• Veröffentlichungsdatum : 20.07.2022
  • – Letztes Update : 22.07.2022

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Schlacht um den Donbass

Markus Reisner

Anfang Juli gelang es den russischen Truppen die beiden ostukrainischen Städte Sjewjerodonezk und Lyssytschansk (Oblast Luhansk) einzunehmen. Damit besetzt Russland ein knappes Viertel des ukrainischen Staatsgebietes. Das nächste Ziel könnte die Einnahme des Oblasten Donezk sein.

(Stand: 8. Juli 2022/Tag 135 des Krieges)

In den vergangenen drei Monaten war vor allem der Donbass der Hauptschauplatz von Kämpfen und Angriffen. Stark betroffen waren unter anderem die Städte Kramatorsk, Charkiw und Cherson. Anfang April 2022 begannen die russischen Streitkräfte damit, ihre Truppen aus dem Raum Kiew in den Osten der Ukraine zu verlegen und sich auf die Schlacht im Donbass vorzubereiten.

Mit einer klassischen Zangenoperation, einem Vorstoß aus dem Norden und aus dem Süden, sollte die Entscheidung herbeigeführt werden. Die Vorbereitungen waren von der Neustrukturierung der russischen Kräfte und von einer neuen Taktik geprägt. Dabei wird ein Angriff durch Artillerieschläge eingeleitet und danach langsam voranmarschiert. Am 3. April 2022 war die Frontlinie noch etwa 60 km ostwärts der Städte Slowjansk und Kramatorsk. Am 3. Juli 2022 hatten die russischen Truppen bereits einen großen Geländegewinn nordostwärts und ostwärts dieser beiden Städte erzielt.
 

Verlegung des Schwergewichtes

Am 5. bzw. 6. Mai 2022 gelang russischen Truppen bei Popasnaja ein Durchbruch, den sie in den Wochen darauf ausweiteten. Knapp einen Monat später, von 24. Mai bis 29. Mai 2022, konnte der Kessel bei Popasnaja eingedrückt werden. Die russischen Streitkräfte dürften diesen zuvor für mehrere Wochen offen gehalten haben, weil sie erkannten, dass die Ukraine Nachschub, auch westliche Waffen, in den Kessel hineinschob, wo diese relativ einfach zerstört werden konnten.

Im Juni 2022 bildeten sich zwei weitere Kessel. Einer südlich von Sjewjerodonezk und Lyssytschansk, der andere im Raum Solote und nordostwärts davon. Die russischen Streitkräfte rückten Tag für Tag langsam vor und der Druck auf die ukrainischen Truppen stieg, bis diese gezwungen waren, sich zurückzuziehen. Schlussendlich gelang es den russischen Streitkräften eine Übersetzstelle über den Fluss Siwerskiy Donez zu errichten. Damit konnten sie von zwei Seiten gleichzeitig angreifen, woraufhin die ukrainischen Kräfte begannen sich aus dem Kessel abzusetzen.

Am 3. Juli 2022 gelang es den russischen Truppen die zweite Stadt, Lyssytschansk, einzunehmen. Somit ist der Oblast Luhansk nun zur Gänze in russischer Hand. Die Frage nach dem weiteren Vorgehen ist schwierig zu beantworten. Sowohl die Region Donbass als auch die Distanz zum Westen ist sehr groß. Der Kessel von Lyssytschansk und Sjewjerodonezk, der von den Russen eingenommen wurde, hat eine Ausdehnung von etwa 40 x 40 Kilometern. Damit ist er relativ klein, wenn man die Größe der gesamten Region betrachtet. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie sich der nächste Ansatz der Russen darstellen kann? Um dies zu analysieren und einzuschätzen, sind vier Faktoren zu beachten:

  • Gelände;
  • Zeit;
  • Information/Lagebild;
  • Kraft.

Faktor Gelände

Im April und Mai 2022 war die nördliche Zange Schauplatz von Kämpfen. In diesen versuchte die russische Seite, eine Entscheidung herbeizuführen und in die Tiefe vorzustoßen. Im April 2022 wurde vor allem im Raum Isjum gekämpft. Dort ist eine natürliche Enge, die russische Truppen erst überwinden konnten, nachdem sie den Fluss Siwerskyj Donez mit zwei Pontonbrücken überquert hatten. Die ukrainische Seite reagierte darauf, indem sie ebenfalls versuchte den Fluss mit zwei Pontonbrücken zu überwinden und die Russen in der Flanke anzugreifen. Dies gelang zwar, jedoch konnten die russischen Truppen diese Brücken zerstören.

Die Ukrainer versuchten daraufhin den Fluss bei Tag und Nacht mit kleinen Schiffen und Schlauchbotten zu überqueren, um den Druck auf die russischen Kräfte im Raum Isjum und südlich davon aufrecht zu halten. Die russischen Truppen versuchten nun, ihr Schwergewicht weiter in den Osten zu verlagern und den Angriff kürzer zu stecken. Konkret war der Plan im Osten der Ukraine derselbe, wie jener, den sie zuvor bei Isjum erfolgreich durchgeführt hatten.

Überquerung des Flusses Siwerskyj Donez

Der Auftakt des Angriffes war die Brückenüberquerung am 2. Mai 2022 nordwestlich von Siwerskyj Donez. Die russischen Kräfte konnten zwar auf die andere Seite gelangen, wurden dort jedoch von ukrainischen Kräften abgefangen und zurückgetrieben. Daraufhin versuchten die Russen dasselbe bei Jampil. Auch dort überquerten sie zunächst den Fluss, bevor sie aufgrund der starken Gegenwehr zurückgedrängt wurden. Anschließend probierten sie es zentral bei Bilohoriwka. Ab dem 9. Mai 2022 konnten russische Soldaten den Siwerskyj Donez über zwei Pontonbrücken überqueren. Die ukrainischen Streitkräfte griffen mit Artillerieunterstützung an und konnten die russischen Kräfte zerschlagen. Entscheidend war, dass die Russen erkannten, dass zum damaligen Zeitpunkt ein Überschreiten des Flusses Siwerskyj Donez nicht möglich war. Die ukrainische Seite konnte diese Situation jedoch nur für sich entscheiden, weil sie Kräfte aus dem Süden herangeführt hatte.

Die südliche Zange ist von flachem Gelände geprägt. Hier versuchten die russischen Streitkräfte aus dem Süden weiter vorzustoßen, konnten aber keinen Erfolg erzielen. Daher konnten die Ukrainer Teile ihrer Kräfte nach Norden verschieben. Zusätzlich wurde weitere Verstärkung herangeholt, beispielsweise die Kräfte der Territorial-Einheiten aus dem Westen der Ukraine. Über die Übersetzstellen bei Dnipro und Saporischschja konnten sieben Brigade-Äquivalente herangeführt werden – drei im April und vier im Mai 2022. Diese Territorial-Einheiten wurden vor allem zur Verstärkung der bereits im Einsatz befindlichen ukrainischen Kräfte bei der Abwehr der russischen Angriffe eingesetzt.

Verteidigungslinien im Osten

Im Donbass gibt es zwei günstige Verteidigungslinien. Eine verläuft von Siwersk Richtung Bachmut. Das ist jene Linie, an der sich die ukrainischen Kräfte aus dem Kessel zurückzogen. Die zweite Linie zieht sich von Slowjansk über Kramatorsk bis nach Tortezk in der Tiefe. Sie ist vor allem deswegen günstig, weil sie urbane Räume wie eine Perlenkette urbane Räume aneinanderreiht. Hier ergeben sich zwei Fragen: Wie viele Kräften konnte die Ukraine tatsächlich aus dem Kessel herausziehen? Wie viele Kräfte sind in der Tiefe eingesetzt, um den möglichen Vorstoß der Russen abwehren zu können?

Faktor Zeit

Im April und Mai 2022 war der Faktor Zeit bzw. Abnützung wesentlich. Seit Kriegsbeginn spielen die russischen Streitkräfte ihren großen Vorteil aus: den massiven Einsatz von Artillerie und Luftunterstützung. Im April und Mai 2022 kam es verstärkt zum Einsatz von Kampfhubschraubern, aber auch von Jagdflugzeugen bzw. Erdkampflugzeugen und Artillerie. Der Artilleriebeschuss hat einen devastierenden Effekt auf die ukrainischen Stellungen und demoralisierte die ukrainischen Soldaten aufgrund des tagelangen Feuers.

Führungsstruktur und weiteres Vorgehen

Die russischen Streitkräfte haben eine klare Führungsstruktur. Es gibt einen Kommandanten über alle russischen Truppen im Raum bzw. untergeordnete Kommandeure, für den Donbass, den Süden und den Osten des Raumes. Wenn die russischen Truppen in Richtung Westen vorfühlen und erkennen, dass die ukrainischen Streitkräfte keine durchgehend befestigte Verteidigungslinie haben, nützen sie das rasch aus und setzen weiter Richtung Westen an. Möglicherweise kommt es daher zu keiner operativen Pause.

Die russischen Truppen könnten einen frontalen Ansatz über die beiden Verteidigungslinien wagen oder versuchen diese in der Tiefe zu umfassen. Dafür sprechen vor allem Berichte von Kräftezusammenziehungen nördlich des Donbass. Ein weiterer Stoß in die Tiefe bringt jedoch das Problem möglicher offener Flanken mit sich. Sind die ukrainischen Kräfte allerdings geschwächt, können die Russen die Operationsführung wesentlich zu verkürzen.

Faktor Information/Lagebild

Vor Einbruch des Kessels hatten die ukrainischen Streitkräfte den Vorteil der inneren Linie. Das heißt, sie konnten Kräfte aus dem Zentralraum zur Unterstützung verschieben. Die russischen Truppen mussten hingegen eine Entscheidung von außen herbeiführen. Schlussendlich bekam die ukrainische Front, wie bereits erwähnt, bei der Ortschaft Popasnaja, einem wichtigen Stützpunkt in der Südfront, einen Riss. Dort erzielten die Russen vom 5. auf den 6. Mai 2022 einen Durchbruch.

Um diesen Durchbruch bei Popasnaja zu verstehen, muss man die Taktik dahinter betrachten. Die ukrainischen Kräfte im Donbass, auch Eliteverbände, stützten ihre Verteidigung vor allem auf Stützpunkte ab, die entlang von Ortschaften angelegt waren. Das Zwischengelände wurde entweder durch Feuer überwacht oder bei Bedarf durch den Einsatz einer Reserve bedient. Als die russische Seite angriff und den Druck erhöhte, versuchte man die Kräfte durch nachgeführte Territorial-Einheiten zu verdichten, um das Zwischengelände aufzufüllen. Die russische Seite erkannte dies und reagierte.

Der Hauptangriff bei Popasnaja war ein Bindungsangriff auf den Stützpunkt, der durch Elite-Einheiten der Ukraine besetzt war. Nebenbei versuchten die Russen mit einer Umfassung die schwache Stelle im Norden und Süden des Stützpunktes anzugreifen und bei einem Durchbruch mit einer dritten Staffel oder einer Reserve rasch in die Tiefe vorzustoßen. So war es möglich die zentralen Verbände der ukrainischen Seite in Popasnaja zu umgehen. Das Problem der Territorial-Einheiten war, dass sie weder über die nötige Ausbildung noch über eine effiziente Bewaffnung (wie z. B. Panzerabwehr) verfügten, um sich zu verteidigen.

Durchbruch bei Popasnaja

Als Ergebnis dieser russischen Taktik und Gefechtstechnik gelang der Durchbruch bei Popasnaja: Dieser sollte genutzt werden, um rasch Richtung Norden bzw. Richtung Siwerskyj Donez, vorzustoßen und so die Kräfte im Nordosten einzuschließen.

Vergleicht man die Situation vom 8. Mai mit dem 24. Mai 2022, wird deutlich, wie massiv dieser Vorstoß war. Die Bedrohung bestand vor allem darin, dass eine wichtige Verbindungslinie in dem entstehenden Kessel von der russischen Seite kontrolliert würde. Ende Mai 2022 zeigte sich, dass sich die Russen, nachdem sie im Norden keinen Erfolg hatten, nun vor allem auf den Süden konzentrierten bzw. zentral bei Siwerskyj Donez versuchten eine Entscheidung herbeizuführen. Außerdem bedrohten die russischen Streitkräfte zentrale ukrainische Versorgungslinien, über die Nachschub in den Kessel gebracht wurde.

Faktor Kraft

Wie versuchten die ukrainischen Streitkräfte, diese Einkesselung zu vermeiden? Ein wichtiger Faktor war der Einsatz von Artilleriesystemen, vor allem jener, die vom Westen geliefert wurden (z. B. System 155mm M777). Die Artillerie ist für die ukrainischen Streitkräfte bedeutend, weil sie die einzige Fähigkeit ist – nachdem kaum Luftunterstützungsmittel vorhanden sind – um die russische Artillerie zu bekämpfen. Das Problem aus ukrainischer Sicht ist, dass sich in den vergangenen Wochen das Kräfteverhältnis immer mehr zu Gunsten Russlands verschiebt.

Vor der Schlacht um den Donbass, am Beginn des dritten Kriegsmonats, hatte die Ukraine etwa 81 Bataillonsäquivalente zur Verfügung – Russland etwa 93. Nun scheint es, als ob die russische Seite um zumindest 15 bataillonstaktische Gruppen verstärkt wurde, während die ukrainischen Kräfte zunehmend abgenützt werden. Das Verhältnis ist jetzt etwa 60 (Ukraine) zu 108 (Russland). Zwar haben beide Seiten Verluste erlitten und die jeweiligen Bataillonsäquivalente möglicherweise nicht die volle Stärke, dennoch hat die Ukraine offenbar Schwierigkeiten zusätzliche Kräfte (Material und Personal) herbeizuführen, während die Russen das jedoch können.

Effekt der Waffenlieferungen an die Ukraine

Betrachtet man die, vom Westen an die Ukraine, gelieferten Geschütze im Einsatz, scheint es, dass diese nicht komplett geliefert wurden bzw. dass wichtige Teile fehlen würden. Vor allem der Einsatz von endphasengesteuerter Munition (z. B. Granate des Typs Excalibur) ist betroffen. Die ukrainischen Streitkräfte haben diese Geschütze mit hoher Reichweite zwar im Einsatz, können deren Potenzial aber nicht völlig nützen. Darüber hinaus versuchen die Russen, diese Geschütze zu zerstören.

Ein Gamechanger aus Sicht der Ukraine ist der Einsatz von Kamikaze-Drohnen oder Loitering Munition. Die USA lieferten die Systeme „Switchblade“ und „Phoenix Ghost“. Das System „Switchblade 300“ wird bereits eingesetzt. Das System 300 eignet sich zwar zur Bekämpfung von Infanteriezielen, gegen mechanisierte Kräfte bräuchte man jedoch das System 600.

Zum Einsatz von Artillerie ist anzumerken, dass zwar wurden nur wenige Systeme geliefert wurden, diese aber einen Effekt erzielen. So verfügt die Ukraine beispielsweise über vier US-amerikanische Systeme des Typs „HIMARS“. Dieses Mehrfach-Raketenwerfer-System ist mit spezieller Munition ausgestattet, die bereits gegen russische Munitionsdepots erfolgreich eingesetzt wurde. Konkret handelt es sich um das System M31 A1 GMLRS, mit einer Reichweite von knapp 80 Kilometern. Derzeit werden zwölf HIMARS-Systeme eingesetzt.

Die Fähigkeit zur Zerstörung gegnerischer Munitionsdepots ist für die Ukraine wichtig, da damit die russische Fähigkeit den massiven Artillerieeinsatz weiter zu nähren verringert wird. Dafür wird auch weitreichende Panzerartillerie wie das polnische System „Krab“ oder die deutsche Panzerhaubitze 2000 eingesetzt.
 

Kesselbildung

Russland übte im April und Mai 2022 massiv Druck auf den Frontbogen aus, obwohl das Problem der äußeren Linien bestand. Der Vorstoß bei Popasnaja entwickelte sich aus russischer Sicht gut. Unterdessen gab es aber ständig Angriffe an anderen Stellen. Betroffen war beispielsweise der Raum Isjum, wo die Russen gelang vorstießen, aber auch Lyman, das gefallen ist bzw. Sjewjerodonezk, wo heftige Kämpfe tobten. Solche Vorstöße können rasch dazu führen, dass sich Kessel bilden. Das ist auch den ukrainischen Soldaten bewusst.

Vor allem die ukrainischen Territorial-Einheiten verfügen, wie bereits erwähnt, jedoch nicht über die nötige Ausbildung und Ausrüstung, um lange und nachhaltig Widerstand zu leisten. Dies zeigt sich anhand mehrerer Faktoren. So sieht man zunehmend zerstörte Brücken, die von den Ukrainern gesprengt werden, um die russischen Angriffe zu verzögern. Das nächste Indiz ist ein Befehl der ukrainischen Seite, sich in der Tiefe für eine mögliche Verteidigung einzurichten. Schlussendlich gelang es den russischen Streitkräften dennoch eine Übersetzstelle über den Siwerskiy Donez zu errichten und von zwei Seiten gleichzeitig anzugreifen. Deshalb zogen sich die Ukrainer aus dem Kessel zurück.

Abnützung

Die Moral der ukrainischen Soldaten leidet vor allem unter der Abnützung durch die Artillerie. Zuletzt kursierten Videos, in denen Ukrainer um bessere Waffen und die Versorgung ihrer Verwundeten bitten, weil die unmittelbare Frontlinie nicht zu halten ist. Die Ukraine wird derzeit von Russland sowohl taktisch-operativ als auch strategisch abgenützt. Die taktisch-operative Abnützung auf dem Gefechtsfeld, war lange schwer zu beurteilen, da nicht klar war, wie hoch die Verluste auf ukrainischer Seite tatsächlich sind.

Einige hohe ukrainische Offiziere teilten vor kurzem mit, dass es bei den Streitkräften einen Verlust von etwa 50 Prozent gäbe. Man habe über 1.300 Schützenpanzer, etwa 400 Kampfpanzer und etwa 700 Artilleriesysteme verloren. Ein ukrainischer Brigadegeneral betonte außerdem, dass es beim Einsatz von M777-Systemen ein Problem gäbe. Eine Batterie würde im Einsatz oft nur ein bis zwei Schuss abfeuern können, bis sie russisches Gegenfeuer erhält. So komme es zu Schäden, die dazu führen, dass die Geschütze nicht mehr eingesetzt werden können und zum Teil nach Polen zurückgeführt werden müssen, wo sie wieder instandgesetzt zu werden.

Auch unter der strategischen Abnützung, leidet die Ukraine zunehmend. Präsident Selenskyj sagte am 9. Juni 2022, dass bis zu diesem Zeitpunkt etwa 2.600 Marschflugkörper und ballistische Raketen gegen Ziele in der Ukraine eingesetzt wurden. Derzeit steht die Zählung bei 3.000+. Ein Beispiel dafür, sind die Luftangriffe von 25. auf 26. Juni 2022. Hier kam es vom belarussischen Staatsgebiet aus zum Einsatz von Marschflugkörpern gegen die Ukraine. Dazu setzte Russland unter anderem Tu-22-Bomber ein, die Marschflugkörper in einer großen Entfernung auslösen, um dann mehrere dutzend Ziele in der Ukraine zu treffen. Solange die Ukraine nicht über eine effektive Fliegerabwehr verfügt, kann sie sich nicht gegen diese Angriffe wehren.

Fazit und Ausblick

Im Krieg gegen Russland ergeben sich einige Kernprobleme für die Ukraine. Das erste konnte sie lösen, indem sie die Hauptstadt Kiew – das militärische und politische Zentrum – halten konnte. Zweitens konnten die ukrainischen Streitkräfte verhindern, dass es zu einem Angriff von belarussischer Seite kam. Da diese Gefahr jedoch noch nicht gebannt ist, können sie das Schwergewicht ihrer Kräfte nicht in den Osten verlagern, weil sie Kräfte in der Tiefe des Landes Kräfte bereithalten müssen.

Ungelöste Probleme gibt es außerdem im Donbass, wo die russischen Streitkräfte den 40x40 Kilometer großen Kessel eingedrückt haben. Hier stellt sich die Frage, ob sie weiter Richtung Westen vorrücken oder nicht. Die Situation im Raum Cherson ist ebenfalls verheerend, da die russischen Truppen dort auf die andere Seite des Dnepr vorgestoßen sind. Das ermöglicht es ihnen im nächsten Frühjahr nach Odessa oder in den Zentralraum der Ukraine vorzudringen. Momentan scheint dies zwar unwahrscheinlich, das könnte sich aber über den Winter ändern.

Russland besetzt derzeit etwa 24 Prozent des ukrainischen Staatsgebietes. Mit der Einnahme des Oblasten Luhansk gelang den russischen Streitkräften ein wichtiger Erfolg. Das nächste Ziel könnte die Einnahme des zweiten ostukrainischen Oblasten Donezk sein. Dort halten russische Kräfte aktuell etwas mehr als die Hälfte des Gebietes.

In naher Zukunft werden wohl weiterhin der Donbass, aber auch der Raum Cherson, im Fokus stehen. Bis zum Ende des Sommers 2022 werden beide Seiten versuchen, eine Entscheidung zu ihren Gunsten herbeizuführen. Gelingt dies nicht, wird vermutlich der Winter die Kampfhandlungen unterbrechen. Eine Herausforderung für die Ukraine wird die Versorgung ihrer etwa 35 Millionen Einwohner im Winter sein. Russland kontrolliert aktuell etwa 80 Prozent der ukrainischen Wertschöpfung. Gelingt es den russischen Streitkräften im Sommer des nächsten Jahres Odessa zu nehmen, würden sie sogar 90 bis 95 Prozent der Wertschöpfung kontrollieren.

Die Weizenanbaugebiete, z. B. Winterweizen, befinden sich im Süden und Osten der Ukraine. Der Weizenexport machte bisher etwa 45 Prozent des ukrainischen Bruttoinlandsproduktes aus. Daraus ergibt sich nicht nur ein wirtschaftlich schwerwiegendes Problem für die Ukraine, sondern ein existenzielles. Ohne Unterstützung aus dem Westen ist es unwahrscheinlich, dass die Ukraine den Winter in einer Art und Weise übersteht, die es ihr erlaubt weiterzukämpfen. Der Verlauf des Krieges wird somit vom Willen des Westens abhängen die Ukraine weiter zu unterstützen.

Oberst dG Dr. Markus Reisner, PhD ist Leiter der Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie.

 

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