampfstoffbehältnissen eingesetzt wurden. Ab 1984 wurden durch chemische Kampfstoffe verletzte Iraner zur medizinischen Behandlung nach Deutschland, Schweden, Österreich und in die Schweiz gebracht. Der Irak setzte chemische Kampfstoffe ebenfalls gegen die eigene kurdische Zivilbevölkerung ein. Bekannt wurde der Giftgasangriff auf die irakische Stadt Halabdscha 1988. Weitere Chemiewaffenangriffe erfolgten auf Sardasht, Sulaimaniyya, Marivan und andere Städte.

Anschläge 

Im Oktober 2002 verwendeten russische Sicherheitskräfte im Moskauer Dubrowka-Theater das Opioid Carfentanyl und das Anästhetikum Halothan, um Terroristen kampfunfähig zu machen und Geiseln zu befreien. Chemische Kampfstoffe wurden beispielsweise als Attentatsmittel von Nordkorea (Attentat auf Kim Jong-nam in Malaysia 2017), Russland (Attentat auf Sergej und Julia Skripal 2018 in Großbritannien, Alexei Nawalny 2020 in Russland) oder von nichtstaatlichen Akteuren im Irak und in Afghanistan verwendet. 

Zu großflächigeren chemischen Kampfstoffeinsätzen kam es ab 2013 im syrischen Bürgerkrieg. Die Entwicklung der neuartigen Nervenkampfstoffe der Nowitschok-Gruppe in Russland lässt befürchten, dass die Entwicklung und Anwendung von chemischen Kampfstoffen nicht zu Ende sind. 

Terrorwaffe

Der Nervenkampfstoff Sarin wurde 1995 bei einem Anschlag der japanischen Aum-Sekte in der U-Bahn von Tokio verwendet. Er wurde eigenproduziert und als Terrorwaffe eingesetzt. Am 20. März 1995 wurden von fünf Sektenmitgliedern in fünf zusammentreffenden Pendlerzügen von drei U-Bahn-Linien Tokios in Zeitungspapier eingewickelte und mit Sarin befüllte Kunststoffbeutel deponiert. Unmittelbar vor dem Aussteigen stachen die Täter mit Regenschirmen Löcher in die elf verteilten Beutel, um das flüssige Sarin freizusetzen. Die austretenden Dämpfe verbreiteten sich in den betroffenen U-Bahnen und in mehreren U-Bahn-Stationen. Insgesamt gab es zwölf Tote und 1.039 Verletzte sowie 4.460 weitere Personen, die mit Symptomen ein Krankenhaus aufsuchten. 2010 wurde die Zahl der Opfer auf 6.252 revidiert.

Attentatswaffe

Als Attentatsmittel wurde ein neuartiger chemischer Kampstoff am 4. März 2018 in Salisbury, Großbritannien, verwendet. Der ehemalige russische Geheimdienstoffizier Sergej Skripal und dessen Tochter Julia wurden vergiftet, indem Attentäter den extrem sesshaften Kampfstoff „Nowitschok“ auf die Klinke der Eingangstüre aufbrachten. Dies löste eine schwere diplomatische Krise zwischen Großbritannien und seinen Verbündeten einerseits und Russland andererseits aus. Die beiden Kampfstoffopfer konnten im Mai 2018 aus dem Krankenhaus entlassen werden. Zahlreiche Einsatzorganisationen, vor allem die britische Armee, waren an den umfangreichen Arbeiten zum Aufspüren und Beseitigen des Kampfstoffes beteiligt.

Überblick über C-Kampfstoffe

Chemische Kampstoffe werden grob eingeteilt in

  • Lungenkampfstoffe,
  • Hautkampfstoffe und
  • Nervenkampfstoffe.

Lungenkampfstoffe

Die Lungenkampfstoffe Phosgen (COCl2, auch Carbonylchlorid, Kohlensäuredichlorid oder Kohlenoxychlorid) und Diphosgen (C2Cl4O2, auch Chlorameisensäuretrichlormethylester, Trichlormethylchlorformiat, Trichlormethylchlorkohlensäureester, Perstoff oder Palit) sind unitäre, sehr flüchtige chemische Kampfstoffe, deren Anwendung im Ersten Weltkrieg die meisten Kampfstoffopfer forderte. Symptome einer Vergiftung sind Stunden nach dem Einatmen auftretender quälender Husten, bräunlicher Auswurf durch Blutbeimischung, Blauanlaufen der Haut (Zyanose) und Lungenödeme. Unbehandelt endet die Vergiftung mit Phosgen oder Diphosgen in qualvollem Ersticken. Freigesetzt entwickelt das gasförmige Phosgen einen Geruch nach faulem Obst oder Heu, das flüssige Diphosgen verursacht einen stechenden, erstickenden Geruch. Phosgen wird vor allem für die Produktion von Schaumstoffen und von Polycarbonat (PC) zur Herstellung hochwertiger Kunststoffe verwendet. Dafür werden etwa drei Millionen Tonnen pro Jahr (über 90 Prozent des weltweit produzierten Phosgens) genutzt. Diphosgen wird als weniger gefährlicher Ersatz für Phosgen z. B. bei der Herstellung von Carbonaten, Isocyanaten und Isocyaniden verwendet. Außerdem dient es im Labor als Syntheseäquivalent für Phosgen.

Hautkampfstoffe

Hautkampfstoffe wie Schwefellost (auch S-Lost, Yperit, Senfgas – engl.: Mustard Gas) sind erstmals 1917 im Ersten Weltkrieg eingesetzt worden und zählen vorwiegend zu den flüssigen, sesshaften Kampfstoffen. Sie sind gut fettlöslich und dringen über die Atemwege und innerhalb weniger Minuten über die Haut in den Organismus ein. Bereits nach kurzer Zeit treten Hautreizungen (Rötungen) auf. Über die Atemwege aufgenommener Kampfstoff verursacht Schädigungen der Lunge und im weiteren Verlauf, in dem lediglich eine symptomatische Behandlung möglich ist, kommt es zu Blasenbildungen auf der Haut, die Verbrennungen ähneln und bei entsprechend großer Fläche zum Tod führen. Bei nichttödlichem Ausgang sind Spätfolgen wie Krebs, Erbgutveränderungen sowie Leber- und Nierenschäden zu erwarten. Die zellteilungshemmende Wirkung von Losten wurde nach dem Ersten Weltkrieg zur Entwicklung der ersten Zytostatika in der Krebstherapie genutzt.

Nervenkampfstoffe

Nervenkampfstoffe wurden in den 1930er-Jahren entdeckt und gelten als moderne chemische Kampfstoffe. Zu ihnen gehören die flüssigen, sehr flüchtigen bis extrem sesshaften Kampfstoffe Tabun, Sarin, Soman, VX oder die Untergruppe der Nowitschok-Kampfstoffe, die allesamt hochtoxisch sind. Sie dringen über die Atemwege und durch die Haut in den Organismus ein und verursachen schwere, mit zunehmender Zeit oft irreversible Schäden am Nervensystem. Ihre Wirkung beruht auf der Hemmung von Enzymen, die zu einer Überreizung des gesamten Nervensystems führt. Symptome einer Nervenkampfstoffvergiftung sind Kopfschmerzen, Übelkeit mit Erbrechen und Durchfällen, Augenschmerzen, Müdigkeit, Krampfanfälle, Zittern, Zucken der Muskulatur, unkontrollierter Harn- und Stuhlabgang, Atemnot, Appetitlosigkeit, Angstzustände, Spannungen, Verwirrtheit, Bewusstlosigkeit. Der Tod tritt schließlich durch Atemlähmung ein. Die besondere Eigenschaft der Nowitschok-Kampfstoffe liegt in ihrer hohen Sesshaftigkeit. Sie verdampfen nur sehr langsam und erschweren dadurch ihr Aufspüren und ihren Nachweis. Dies rechtfertigt ihre Benennung als Kampfstoffe der 4. Generation. 

Militärische Bedeutung

Chemische Kampfstoffe sind als Kriegsmittel geächtet und verboten. Chemische Kampfstoffe und ihre Ausgangsstoffe sind relativ leicht erhältlich und zu produzieren, die Auswirkungen sind kalkulierbar und zuverlässig. Eine breite Palette an Einsatzmitteln ermöglicht deren Verbreitung. Militärische Einsätze gegen Truppen erfolgen massiv (große Mengen sorgen für eine hohe Belegungsdichte) und überraschend (eine wirkungsvolle Konzentration im Zielgebiet wird so rasch aufgebaut, dass Schutzmaßnahmen nicht rechtzeitig getroffen werden können). Ein Einsatz ist lohnend, wenn 

  • mit minimalem Aufwand große Verluste erzielt werden können, 
  • mit dem Einsatz militärische Operationen erleichtert oder beschleunigt werden und 
  • mangelnde Ausbildung und Schutzausrüstung einen Einsatz wirkungsvoll machen. 

Zweck

Durch die Wahl des Kampfstoffes und der Einsatzart können unterschiedliche Zwecke verfolgt werden.

Flüchtige Kampfstoffe

Flüchtige chemische Kampfstoffe bringen dem Gegner Verluste und dringen in Räume sowie hinter Deckungen ein. Eine Gefährdung durch Kampfstoffreste kann bei nachfolgenden Angriffen nahezu ausgeschlossen werden. Dekontaminationsmaßnahmen erübrigen sich, da sich der Kampfstoff in kurzer Zeit verflüchtigt. Die Einsatzmittel für flüchtige Kampfstoffe sind Mehrfachraketenwerfer, Fliegerbomben und Streubomben, die eine hohe Belegungsdichte ermöglichen. 

Sesshafte Kampfstoffe

Sesshafte Kampfstoffe verharren am Zielort und hindern den Gegner an der weiteren Nutzung von kontaminiertem Gerät oder von kontaminiertem Gelände. Zudem erzwingt der sesshafte Einsatz langwierige Dekontaminationsprozesse. Mit einem sesshaften C-Kampfstoff sollen im Zielgebiet nicht nur Verluste erzielt werden, sondern auch eine längerfristige Kontamination von Gelände und Einrichtungen, wie Flughäfen oder Seehäfen, erreicht werden, ohne diese zu zerstören. Eine Dekontamination ist aufwendig und zeitintensiv. 

Selbstschutz

Der Einsatz chemischer Waffen erfordert immer die rasche Aufklärung von Art und Umfang des Kampfstoffeinsatzes, wozu Spezialkräfte der ABC-Abwehr benötigt werden. Dies und der Umstand, dass betroffene Truppenteile zu ABC-Schutzmaßnahmen gezwungen werden, führt unter Umständen zu Verzögerungen in der Gefechtsführung. Durch die Notwendigkeit des ABC-Schutzes wird die militärische Auftragserfüllung behindert und/oder verzögert. Zudem muss die psychologische Belastung eines angedrohten und durchgeführten chemischen Kampfstoffeinsatzes berücksichtigt werden. 

Als nachteilig gilt die hohe Wetterabhängigkeit chemischer Kampfstoffe, vor allem hinsichtlich des Windes, der Temperatur und des Niederschlages. 

Verfügen die betroffenen Truppen über die entsprechende Ausbildung und ABC-Schutzausrüstung, scheint sich ein Einsatz kaum zu lohnen. Psychologische Effekte treten in den Vordergrund. Betroffene Truppen können ihren Auftrag – zumindest für einen gewissen Zeitraum – weiter durchführen. Kurzum: je besser der ABC-Schutz der Angegriffenen, umso geringer die Wahrscheinlichkeit eines Einsatzes und dessen Auswirkungen – ein Plädoyer für eine gute ABC-Ausbildung und ABC-Ausrüstung vom Einzelnen bis zu den Spezialisten der ABC-Abwehrtruppe.

Mit modernen Warn- und Alarmgeräten können rechtzeitig Schutzmaßnahmen getroffen werden. Der Nachweis chemischer Kampfstoffe wird durch eine moderne Detektionsausstattung möglich. Problematischer wird der forensisch gültige Nachweis, wer letztendlich für den Kampfstoffeinsatz verantwortlich war. Konfliktszenarien verhindern in der Regel eine rasche unabhängige forensische Untersuchung. Die eindeutige Beweisaufnahme und die Klärung der Schuldfrage sind nach einem Einsatz flüchtiger Kampfstoffe besonders schwierig.

Entwicklungstrends

Die Chemiewaffenkonvention verbietet zwar chemische Waffen, weist aber einige Unzulänglichkeiten auf.

Kampfstoffe der vierten Generation

Chemische Kampfstoffe der vierten Generation (Fourth Generation Agents, FGA), wie die Nowitschok-Gruppe, schienen bis zum Jahr 2019 nicht in Liste 1 auf. Trotz des in Artikel 2 formulierten „General Purpose Criterion“ könnte die Anwendung neuartiger Kampfstoffe mit dem Argument unterstützt werden, dass solche nicht explizit angeführt sind.

Nicht explizit angeführt Kampfstoffe

Reizkampfstoffe, die als Polizeiwaffe zur Bekämpfung von Aufständen eingesetzt werden können („Riot Control Agents“), sind ebenfalls nicht explizit angeführt und werden als Ausbildungsmittel verwendet. Bestrebungen, diese Kampfstoffe in die CWK aufzunehmen, werden diskutiert.

Umgehung der Konvention

Mit Multikomponentenwaffen, bei denen mehrere Substanzen bei Zusammenmischung den gefährlicheren Kampfstoff ergeben, könnten die Bestimmungen der Konvention umgangen werden.

Industriechemikalien

Chemikalien sind verfügbare Bestandteile in der Industrie. Von den über 31 Millionen von der Chemical Abstract Service Institution registrierten Verbindungen werden etwa 70 000 regelmäßig produziert und verwendet. Etwa 20 000 davon sind hoch toxisch. Die zweckentfremdete Anwendung toxischer Industriechemikalien richtet sich vor allem gegen ungeschützte Personen und findet sich in Bürgerkriegs- und Terrorszenarien.

Biologische Toxine

Rasante Entwicklungen im Bereich der Biologie könnten es ermöglichen, dass Mikroorganismen genetisch dazu verwendet werden, Gifte (Toxine) zu produzieren. Mit chemischen Verfahren wurden bereits zahlreiche in der Natur vorkommende Gifte/Toxine synthetisiert und produziert. 

Diese „Midspectrum Agents“ bilden einen „Graubereich“ zwischen biologischen und chemischen Waffen. Neue, in der Wissenschaft und in der Forschung entdeckte Substanzen, könnten als chemische Waffen verwendet werden. Dazu zählen beispielsweise die „Pharmaceutica Based Agents, PBA’s“ oder die „Central Nervous Systeme Acting Chemicals“.

Resümee

Chemische Kampfstoffe werden auch in naher Zukunft produziert und eingesetzt werden – und zwar sowohl von staatlichen, als auch von nichtstaatlichen Akteuren. 

Jene, die auf der rechtlich sicheren Seite stehen wollen, werden wohl versuchen, die Chemiewaffenkonvention mit Multikomponenten-Waffen zu umgehen. Doch das ändert nichts an ihrer Tödlichkeit. Trotz aller Bestimmungen muss weiter an den Nachweismöglichkeiten geforscht werden, um verbotene Einsätze nachzuweisen. Ein dem Stand der Entwicklungen entsprechender ABC-Schutz ist daher auch in Zukunft Gebot der Stunde, denn chemische Kampfstoffe und ihre Ausgangsstoffe bleiben auch mittelfristig relativ leicht erhältlich und sind leicht zu produzieren. 

Oberrat Oberst dhmfD Erwin Richter, MA; Leiter des Referates höhere Fachausbildung und Wissensmanagement am ABC-Abwehrzentrum.

 

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