• Veröffentlichungsdatum : 11.03.2022
  • – Letztes Update : 31.03.2022

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In Geiselhaft - Journalistentraining

Christoph Fuchs

Egal ob Afghanistan, Syrien oder die Ukraine: In vielen Teilen der Erde wüten Konflikte. Um Menschen über diese zu informieren, riskieren einige Journalisten ihr Leben. Doch wie verhält man sich als Journalist in einem Kriegsgebiet? Welche Gefahren gilt es zu beachten? Was passiert, wenn man gefangen genommen wird? Um auf solche Situationen einigermaßen vorbereitet zu sein, gibt es ein einzigartiges Seminar.

Es ist knapp vor 0700 Uhr. In meinem Kopf gehe ich noch einmal die Gepäckliste durch, während ich im Innenhof der Rossauer Kaserne im 9. Wiener Gemeindebezirk warte. Regenschutz, Schlafsack, Taschenmesser. Check! Passfotos, Hygieneartikel (die ich in den nächsten Tagen nicht brauchen werde) und ein ärztliches Attest, das meine körperliche Eignung für das Seminar bestätigt. Check! Es ist noch früh, ich bin der Erste hier. Immer wieder muss ich an die Voraussetzungen denken: Fitness, hohe Stressfähigkeit und die Bereitschaft, sich intensiv mit den eigenen physischen und psychischen Grenzen auseinander zu setzen. Letzteres bereitet mir zunehmend Sorgen.

Ich bin einer von insgesamt zehn Medienschaffenden, die ein einmaliges Angebot vom Kuratorium für Journalistenausbildung (KfJ) angenommen haben. „Verhalten von Journalisten in Katastrophen- und Krisengebieten“ nennt sich das Seminar, das unter der Leitung des Jagdkommandos und mit Unterstützung des Einsatzkommandos Cobra am Truppenübungsplatz Allentsteig stattfindet. Das Angebot richtet sich an Journalisten, Fotografen und Kameraleute, die für Einsätze in solchen Regionen vorgesehen sind oder zumindest Interesse daran haben.

Langsam treffen immer mehr Teilnehmer ein. Als ich vom Covid-Test zurückkomme, sind wir beinahe vollzählig. Ich wechsle ein paar Worte mit einem jungen Mann und frage ihn, warum er am Seminar teilnimmt. Er sei freier Fotograf und würde vielleicht einmal eine Fotoserie über den Nahostkonflikt machen wollen. Kurz darauf erscheint ein hagerer, älterer Mann mit Jacke und aufgekrempelten Jeans. Etwas unsicher geht er auf die Ansprechperson zu und stellt sich als Vortragender vor. Nach seiner Akkreditierung gesellt er sich zu uns und beginnt zu plaudern. 15 Kriege habe der 72-Jährige miterlebt. Von Bosnien bis Syrien hat er von Konflikten aus der ganzen Welt berichtet, unter anderem für den ORF, RTL und Spiegel TV. 

Dann werden wir zusammengerufen, da wir anscheinend vollzählig sind und der Bus in Kürze eintreffen würde. 15 Plätze hat es für das Seminar gegeben, 16 Anmeldungen sind eingelangt. Drei Personen haben offensichtlich kalte Füße bekommen und sich abgemeldet – die restlichen vier waren nicht mehr zu erreichen. Die neun übrigen Teilnehmer sind alle Männer. Nach einer Begrüßung von Marcel, unserer Ansprechperson, machen wir uns auf den Weg zum Bus. Marcel ist nicht nur Ansprechperson, sondern nimmt auch selbst teil, womit wir zu zehnt sind. Wir stellen uns einander vor, plaudern und machen Scherze. Mit Humor verdeckt man Nervosität bekanntlich am besten. Diese lockere Kameradschaft soll sich über die gesamten zwei Tage ziehen – alle Vortragenden, Teilnehmer und Soldaten wollen geduzt werden. Wir verstauen unser Gepäck und sitzen auf. Die Fahrt verläuft entspannt, wir erzählen von uns und unserer Arbeit. Die Teilnehmer kommen von Radio, Tageszeitungen, Online-Nachrichtenportalen und Privatfernsehsendern. 

„Wie in CinemaScope“

Als gebürtiger Waldviertler fühle ich mich sogleich heimisch, als ich die nebelverhangene Landschaft in der Umgebung Zwettls vom Fenster aus betrachte. Die Sonne scheint. Um 0930 Uhr kommen wir in Stift Zwettl an. Auf einem Parkplatz für Reisebusse warten bereits Männer des Jagdkommandos in Camouflage-Uniform. Beim Aussteigen tanken wir frische Luft und werden vom stellvertretenden Kommandanten des Jagdkommandos, Oberst Rudolf Weissenbacher, begrüßt. Den anderen Soldaten im Hintergrund ist ein leichtes Grinsen und Ungeduld anzusehen. Nach ein paar Eröffnungsworten packen wir unsere Sachen und marschieren Richtung Truppenübungsplatz. Nach etwa 15 Minuten kommen wir beim Deckerhaus, unserer Lehrstätte, an. Der Essbereich am Eingang wirkt rustikal, aber heimelig. Dahinter ist der provisorische Lehrsaal, mit einfachen Bänken, staubigen Mauern, einem alten Holzkruzifix und einem kleinen Beamer ausgestattet. Wir werden gebeten, aufmerksam zu sein, weil Graffitis mit den Buchstaben „E.L.F.“ auf dem Truppenübungsplatz aufgetaucht seien. Die Bedeutung ist unbekannt. Noch ahne ich nicht, dass mehr hinter diesem Hinweis steckt. 

Der erste Vortrag startet. Der ältere Mann von vorher geht nach vorne und beginnt. Es ist Gerhard Tuschla, ein erfahrener Krisen- und Kriegsreporter, der nun gegen den Krebs kämpft. Ursprünglich wollte er Medienformate für junge Leute machen, bevor er sich im Bosnienkrieg Anfang der 1990er-Jahre als Berichterstatter wiederfand. Die Frage, ob er nervös vor der Abreise war, bejaht er. „In den Tagen zuvor erfindet man Ausreden, Entschuldigungen, dass man doch nicht gehen muss. Sobald man aber dort ist, ist man wegen des Adrenalins nicht mehr nervös“, so der Veteran über seinen Start.

Tuschla erzählt von seiner ersten Reise nach Bosnien während der Jugoslawienkriege. Er fuhr damals in Richtung der Stadt Mostar und war über die absolute Stille überrascht. Nicht einen Vogel hörte man zwitschern. Als er und seine Begleiter dann über die Stadt blickten, schlugen die Granaten ein. Rückblickend beschreibt Tuschla das Erlebnis als surreal. „Das war wie in CinemaScope.“ Für ihn sind Kriegsreporter „die Elite“ unter den Journalisten. Viele seiner Kolleginnen und Kollegen seien gestorben. Dabei betont er immer wieder, wie wichtig seine Grundausbildung beim Bundesheer im Verlauf seiner Karriere gewesen sei. „Ohne diese würde ich hier nicht lebend stehen“. Als großen Unterschied zum „normalen“ Journalisten sieht er die Suche nach der Story. Während man sich ansonsten auf die Suche nach einer Geschichte machen müsse, würden die Leute in Krisengebieten selbstständig auf einen zugehen und erzählen. Tuschla hat viel zu erzählen. Von ihm bekommen wir wichtige Tipps, falls man sich als Journalist in einer Krisen- oder Kriegsregion aufhält:

Neutralität

Kriegsreporter sind keine Aktivisten, sondern Berichterstatter, die die Pflicht haben, so neutral wie möglich zu sein. Lässt es die Gefahrenlage zu, sollte man mit allen Kriegsparteien Gespräche führen.

Vorsicht vor Propaganda 

Hat man Kontakt mit dem Kämpfer einer Konfliktpartei, wird er für seine Seite werben und von den Gräueltaten der Gegner berichten. Hier ist es wichtig, alle Fakten zu überprüfen und sich nicht in den Bann ziehen zu lassen.

Vorbereitung zuhause

Man sollte sich schon vor der Abreise gut vorbereiten. Ein „Fixer“ (Person, die von einem Auslandskorrespondenten oder einem Medium angestellt wird, um eine Story zu arrangieren) sollte bereits von Österreich aus kontaktiert werden. Zusätzlich ist es wichtig, sich mit den Gepflogenheiten und der aktuellen politischen und militärischen Situation des Ziellandes vertraut zu machen. Beim Gepäck sollte auf angemessene Kleidung, zuverlässiges Equipment und ausreichend Bargeld (vorzugsweise US-Dollar) geachtet werden. Die grobe Story sollte bereits im Kopf sein.

Keine unnötigen Risiken 

In Kriegs- und Krisengebieten besteht grundsätzlich Lebensgefahr. Man sollte deshalb hauptsächlich mit dem Militär unterwegs sein und sich immer mit dem Fixer bezüglich der Gefahren in der Region absprechen. Als mahnendes Beispiel erwähnt er den Tod von Nikolas Vogel 1991. Er und sein Fahrer Norbert Werner starben während des 10-Tage-Krieges in Slowenien, als sie versuchten, den Beschuss des Flughafens von Ljubljana zu filmen.

Krieg ist kein Film

In einem Krieg wird nicht durchgehend geschossen. Aber es ist möglich, dass eine Stadt bombardiert wird, während man im Nachbarort Kaffee trinkt. Hier ist es wichtig, sich genau zu informieren, wo Kämpfe stattfinden („War-Zone“) und wo nicht („Peace-Zone“). In Notfällen sollte man wissen, wo die österreichische Botschaft zu finden ist.

Niemals die Ethik vergessen 

Tuschla verabscheut „Desperados“. So nennt er Journalisten, die Soldaten und Kämpfer zu Gräueltaten animieren, um ein gutes Bild zu bekommen. Von Zeit zu Zeit gelangt man als Journalist in Grauzonen. Tuschla selbst interviewte für eine Story über das berüchtigte Abu-Ghraib-Gefängnis einen ehemaligen Henker Saddam Husseins. 

 

„Papier ist wertlos“

Während des Vortrages meldet sich immer wieder ein weiterer Mann zu Wort. Es ist Christian Kreuziger, der dieses Seminar mitveranstaltet hat. Kreuziger ist Journalist und Fotograf. Er hat ebenfalls Erfahrungen in Kriegsgebieten gesammelt. Dort hat ihn vor allem eines geprägt: Gerüche. Diese würden nie mehr aus dem Kopf gehen. „An den Leichengeruch werdet ihr euch gewöhnen müssen“. Doch neben den belastenden Dingen, die man als Kriegsreporter erlebt, gibt es auch Lichtblicke. Kleine Veränderungen, von denen Tuschla und Kreuziger erzählen. So war der erste Besuch in einem Gefängnis während der Jugoslawienkrise erschreckend: Überall Blut sowie dreckige und gefolterte Insassen. Um negative Publicity zu vermeiden, war der Zustand der Gefangenen beim zweiten Besuch besser. Solche kleinen Veränderungen würden die Welt besser machen, wenn auch nur ein wenig.

Als der Vortrag vorbei ist, freuen sich schon alle auf das Mittagessen. Es gibt Kartoffeln mit Rahmgemüse und etwas Fleisch. Ein junger Soldat des Jagdkommandos schenkt aus. Die Stimmung ist heiter, jedoch sind die Worte von Tuschla und Kreuziger nicht spurlos an uns vorbeigegangen. Der nächste Vortragende ist ein Soldat des Jagdkommandos. Selten habe ich ein so freundliches Gesicht gesehen, das irgendwie so gar nicht zu meiner Vorstellung eines Elite-Soldaten passen will. Als er von seinen beiden großen Leidenschaften – Bogenschießen und Winnie Puuh – erzählt, wird mir bewusst, dass Klischees beim Jagdkommando nichts verloren haben. Er ist in der Lehrgruppe 4 tätig, bei der sich alles um Umweltbedingungen und das Überleben in Einsätzen dreht. Er erzählt von seinen Erfahrungen und gibt uns Tipps, wie wir uns in Krisen- oder Kriegsgebieten verhalten sollen:

  • Akkreditierung: Diese sollte am besten durch das Militär oder ein Ministerium erfolgen;
  • Internationaler Presseausweis;
  • Risikoanalyse: Vorab sollte man über das Zielland alle relevanten Informationen, wie aktuelles Lagebild, Etikette, Bräuche und dergleichen einholen;
  • Persönlicher Krisenplan: Sollte sich der Aufenthalt im Ausland aufgrund unvorhergesehener Zwischenfälle verlängern, sollten die Angehörigen zuhause alle wichtigen Daten (Versicherung, Bank etc.) haben.

Er erwähnt auch die Resolution 1738 des UN-Sicherheitsrates, die den Status von Journalisten in bewaffneten Konflikten stärken und ihnen Schutz bieten soll. Auf diese könne man sich aber nicht immer verlassen. „Papier ist wertlos“, so der Ausbildner über seine Erfahrung. Besser sei es dagegen, gut ausgerüstete Einheiten an seiner Seite zu haben. „Je größer die Waffen sind, umso besser hat man es bei Checkpoints.“ Sollte entsprechende Ausrüstung nicht vorhanden sein, gehe auch ein selbstsicherer Bluff oder das Anbieten einer Zigarette, sofern die Gefahrenlage nicht zu groß sei. 
Entscheidend sei ein Notrucksack. Hier sollten alle wichtigen Dinge (Wasser, elektrische Versorgung, Kleidung, Medikamente etc.) für den Notfall gelagert werden. Der Rucksack sollte möglichst in einer knalligen, zivilen Farbe sein. So wird man von Scharfschützen nicht für einen Soldaten gehalten. Als Inhalt empfiehlt er die folgenden Gegenstände: 

  • Zwei Wasserflaschen (mind. 1,5 Liter);
  • Proviant (vorzugsweise Traubenzucker, Gummibärchen etc.) und etwas Salz;
  • Batterien und Power-Banks für die elektrischen Geräte;
  • Physische Karte von der Umgebung und ein GPS;
  • Feuerstarter, Feuerzeug oder Streichhölzer;
  • Minischlafsack;
  • Ersatzkleidung;
  • Dokumentenbeutel (wasserdicht) mit Ausweisen, Rufnummern etc.;
  • Feuchttücher und Klopapier;
  • Medikamente (Anti-Durchfalltabletten, Desinfektionsmittel etc.);
  • Schweizer Taschenmesser (praktisches Werkzeug mit hohem Tauschwert).

Protection, Location, Water, Food

Weiter geht es mit dem Thema Überleben in der Wildnis. Der Experte vom Jagdkommando hat eine wichtige Reihenfolge als Faustregel: Protection, Location, Water, Food.

Protection 

Zuerst ist der eigene Schutz vor Witterung, Feinden, wilden Tieren und Durst wichtig. Es hat oberste Priorität, von unmittelbaren Gefahrenquellen zu fliehen und einen Unterschlupf oder ein Versteck zu finden.

Location

Danach sollte man herausfinden, wo man sich befindet, sich mittels Karte, Landschaftspunkten oder Sonne orientieren und Aufmerksamkeit auf seine Position (SOS, Lichtsignal, Feuer etc.) schaffen.

Water

Wasser ist überlebenswichtig. Die eigenen Vorräte sollten gut eingeteilt werden. Ist Rettung länger nicht in Sicht, unbedingt Wasserquellen finden. In heißen Regionen verliert man zusätzlich Salz über den Schweiß. Es reicht dann, eine Messerspitze Salz in einer Wasserflasche aufzulösen. 

Food 

Verpflegung hat geringere Priorität. Dennoch sollte man ab und zu etwas essen. Lebensmittel, die schnell Energie bringen, sind zu bevorzugen. Statt auf das Hungergefühl oder einen knurrenden Magen zu achten, sollte man sich eher auf seine Erschöpfung oder Konzentration fokussieren. Erst wenn diese nachlassen, gilt es zu essen.

Neben Vorbereitung und Wissen sei die Psyche am wichtigsten. Zu 80 Prozent wäre die mentale Verfassung und der Umgang mit Stress für das Überleben in Extremsituationen verantwortlich. Der „Wille zum Überleben“ entscheide im Endeffekt. Dasselbe gilt auch in einer Gruppe. Um mental stark zu bleiben, sollte man positiv denken, Stimmungsschwankungen akzeptieren, sich sowie andere Überlebende beschäftigen und niemanden ausgrenzen. 

Mittlerweile sind wir alle etwas müde. So interessant die Vorträge auch sind, so unbequem sind die Bänke im provisorischen Lehrsaal. Nach einer kurzen Pause sollen wir uns draußen sammeln. „Jetzt geht es an die Praxis“, sagt ein Soldat. Wir marschieren durch das Dickicht und sehen ein paar Planen im Wald. Es sind Ponchos, die auch als provisorischer Unterschlupf dienen können. Wir bekommen kurz erklärt, wie und wo wir am besten einen Schlafplatz einrichten. Das System ist einfach und nach kurzer Zeit hat jeder ein „Dach“ über dem Kopf. Noch ahnen wir nicht, dass wir dieses Wissen noch brauchen werden. Als wir die Ponchos wieder abgebaut haben, dürfen wir sie behalten. 

Graue Maus

Als wir zum Deckerhaus zurückkommen, erwartet uns ein Jagdkommandosoldat mit ernstem Blick und Brille. Vor ihm sind Klebebänder, Kabelbinder und Handschellen in allen Ausführungen ausgebreitet. Ich schlucke kurz bei diesem Anblick. Er erklärt uns, wie man sich verhalten soll, wenn man gefesselt wird. Es sei wichtig, die „graue Maus“ zu spielen und eine Flucht nur zu erwägen, wenn große Gefahr droht. Zudem sollte man darauf achten, vor dem Körper gefesselt zu werden. Zuerst demonstriert er die Befreiung von Klebeband um die Handgelenke. Schon bei der Fesselung soll man Schmerzen simulieren und die Handgelenke verdrehen, um mehr Zwischenraum zu bekommen.

Es gibt zwei Möglichkeiten sich zu befreien. Die Erste sollte nur genutzt werden, wenn nicht mehr als drei bis vier Lagen Klebeband zum Fesseln genutzt wurden. Dabei legt man die Handflächen aneinander und bewegt beide Hände schräg nach oben, als wolle man einen Kopfsprung ins Wasser vorbereiten. Dann zieht man sie ruckartig über die Brust zurück, um die Fesseln aufzureißen. Die zweite Methode ist deutlich schmerzhafter. Durch ständiges Bewegen der Hände und Zuhilfenahme von Zähnen und Speichel versucht man, aus den Fesseln zu schlüpfen. Ich probiere beides aus. Mit der ersten Methode kann ich mich rasch befreien – mit der zweiten gelingt es mir nicht. Nach minutenlangem beißen und reißen an dem Klebeband muss ich schließlich aufgeben und mich losschneiden lassen. Ich blicke auf meine Handgelenke. Es fehlen viele Haare und die Haut ist stark gerötet.

Anschließend lernen wir, wie wir uns von Kabelbindern mittels einer speziellen Schnur und Reibung befreien können. Was sich mühsam anhört, geht überraschend schnell. Nach ein paar Sekunden bin ich von meinen Fesseln befreit. Am Ende folgt noch eine kurze Erklärung zu Handschellen und wie sie theoretisch zu knacken wären. Damit man das in der Praxis könne, wäre jedoch jede Menge Übung erforderlich. Mittlerweile hat die Dämmerung eingesetzt und wir machen Bekanntschaft mit den Waldviertler Mücken. 

Der Marathon an Vorträgen geht weiter. Das nächste Thema: Navigation. Die Aufnahmefähigkeit schwindet, als die Nacht hereinbricht. Kartenlesen, Navigations-Apps und die Funktion von GPS-Geräten. Auch ein vom TRUPPENDIENST herausgegebenes Taschenbuch („Kartenkunde“ von Werner Heriszt) wird vom Orientierungsexperten empfohlen. Beim anschließenden Abendessen sprechen wir mit einigen Jagdkommandosoldaten. Wir fragen, wo es am gefährlichsten war. „Afghanistan“, sagt ein Soldat, „aber Mali wird auch oft unterschätzt.“ Dann beginnt er von einem Hinterhalt im Tschad zu erzählen. Ein Feuergefecht mitten in der Nacht. Mir läuft es kalt den Rücken runter. Danach werden wir abermals in den Lehrsaal gerufen. Es ist bereits nach 2000 Uhr.

„Put your heads down!“

Im Lehrsaal angekommen, sehe ich zuerst den Soldaten mit der Brille vom „Fessel-Unterricht“. Dieses Mal spricht er vom Verhalten in Geiselsituationen. Schnell wird mir klar, dass andere Regeln als in Hollywood gelten. Die harten und Sprüche klopfenden Helden überleben in der Realität nicht lange. „Fallt nicht auf, spielt die graue Maus“, rät uns der Soldat. Wenn Geiselnehmer ein Exempel statuieren wollen, treffe es meistens die Vorlauten. Beim Verhör sollte man nicht lügen. Viele Geiselnehmer seien „Experten auf diesem Gebiet“ und durchschauen jede Geschichte. Lieber sollte man immer nur Teile der Wahrheit preisgeben, auf Zeit spielen und mit harmlosen Informationen anfangen. Persönliche oder einsatzrelevante Dinge sollten nur eingeschränkt preisgegeben werden. Bei Drohungen sollte man allerdings aufpassen. „Diese werden selten zweimal ausgesprochen.“

Wichtig sei es, selbst Informationen zu sammeln. Diese können später zum Fassen der Entführer führen. Zudem gilt es, die Geiselnehmer kennenzulernen. Wen kann ich um Gefälligkeiten bitten? Wer ist leicht reizbar? Wie sieht die Hierarchie aus? Dadurch könne man sich Vorteile verschaffen. Die zahlreichen Tipps und Verhaltensregeln werden nur noch mühsam aufgenommen. Trotz des spannenden Themas überwältigt mich die Müdigkeit. Ich blicke zur Seite. Gesenkte Köpfe, zufallende Augen. Der Jagdkommandosoldat bekommt einen Anruf und verlässt den Raum. Es ist bereits nach 23 00 Uhr, als es passiert.

Plötzlich ein Knall. Wir schrecken auf und blicken durch die Fenster. Der Lärm kommt von draußen. Mit Sturmhauben vermummte Soldaten mit Kalaschnikows stürmen in den Lehrsaal. Sie schreien uns an. „Put your heads down! Don´t move!“ Es sind mindestens vier Personen, genau kann ich es nicht sehen. Es passiert sehr schnell. Ich bekomme einen Sack über den Kopf. Dunkelheit. „Stand up, stand up!“ Eine wilde Frauenstimme. Mein Herzschlag wird schneller. Dann gehen wir blind in einer Reihe nach draußen. Ich halte mich an den Schultern des Vordermannes fest, die Person hinter mir tut es mir gleich. Ich werde vor eine Wand gestellt, die Hände dagegen gedrückt, den Blick gesenkt. Alles wird mir abgenommen: Smartphone, Schlüssel, Geldbörse. Meine Armbanduhr wird entdeckt und ebenfalls konfisziert. „Oh! Thats a nice watch! I think these are rich journalists!“, höre ich. Anschließend bilden wir wieder eine Schlange. Blind steigen wir in einen Transporter ein. Ruppig werde ich in den Sitz gedrückt und angeschnallt. Ein Motor startet. Unter wilder Freude der vermummten Männer und Frauen setzt sich der Lkw in Bewegung. Die Geiselnehmer jubeln über uns – ihre Beute. Es beginnt eine Fahrt, die sich sehr lange anfühlt und mich müde macht. Später werden wir erfahren, dass es nur ungefähr 20 Minuten waren.

Die E.L.F.

Das Zeitgefühl verschwindet immer mehr, je länger ich im Transporter sitze. Plötzlich stoppt der Wagen. Ich werde in einen Raum geführt. Spannung macht sich breit, als uns das Kommando zum Warten gegeben wird. „Masks of!“, ertönt der Befehl. Das Licht blendet mich. Nach einigen Sekunden erkenne ich mehrere vermummte Gestalten, die mit Sturmgewehren vor uns stehen. Ich blicke kurz nach links und rechts. Die anderen Journalisten stehen auch da. Mit Handschellen gefesselt – so wie ich. Einige starren ins Leere, andere wirken erschrocken, ein paar versuchen ein Schmunzeln zu unterdrücken. Gebrüllte Verwarnungen sorgen dafür, dass das Grinsen rasch verschwindet. Es ist uns verboten, die Geiselnehmer direkt anzusehen. Wir müssen nun die Säcke, die über unseren Köpfen waren, sorgfältig und parallel falten. So schnell wie möglich. Ich bekomme es halbwegs gut und sauber hin. Immer wieder müssen wir die Säcke falten, präsentieren und auf Kommando wieder über unsere Köpfe stülpen. Eine Erinnerung an den vorherigen Vortrag flammt auf. „Geiselnehmer üben oft physische Kontrolle auf die Geiseln aus. Das macht gefügiger.“ Das „Spiel“ wird noch eine Weile gespielt, bis wir schließlich den Grund für die „Disziplinierung“ erfahren: Der Boss der Geiselnehmer würde kommen – und er erwarte Gehorsam.

Nach einigen Minuten betritt ein großer Mann mit Barett und Tarnuniform den Raum. Sein Gesicht ist durch ein Tuch vermummt, auf dem ein bizarres Grinsen aufgedruckt ist. Wir werden aufgefordert, ihn direkt anzusehen. „When the boss enters the room, look at him!“ Sein stechender Blick erwidert meinen, bevor er weiter wandert. „Gentlemen“, eine kalte Ruhe geht von ihm aus. „Welcome! You are guests of the E.L.F., the European Liberation Front.“ Ich erinnere mich an die beiläufige Information am Anfang des Seminars. Er nennt uns drei Forderungen: Sie erwarten für jeden von uns eine Millionen Euro Lösegeld vom Staat Österreich, sobald wir freigelassen werden, sollten wir gut über die Organisation berichten und alle inhaftierten Mitglieder der E.L.F. sollen freigelassen werden.

Mantra-artig müssen wir diese drei Forderungen immer wieder wiederholen. Der Boss verabschiedet sich. Er erinnert uns daran, dass wir keine Geiseln, sondern „Gäste“ wären. Nun soll ein Video-Statement, in dem wir die Forderungen der E.L.F. nennen, gedreht werden. Ich erinnere mich an das Seminar. „Seid kooperativ und versucht bei einem Video-Statement eine emotionale Wirkung – in Form einer Nachricht an die Familie oder Freunde – zu hinterlassen.“ Wir stellen uns vor eine Kamera und werden zum Lächeln gedrängt. Nach einigen missglückten Versprechern gelingt es uns schließlich, ein Statement herauszuwürgen.

Ich bin müde und meine Konzentration schwindet. Da die Mitglieder der E.L.F. mit dem Video unzufrieden sind, fordern sie ein schriftliches Statement von jedem. Die unterschiedlichen E.L.F.-Mitglieder lernen wir bei den Schichtwechseln kennen. Von freundlichen Menschen, die wir um Wasser und Brot bitten, bis zu Sadisten, die uns mit Amputation drohen, sind alle Charaktere vertreten. Nach einiger Zeit bekommen wir durch ein Flüstern mit, dass das Lösegeld bezahlt werden würde. Innerlich stelle ich mich schon auf unsere Befreiung ein. Während wir laute Partymusik und Feierstimmung in der Ferne vernehmen, öffnet sich die Tür: Soldaten des Jagdkommandos schleichen in den Raum, knacken unsere Handschellen und befreien uns aus dem Container. In fast völliger Finsternis laufen wir über ein Feld zu Geländefahrzeugen. Nach einer kurzen Fahrt bleiben wir auf einem Waldweg stehen. Die Aktion ist damit beendet.

Es folgt ein Debriefing und wir werden gebeten, uns zum Schlafen bereit zu machen. Unsere Ruck- und Schlafsäcke sowie unser Hab und Gut bekommen wir zurück. Im Dickicht des Waldes bauen wir mithilfe der Ponchos unser Nachtlager auf. Als ich erschöpft in den Schlafsack krieche, blicke ich auf die Uhr: 0423, bei 6° Celsius. In Weste und Jacke eingepackt dauert es dennoch nicht lange, bis ich einschlafe.

Combat Ration am Morgen

Nach etwa drei Stunden Schlaf werden wir sanft geweckt. Wir räumen das Lager und marschieren zur ersten Station des zweiten Tages: Feuer machen, damit wir ein Frühstück zubereiten können. Es gibt kein Feuerzeug, keine Streichhölzer, sondern nur einen Feuerstarter. Bei Schwierigkeiten helfen uns Soldaten des Jagdkommandos. Mit gekochtem Wasser bereiten wir die „Combat Rations“ zu und entspannen uns ein wenig vor den warmen Flammen. Anschließend werden wir von zwei Hubschraubern abgeholt, die uns zu den nächsten Stationen fliegen: Minen- und Schießkunde. 

Hier lernen wir verschiedene Minenarten kennen, erfahren, wie verminte Gebiete gekennzeichnet sind und erleben sogar die Sprengung einiger Minen von einem sicheren Bunker aus. Bei der Schießstation sehen wir die Wirkung einer Pistole, eines Sturmgewehres und eines Scharfschützengewehres auf Autotüren, Holz- und Betonwände. Hier lernen wir die Lektion, dass eine Autotür keinen Schutz bietet – auch nicht vor kleinen Projektilen. Eine Lektion, die wir noch brauchen werden. Mit der Pistole dürfen wir anschließend ein paar Probeschüsse unter Aufsicht des Stationsleiters abgeben.

Bei der Rückkehr zum Deckerhaus stellen wir fest, dass neue Gesichter anwesend sind: das Einsatzkommando Cobra. Zurück im Lehrsaal erfahren wir von einer letzten Übung, die wir noch absolvieren müssen. Das Szenario ist wie folgt: Wir sind in einem Bürgerkriegsgebiet und haben die Aufgabe, von einer Pressekonferenz des lokalen Befehlshabers zu berichten. Dazu werden wir in zwei Gruppen zu je fünf Personen aufgeteilt, wobei jede Gruppe einen Fixer zugeteilt bekommt. Dieser soll uns bis 2000 Uhr zur Pressekonferenz bringen.

Als meine Gruppe in das Auto des Fixers einsteigt, stellen wir fest, dass er kein Deutsch spricht und seine Englischkenntnisse bescheiden sind. Er antwortet nur in knappen Sätzen und macht einen nervösen Eindruck. Als wir am ersten Checkpoint ankommen, zeigen wir den mit Sturmgewehren bewaffneten Kontrolleuren unsere Presseausweise. Dann ein Schuss. Der Checkpoint wird angegriffen. Ein Feuergefecht beginnt. Staub wirbelt durch die Luft. Ich erinnere mich zurück an die Schießstation. „Eine Autotür ist nicht sicher!“ Schnell steigen wir aus dem Transporter und verschanzen uns hinter dem Motorblock und der Hinterachse. Im Chaos des Gefechtes wird einer der Kontrolleure verwundet – sein Bein färbt sich rot. Zwei von uns ziehen ihn hinter den Wagen. Einer der Soldaten vom Checkpoint drängt uns zur Flucht. Wir sollen ihn und den Verletzten mitnehmen.

Wir verfrachten den Verletzten rasch in den Laderaum, steigen ins Fahrzeug und fahren mit beunruhigender Geschwindigkeit davon. Noch immer knattern Schüsse durch die Luft. Die engen Feldwege des Truppenübungsplatzes sind holprig. Mein Herz klopft wild. Einer von uns kümmert sich im Laderaum um den Verletzten. Sein Kamerad auf dem Beifahrersitz fragt nach seinem Gesundheitszustand und ob er noch leben würde. Lange dauert die Fahrt nicht, da werden wir schon beim nächsten Checkpoint aufgehalten. Nachdem wir den Soldaten erklären konnten, warum wir mit einem ihrer verletzten Kameraden unterwegs sind, werden wir wieder kontrolliert. Einzeln müssen wir aus dem Fahrzeug aussteigen und werden von oben bis unten durchsucht. Zunächst sind alle entspannt und ruhig – bis sie unter dem Beifahrersitz eine Waffe entdecken. Unser Fixer war offenbar ein Waffenschmuggler. 

Das Geständnis

Es ist dunkel und die Luft ist stickig. Meine Handgelenke sind wund von den Kabelbindern und ich höre laute Stimmen aus dem Nebenzimmer. Durch die Dunkelbrille kann ich nur schwer etwas erkennen. Nachdem die Waffe entdeckt wurde, ging alles ganz schnell. Wir wurden verhaftet, gefesselt und in eine Art Polizeistation gebracht. Die meiste Zeit sind wir allein, also können wir miteinander sprechen. Zuerst einigen wir uns darauf, dass wir die Brillen leicht verschieben, sodass wir etwas sehen können, ohne Verdacht zu erregen.

Wir scheinen uns in einem Umkleideraum zu befinden. Ich erkenne Spinde, kleine Fenster, durch die schwaches Licht scheint, und eine verschlossene Tür. Regelmäßig kommen Soldaten und nehmen einen von uns zum Einzelverhör mit. Keiner kommt zurück. Als wir immer weniger werden, trennt man uns. Ich komme in einen kleinen, dunklen Raum und soll mich zwischen zwei Regalen setzen. Nach einer gefühlten Ewigkeit werde ich abgeholt und gehe einen Gang entlang. Mein Kopf ist gesenkt. Im Augenwinkel erkenne ich Stiefel und gesenkte Gewehrläufe. Ich werde aufgefordert, mich auf einen unbequemen alten Holzsessel zu setzen. Dann wird mir die Brille abgenommen.

Ein Scheinwerfer blendet mich. Vor mir sind die Umrisse eines Mannes, neben ihm stehen Soldaten mit Sturmgewehren. Den Blick soll ich gesenkt halten, die Handflächen auf den Tisch. Vor mir liegt ein Schreiben – ein gefälschtes Geständnis, dass ich vorhaben würde „Fake News“ zu verbreiten und mich an dem Elend im Land bereichern will. Daneben liegt ein Kugelschreiber in einer kleinen Blutlache. Ich werde gefragt, woher die Waffe aus dem Auto sei. Wahrheitsgemäß beteuere ich immer wieder, dass ich von nichts weiß. Schließlich soll ich das Geständnis vorlesen und anschließend unterschreiben. Ich nehme den blutigen Kugelschreiber und unterschreibe. Mir bleibt keine Wahl. Anschließend verbindet man mir wieder die Augen und ich werde nach draußen gebracht. Ich spüre Gras unter meinen Füßen und frische Septemberluft. Ich soll stehen bleiben. Schritte kommen näher. Dann höre ich ein Klicken.
 

„Bring the Story Home“

Es fühlt sich gut an, als man mir die Kabelbinder von den Handgelenken schneidet. Ein Polizist der Cobra befreit mich von der Augenbinde und fragt mich, ob alles in Ordnung sei. Nach ein paar Schritten wird mir klar, dass wir wieder beim Deckerhaus sind. Auch Christian Kreuziger und das Jagdkommando sind wieder da. Anschließend erfolgt das Debriefing im Lehrsaal des Deckerhauses. Wir lassen die zwei Tage noch einmal Revue passieren: die Worte der Kriegsreporter, den Unterricht des Jagdkommandos, den Bau des Unterschlupfes, die Gefangennahme durch die E.L.F. und die Übernachtung im Wald nach der Befreiung durch das Jagdkommando am ersten Tag. Dann der Start in den heutigen Tag mit selbstgemachtem Feuer, dem Helikopterflug, die Minen- und Schießstation sowie die „Abschlussübung“ im Bürgerkriegsland.

Ich fühle mich um eine wesentliche Erfahrung reicher. Und auch dankbarer. Vielleicht rettet das Seminar einem von uns eines Tages das Leben. Mittlerweile ist es Nacht geworden. Zum Abschluss verabschieden wir uns von den Soldaten des Jagdkommandos, den Polizisten der Cobra und Christian Kreuziger. Dreckig, müde und voller Sehnsucht nach einem richtigen Bett schleppen wir uns zum Reisebus, der kurz zuvor angekommen ist. Die Energie zum Lesen der Unterlagen, die uns mitgegeben wurden, fehlt mir. Die Ereignisse regen mich zum Nachdenken an und ich erkenne, was das Wichtigste an der Arbeit eines Journalisten ist: eine gute Geschichte mit Mehrwert nach Hause zu bringen. „Bring the Story home“, wie Tuschla zu Beginn sagte.  

Christoph Fuchs, BA; Redakteur beim TRUPPENDIENST.  

 

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