• Veröffentlichungsdatum : 09.04.2020

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  • 645 Wörter

Eine Erfahrung, die uns an die Grenze bringt?

Wolfgang Prinz

In jeder Sekunde leiten unsere Sinnesorgane unzählige Reize an das Gehirn weiter. Bewusst wahrnehmen können wir nur einen Bruchteil davon. Probieren Sie es aus! Konzentrieren Sie sich darauf was Sie gerade alles sehen können. Nun darauf was Sie gerade riechen. Was Sie schmecken. Welche Geräusche Sie hören. Welche Temperatur Sie wahrnehmen. Welche körperlichen Empfindungen Sie spüren. Nehmen Sie all diese Einflüsse ständig bewusst wahr? Wohl kaum.

Wovon hängt es ab, welche dieser ständigen Eindrücke wir bewusst erleben? In erster Linie von unseren Wahrnehmungsfiltern, die es uns ermöglichen, dass wir uns auf wichtige Dinge konzentrieren und Unwichtiges ausblenden. Diese Filter werden durch Emotionen, Interessen, Meinungen und auch durch Lernprozesse geformt. Ein Beispiel aus dem Alltag: Wenn Eltern auf harmlose körperliche Symptome eines Kindes immer wieder mit starker Besorgnis reagieren, so lernen manche Kinder, diese Symptome ebenfalls als gefährlich wahrzunehmen. Selbst als Erwachsene zeigen sie dann häufig noch unbegründete Krankheitsängste - ohne sich der zugrundliegenden Lernprozesse bewusst zu sein.

Haben wir einmal gelernt, die Welt in einem bestimmten Licht zu sehen, neigen wir dazu, besonders jene Dinge wahrzunehmen, die unsere Ansichten bestätigen. Sind wir zum Beispiel der Meinung, dass der Partner nie sein schmutziges Geschirr wegräumt, so tendieren wir dazu, genau diese Vorkommnisse im Gedächtnis zu behalten. Die vielen Male, an denen die Teller vielleicht doch den Weg zum Geschirrspüler fanden, blenden wir mitunter gekonnt aus.

Zusammengefasst könnte man also sagen, dass unsere Wahrnehmungsfilter die Realität auf Basis unserer Lernerfahrungen, Einstellungen usw. vereinfachen und zurechtrücken. Der Grund dafür ist, dass uns angesichts der vielen Entscheidungen, die wir täglich zu treffen haben, die Zeit für ausführliche Analysen fehlt. So gesehen sind unsere Wahrnehmungsmechanismen äußerst nützlich. Ihre Kehrseite ist, dass dadurch unsere Sicht der Wirklichkeit verzerrt wird und wir möglicherweise Entscheidungen treffen, die nur bedingt der Realität gerecht werden.

Was hat das mit der Flüchtlings- und Migrationskrise beziehungsweise dem daraus resultierenden sicherheitspolizeilichen Assistenzeinsatz zu tun? Sehr viel! Denn man kann gerade hier sehr deutlich erkennen wie mächtig und unterschiedlich unsere Wahrnehmungsfilter sein können. Wie sonst könnte man erklären, dass sich die einzelnen Meinungen von „alles kein Problem“ bis hin zu Weltuntergangsszenarien erstrecken?

Aus psychologischer Sicht sollten wir dabei bedenken, dass wir besonders bei komplexen Sachverhalten - aus all den genannten Gründen - dazu neigen, die Wirklichkeit zu vereinfachen und an unsere Einstellungen anzupassen. So gesehen könnte man sagen, dass uns die Flüchtlings- und Migrationskrise beziehungsweise der sicherheitspolizeiliche Assistenzeinsatz - unabhängig davon, wie man selbst dazu steht - zumindest an die Grenzen unserer Urteilsfähigkeit bringt. Problematisch ist, dass wir hierdurch Gefahr laufen, inadäquate Entscheidungen zu treffen.
Wie können wir damit umgehen?

Zunächst die schlechte Nachricht: niemand kann seine Wahrnehmungsfilter einfach ablegen. Sie sind bei jedem Einzelnen über viele Jahre gewachsen - aus guten Gründen.

Die gute Nachricht ist, dass wir uns weiterentwickeln können. Umso extremer die eigene Meinung ist - von der Schwarzmalerei bis zum reflexartigen Herunterspielen - und umso stärker die damit verbundenen Emotionen sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass unsere Ansichten mehr mit persönlichen Bedürfnissen oder Lernerfahrungen zu tun haben als mit den realen Gegebenheiten. Gerade deshalb ist es sinnvoll, die eigene Sichtweise zu erweitern.

Hierzu können wir uns Fragen stellen wie: Welche Aspekte des Themas rücke ich in den Vordergrund, um meine Meinung zu bestätigen? Welche Dinge blende ich lieber aus weil sie mit der eigenen Einstellung schwer zu vereinbaren wären? Vertrete ich tatsächlich eigene Ansichten oder habe ich lediglich eine Haltung gelernt?

Wir können außerdem hinterfragen, ob unsere Meinungen auf zuverlässigen Informationen beruhen. Zu guter Letzt können wir uns mit Menschen auseinandersetzen, die anders denken als wir. Denn subjektive Sichtweisen werden vor allem dann als Wahrheit erlebt, wenn wir uns hauptsächlich mit Gleichgesinnten austauschen.

Bei all dem könnte man es als „schwach“ empfinden, die eigene Meinung zu hinterfragen oder gar zu ändern. Man könnte es aber auch als gelungene Anpassung an neue Situationen sehen. Dies würde zudem ziemlich genau einer klassischen Definition von
Intelligenz entsprechen.

Mag. Wolfgang Prinz ist Psychologe beim Heerespsychologischen Dienst.

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