• Veröffentlichungsdatum : 20.11.2020
  • – Letztes Update : 23.02.2021

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Kampf bis zur vorletzten Patrone

Gerold Keusch

Bereits 15 Minuten nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich sind alle Prager Ausfahrtstraßen gesperrt, die öffentlichen Verkehrsmittel haben ihren Betrieb eingestellt und alle verfügbaren Kräfte mit der Verfolgung der Attentäter begonnen. Jan Kubiš und Jozef Gabcík gelingt es dennoch, bei Mitgliedern des tschechischen Widerstandes unterzutauchen. Am Nachmittag weiß die gesamte Stadt von dem Attentat, da die Informationen darüber im Radio gesendet sowie in Zeitungen und auf Anschlagtafeln verbreitet werden. Auf diesen Kanälen wird die Bevölkerung auch dazu aufgerufen, sich an der Suche nach den Attentätern zu beteiligen, auf die ein hohes Kopfgeld ausgesetzt ist.

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Um 2200 Uhr beginnen Polizei und Gestapo in Prag mit Hausdurchsuchungen. Tausende Häuser, öffentliche Orte, Eisen- und Straßenbahnen werden durchforstet, um die Attentäter zu finden. Alle Personen, die sich nicht ausweisen können, werden in Schnellverfahren zum Tode verurteilt und kurz danach exekutiert. Die beiden Attentäter und die anderen Kommandosoldaten, die in Prag untergetaucht sind, werden dennoch nicht entdeckt.

Aufgrund der Verfolgungsmaßnahmen und des brutalen Vorgehens der Besatzungsbehörden sind die Unterkünfte der Kommandosoldaten nicht mehr sicher. Für sie muss nun ein anderes, noch sichereres Versteck gefunden werden. Dieses finden sie in der Kyrill-und-Method-Kirche der orthodoxen Prager Gemeinde in der Resselstraße. Dort harren Kubiš und Gabcík mit fünf Kameraden aus. Unterdessen tappt die Gestapo, obwohl sie sofort nach dem Attentat tätig geworden ist und keine noch so brutale Maßnahme scheut, nach wie vor im Dunkeln, da sie keine verwertbaren Hinweise erhält. Alle Mitwisser und Unterstützer, von denen es mehrere hundert gibt, und ohne die diese Kommandoaktionen nicht möglich gewesen wären, halten dicht. Die deutschen Verfolger haben keine Chance in das Netzwerk der Widerstandskämpfer und Kommandosoldaten einzudringen.

Am 16. Juni betritt Karel Curda das Prager Gestapo-Gebäude im Petschek-Palast. Curda ist einer der tschechischen Kommandosoldaten, die in ihrer Heimat operieren sollen. Nach dem Attentat auf Heydrich tauchte er bei seiner Mutter unter. Unter dem Eindruck der Repressalien ist die Angst um sein Leben und das seiner Angehörigen jedoch stärker als seine idealistische Einstellung, die ihn in seine Heimat geführt hatte. Curda stellt sich und verrät die Namen der Kommandosoldaten und aller Kontakte in Tschechien, die ihm bekannt sind.

Die erste von dutzenden Adressen, die die Gestapo aufgrund Curdas Informationen stürmt, ist die Wohnung der Familie Moravec, die ein wichtiger Rückzugsort für die Kommandosoldaten war. Maria Moravec begeht noch während der Hausdurchsuchung Selbstmord, ihr Gatte Alois und Sohn Vlastimil werden festgenommen. Vlastimil hält der brutalen Folter der Gestapo zunächst stand. Als ihm die Folterknechte jedoch den abgetrennten Kopf seiner Mutter zeigen, knickt er ein. Nun verrät er seinen Peinigern, dass sich die Heydrich-Attentäter in der Kyrill-und-Method-Kirche befinden.

Kampf in der Kirche

In den Morgenstunden des 18. Juni 1942 erhalten das Wachbataillon „Prag“ und das Reservebataillon „Deutschland“ den Befehl, die Kyrill-und-Method-Kirche zu umstellen und die tschechischen Kommandosoldaten anzugreifen, die sich dort befinden. Um 0415 Uhr sind der innere und der äußere Sicherungsring bezogen und die Kirche abgeriegelt. Jan Kubiš, Jozef Gabcík und ihre fünf Kameraden sitzen in der Falle. Die deutschen Soldaten durchsuchen zunächst den Unterkunftstrakt des Gotteshauses, danach dringen sie in die Kirche ein. Dort werden sie bereits von Jan Kubiš und zwei seiner Kameraden erwartet, die sofort das Feuer auf die Eindringlinge eröffnen. Knapp zwei Stunden dauert der ungleiche Kampf in der Kirche, den die Kommandosoldaten bis zur vorletzten Patrone führen. Die zwei Kameraden von Kubiš beenden ihr Leben mit ihrer letzten Patrone, während Kubiš aufgrund seiner Verwundungen bereits das Bewusstsein verloren hat und im Sterben liegt. Nach dem Kampf werden die Körper der drei Soldaten aus der Kirche gebracht.

Die Angreifer wissen, dass sich noch weitere Soldaten in der Kirche befinden. Nun nehmen sie die Krypta ins Visier und sprengen deren Straßenfenster. Danach leiten sie Tränengas in den Raum, werfen Handgranaten durch die Öffnung und blenden die restlichen vier Kommandosoldaten mit starkem Flutlicht. Die Aufforderung, sich zu ergeben, erwidern diese jedoch mit den Worten: „Wir sind Tschechen! Wir werden uns nicht ergeben! Niemals!“. Um ihrer Aussage Nachdruck zu verleihen, werfen sie nun selbst Handgranaten durch die Fensteröffnung und können dabei den Flutlichtscheinwerfer zerstören. In ihrer Verzweiflung versuchen die Kommandosoldaten sogar einen Tunnel zu graben, um doch noch zu entkommen. Dieses Ansinnen – das zwar ohne Aussicht auf Erfolg ist, aber vom Überlebenswillen der Eingeschlossenen zeugt – müssen sie beenden, als die Prager Feuerwehr die Krypta mit Wasser flutet. Den Widerstandswillen der vier Kommandosoldaten kann aber auch diese Aktion nicht brechen.

Schließlich finden die deutschen Soldaten im Altarraum den Stein, mit dem der offizielle Eingang zur Krypta verschlossen ist. Nachdem sie diesen gesprengt hatten, ist das Schicksal der Kommandosoldaten endgültig besiegelt. Dennoch kämpfen auch sie bis zur vorletzten Patrone. Mit der letzten Patrone nehmen sie sich – so wie ihre Kameraden zuvor – das Leben. Nach sieben Stunden, bei dem die sieben tschechischen Kommandosoldaten 14 Angreifer töten und 21 verwunden konnten, ist der Kampf beendet. Auch ihre Leichen werden nun aus der Krypta getragen und neben ihre toten Kameraden gelegt. Dort wartet Karel Curda – der Mann, der sie und ihre Helfer verraten hatte – mit einigen deutschen Offizieren, um die Gefallenen zu identifizieren.

Die zweite Rachewelle

Der Verrat von Karel Curda war nicht nur für die sieben Kommandosoldaten das Todesurteil. Seine Informationen bedeuten auch den Tod für hunderte tschechische Widerstandskämpfer und ihre Familienmitglieder bzw. deren Verschleppung in das Konzentrationslager Theresienstadt. Egal ob und inwieweit sie eine der Kommandoaktionen unterstützt hatten, werden sie in Schnellverfahren zum Tode verurteilt. Damit nicht genug, wird erneut eine tschechische Ortschaft zum Ziel einer brutalen Vergeltungsaktion – Ležáky. In diesem Dorf waren die Kommandosoldaten der Operation „Silver A“ aktiv, die gemeinsam mit den Heydrich-Attentätern nach Tschechien geflogen waren. Ziel dieser Operation war es, eine Verbindung zur Londoner Exilregierung herzustellen, wozu in Ležáky ein Sender aufgestellt wurde. Am 24. Juni 1942 gehen Mitglieder von Gestapo, Schutzpolizei und SS nach dem gleichen Muster wie in Lidice gegen das Dorf vor. Der einzige Unterschied ist die Größe der Aktion, da es in Ležáky nur neun, in Lidice jedoch 96 Häuser gab.

Insgesamt werden 1 585 Tschechen im Zusammenhang mit dem Heydrich-Attentat an verschiedenen Orten des Landes hingerichtet und etwa 3.000 Juden in Vernichtungslager transportiert. Alleine auf dem Prager Schießplatz Kobylisy, etwa 1,5 Kilometer nördlich der Attentatsstelle, werden 463 Männer und 76 Frauen erschossen. Obwohl die zweite Terrorwelle offiziell am 3. Juli 1942 endet, sind die Mordaktionen an den Helfern und Unterstützern der tschechischen Kommandooperationen noch nicht beendet. So kommt es am 3. September 1942 zu einem öffentlichen Schauprozess im Gestapo-Hauptquartier im Petschek-Palast. Dabei werden die Mitglieder der orthodoxen Prager Gemeinde zum Tode verurteilt und am nächsten bzw. übernächsten Tag liquidiert.

Aber nicht nur in Prag, auch in Mauthausen werden Unterstützer der Heydrich-Attentäter ermordet. Am 23. Oktober 1942 kommen 288 „Fallschirmjäger“, wie die Männer, Frauen und nahen Angehörigen der tschechischen Kommandosoldaten zynisch von ihren Peinigern genannt werden, im Konzentrationslager Mauthausen an. Bereits einige Stunden nach ihrer Ankunft werden 257 von ihnen am 24. Oktober getötet, ihre Leichen in den Krematorien verbrannt und ihre Asche auf dem Gelände des Konzentrationslagers verstreut. Die restlichen 31 Personen des Transportes vom 23. Oktober 1942 werden am 26. Jänner 1943 ermordet.

Fazit der Kommandoaktionen

Die Operation „Anthropoid“ war eine von mehreren Aktionen tschechischer Kommandosoldaten in ihrer Heimat. Das Ziel dieser Operationen war es, als Aufklärung vor Ort einen Beitrag für das allgemeine Lagebild zu liefern, spezielle Informationen festzustellen, eine Funkverbindung zwischen dem tschechischen Widerstand und der Londoner Exilregierung aufzubauen und zu unterhalten, Ziele für die Angriffe britischer Bomberverbände zu markieren sowie selbst Ziele von militärischer und/oder politischer Relevanz bzw. medialer Reichweite anzugreifen und zu zerstören. Damit wollte man zwar eine tatsächliche Wirkung erreichen und die deutsche Kriegsmaschinerie schwächen, vor allem aber sollte der Welt und den eigenen Landsleuten gezeigt werden, dass man den Staat nicht aufgegeben hatte und bereit war, für eine freie Tschechoslowakei zu kämpfen.

Am 3. Oktober 1941 landeten die ersten Kommandosoldaten im Protektorat Böhmen und Mähren, die ein Monat später gefasst wurden, weshalb die deutschen Besatzer von den Kommandounternehmen wussten. Der Flug der Anthropoid-Crew war der zweite, bei dem Kommandosoldaten in Tschechien landeten. Sie waren, neben den Mitgliedern der Operation „Silver A“, die einzigen, die ihre Mission erfüllen konnten. Alle anderen wurden davor gefasst, verraten oder nahmen sich selbst das Leben, weil sie sich in einer ausweglosen Lage befanden. Obwohl diese Operationen nur einen geringen militärischen Nutzen hatten, waren sie für das Ansehen der Tschechoslowakei wichtig, da sie vom Widerstandswillen der Nation zeugten.

In dieses Narrativ lässt sich auch der erfolgreiche Anschlag auf Reinhard Heydrich einordnen, da kein anderer so hochrangiger Vertreter der nationalsozialistischen Herrschaftsriege bei einem Anschlag durch eine Widerstandsbewegung getötet wurde. Politisch konnte das Attentat und die Terrorwelle danach insofern verwertet werden, dass Frankreich und Großbritannien das Münchner Abkommen für null und nichtig erklärten, wozu sie davor noch nicht bereit waren. Innerhalb des Protektorates vertieften sich die Gräben zwischen der tschechischen und deutschen Volksgruppe durch die Repressalien jedoch so sehr, dass diese kaum mehr zu überwinden waren. Das äußerte sich unter anderem in der Vertreibung der sudetendeutschen Bevölkerung aus Böhmen und Mähren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

wird fortgesetzt

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Hofrat Gerold Keusch, BA ist Redakteur beim TRUPPENDIENST.

 

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