• Veröffentlichungsdatum : 20.06.2018
  • – Letztes Update : 26.06.2018

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Die ukrainischen Streitkräfte seit 1991

Michael Barthou

Von 1997 bis 2013 befanden sich die ukrainischen Streitkräfte auf dem Wege der Neuausrichtung ihrer Struktur und der Redimensionierung von Ausrüstung und Gerät. Der Weg von einer Wehrpflichtigen- zu einer Berufsarmee mit moderner Ausrüstung konnte nicht abgeschlossen werden und wurde 2014 mit dem Anti-Terror-Einsatz im Inneren des Landes auf Eis gelegt. Gleichzeitig finden seit 2014 eine Wiederaufrüstung der Armee und eine Personaloffensive statt. 

Streitkräfte 1991 bis 2013

Der Kollaps der Sowjetunion 1991 führte zur Unabhängigkeit der ehemaligen Sowjetrepubliken einschließlich der Ukraine. Dies bedingte unter anderem die Aufstellung von nationalen Streitkräften. Bereits 1990, vor der Proklamation der Republik Ukraine, wurden in einem ukrai­nischen Militärkomitee vorbereitende Maßnahmen für die Bildung von eigenen Streitkräften getroffen, die eine Formierung des Militärs auf Basis der militärischen Verbände der sowjetischen Armee auf dem Hoheitsgebiet der Ukraine vorsahen. So erhielt die junge Republik nach der Ausrufung ihrer Unabhängigkeit im Dezember 1991 durch im Vorfeld beschlossene Resolutionen eine große Menge an Gerät, Fahrzeugen, Ausrüstung und Bewaffnung der sich auflösenden sowjetischen Armee. Das hatte jedoch einen Nachteil: die „geerbte“ Organisationsstruktur war für eine sinnvolle künftige Verteidigung der Ukraine überflüssig geworden. 75 Pro­zent der Ausrüstung und des Materials waren über 20 Jahre alt und technologisch veraltet.

Das Konzept für die ukrainischen Streitkräfte wurde am 11. Oktober 1991 durch das ukrainische Parlament verabschiedet, das den Aufbau von Land-, Luft-, Luftabwehr- und Seestreitkräften vorsah. Fast zwei Monate später, am 6. Dezember, verabschiedete das Parlament das „Wehrgesetz“ und das „Gesetz über die Ukrainischen Streitkräfte“. Noch am selben Tag führte man den Text des Treueeides auf die Republik Ukraine ein. Zu diesem Zeitpunkt hatten die „neuen“ ukrainischen Streitkräfte eine Stärke von etwa 980.000 Personen mit über 9.200 Panzern, 11.340 Kampffahrzeugen und 1.500 Luftfahrzeugen (inklusive Hubschraubern und Kampfflugzeugen).

1992 ratifizierte die Ukraine den „Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa“, was zu einer Reduktion auf 3.900 Panzer, etwa 8.900 Kampffahrzeuge und 1.000 Luftfahrzeuge führte. 1993 limitierte das ukrainische Parlament die maximale Stärke der Streitkräfte auf 455.000 Personen. Gleichzeitig wurde die ukrainische Militärdoktrin mit dem Ziel, die Verteidigungssysteme, Struktur, Organisation und Institutionen auf die geopolitischen und geostrategischen Gegebenheiten in Europa anzupassen, verabschiedet. In den folgenden Jahren wurden zahlreiche Reformen und Umgliederungen innerhalb der Streitkräfte eingeleitet, deren Umsetzung aber durch die wachsende Wirtschaftskrise innerhalb der Ukraine kaum möglich war.

Das größte Problem zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation als Nachfolgestaat der Sowjetunion verursachte die Frage der Aufteilung der Schwarzmeer-Flotte. Diese war gleich nach der Auflösung der Sowjetunion aufgrund der territorialen Lage unter ukrainische Kontrolle gefallen. Am 3. August 1993 einigten sich der ukrainische Präsident, Leonid Kutschma, und der russische Präsident, Boris Jelzin, die Flotte in zwei gleiche Teile aufzugliedern. Russland verzögerte jedoch die Umsetzung bis 1995 - erst dann wurde die „Teilung“ offiziell von den beiden Präsidenten unterzeichnet. Nach dieser bekam die Ukraine nur knapp ein Fünftel der Schiffe, der Großteil ging an Russland inklusive der Rechte einer weiteren Nutzung des Schwarzmeer-Flottenstützpunktes in Sewastopol auf der Halbinsel Krim.

Die Ukraine war 1991 das Land mit den meisten Atomwaffen auf ihrem Staatsgebiet. Im Budapester Memorandum vom 5. Dezember 1994 verpflichteten sich die USA, Großbritannien und Russland in drei getrennten Erklärungen, jeweils gegenüber Kasachstan, Weißrussland und der Ukraine, als Gegenleistung für einen Nuklearwaffenverzicht die Souveränität und die bestehenden Grenzen der Länder zu achten. Ende Mai 1996 war die Ukraine nuklearwaffenfrei.

Die ukrainischen Streitkräfte wurden laufend reformiert, umstrukturiert und die Anzahl der Soldaten reduziert. Ende 2005 waren noch 245.000 Personen in den Streitkräften beschäftigt, der größte Anteil diente in den Landstreitkräften. 2013 bestanden die Streitkräfte aus etwa 168.000 Personen, davon 57.000 in den Landstreitkräften mit insgesamt knapp 700 Panzern, 72 Hubschraubern, über 2.000 Kampffahrzeugen und über 700 Artilleriesystemen. Anpassungen der Waffensysteme und eine Aufwertung des Gerätes erfolgten nur spärlich. Bei den Landstreitkräften blieb der Großteil auf dem Stand aus der Sowjetzeit, Innovationen wie der T-84U „Oplot“ wurden nur in kleinen Stückzahlen angeschafft. Die Luftstreitkräfte konnten ihre Flugzeuge nur teilweise mit moderner Technologie ausstatten - dies erfolgte individuell und stückweise wie bei den MiG-29 „Fulcrum“-Kampfflugzeugen, den Su-25-Kampfbombern oder den Aero L-39 „Albatros“-Schulflugzeugen. Gar keine „Upgrades“ erhielten die Seestreitkräfte.

Bereits seit längerer Zeit existierten Pläne, die allgemeine Wehrpflicht komplett abzuschaffen und die Streitkräfte noch weiter zu verkleinern. So gab es zu Beginn 2013 schon 45.000 Vertragspersonen in den Streitkräften, wobei aber nur 15.000 bei der Truppe (Landstreitkräfte: 5.000) Dienst versahen. Am 14. Oktober 2013 unterzeichnete der ukrainische Präsident ein Gesetz, das nur mehr eine kleine Wehrpflichtigenarmee für internationale Einsätze vorsah, und der Großteil der Truppe sollte aus Berufssoldaten bestehen.

Streitkräfte 2014 bis heute

Die endgültige Abschaffung der Wehrpflicht und der Übergang zu einer Berufsarmee hätte 2014 erfolgen sollen. Dazu kam es jedoch nicht. Aufgrund der „Verschlechterung der Sicherheitslage im Osten und Süden des Landes“ müssen seit Mai 2014 Männer im Alter von 18 bis 25 Jahren wieder ihren Wehrdienst leisten. Die ukrainische Übergangsregierung versetzte die Streitkräfte in volle Kampfbereitschaft und berief am 2. März 2014 ihre Reservisten ein. Die Teilmobilmachung diente dazu, um „Schritte zur Wahrung von Ruhe und Ordnung“ zu ergreifen.

Zu diesem Zeitpunkt bestanden die Landstreitkräfte aus:

  • 7 Panzergrenadierbrigaden,
  • 1 Gebirgsbrigade,
  • 2 Artilleriebrigaden,
  • 1 Aufklärungsbataillon,
  • 3 Raketenartilleriebrigaden,
  • 2 Heeresfliegerbrigaden und
  • 1 Heeresfliegerregiment.

Insgesamt bestanden die ukrainischen Streitkräfte nach drei Teilmobilmachungswellen aus fast 166.000 Personen, davon etwa 121.000 Soldaten. Zusätzlich wurde zur territorialen Verteidigung eine Anti-Terror-Operation (ATO) mit einem Operationshauptquartier, das unter der Federführung des ukrainischen Sicherheitsdienstes steht, ins Leben gerufen. Oberstes Ziel der Streitkräfte war es nun, die militärischen Kommanden kampfbereit zu machen, die Befehlsabläufe und das Kampfmanagement der Kräfte in die ATO zu implementieren, die Strukturen der Armee zu verbessern und mit Personal zu befüllen.

Nebenbei beschloss am 12. März 2014 das ukrainische Parlament die Neugründung einer ukrainischen Nationalgarde, die dem Innenministerium untersteht. Diese Sondereinheit soll „die Sicherheit des Staates garantieren, die Grenzen verteidigen und Terrorgruppen ausschalten“. Am 14. Jänner 2015 wurde eine weitere Teilmobilmachung ausgerufen, wobei etwa 45.000 Personen und 1.800 Fahrzeuge eingezogen wurden. Hauptsächlich kam in dieser Zeit die Armee in kräfteübergreifenden Operationen in Kombination mit der territorialen Verteidigung zum Einsatz.

Auch in der Struktur kam es zu Änderungen, die durch die ATO beeinflusst waren. Die Streitkräfte wurden in die Kommanden Heer, Luftwaffe, Marine, Luftbewegliche Kräfte und Special Operation Forces umgegliedert, um optimale Strukturen, bessere Ausrüstung und besseres Training der Soldaten für die Auftragserfüllung zu gewährleisten. Neben zwei zusätzlichen Operativen Kommanden wurden auch einige mechanisierte und Artillerie- und Kampfunterstützungsbrigaden aufgestellt. Um besser und über einen längeren Zeitraum hinweg eine Führung auf Ebene eines operativen Kommandos sicherzustellen, wurde das Streitkräfteführungskommando (Joint Operational HQ) gebildet.

2015 wurden insgesamt über 44.000 organisatorische Maßnahmen zur Optimierung und Reorganisation der Streitkräfte durchgeführt. Diese Reformen basieren auf einer Reihe von Gesetzen und Programmen, wie der Strategischen Verteidigungsbekanntmachung der Streitkräfte, der Ukrainischen Militärdoktrin, des Staatsverteidigungsprogramms zur Optimierung und Reorganisation der Streitkräfte 2015 bis 2017 etc.

Mit dem Gesetz Nr. 235-VIII vom 5. März 2015 wurde den ukrainischen Streitkräften eine Soll-Stärke von bis zu 250.000 Personen, davon 204.000 Soldaten mit dem Zusatz zugestanden, dass sich die Personalstärke je nach politischer und militärischer Situation, Organisationsstruktur und Ressourcen jährlich ändern kann. Das Verteidigungsbudget ging ebenfalls wesentlich in die Höhe. Im Vergleich zu 2014 betrug es mehr als das 2,5-Fache und gegenüber 2013 mehr als das 6,5-Fache.

Trotz des 2015 vereinbarten Waffenstillstandsabkommens Minsk II hatten die ukrainischen Streitkräfte 468 Tote und 2.324 verletzte Soldaten zu verzeichnen. 2016 gingen die Umstrukturierung und Neuaufstellung von Kommanden und Verbänden weiter und näherten sich jenen von NATO-Staaten an. Ebenfalls wurde unter anderem mit der Bildung einer Operativen Reserve mit vorerst 100.000 Personen begonnen. Ein weiteres Ziel der Streitkräfte war eine ansteigende Teilnahme an multinationalen Übungen, um die neu eingeführten Standards weiter zu verbessern und NATO-Erfahrungen zu sammeln. Seit 3. Juni 2016 dürfen Frauen ebenfalls in Kampfeinheiten ihren Dienst versehen. Laut dem ukrainischen Präsidenten, Petro Poroschenko, dienten im Oktober bereits mehr als 10.000 Frauen in Kampfeinheiten.

2017 intensivierten sich die Kämpfe innerhalb der Ukraine erneut. 197 Soldaten kamen dabei ums Leben, 200 wurden verwundet. Die Strukturreformen hatten weiterhin oberste Priorität genauso wie die Erweiterungen der operativen Fähigkeiten und die gesteigerte Schlagkraft der Streitkräfte. Zahlreiche Ziele wurden bis Ende 2017 erreicht, unter anderem die Steigerung der taktischen Übungen auf Bataillons- und Brigadeebene um mehr als 65 Prozent und die Abhaltung von 32 Brigadeübungen. Ebenfalls wurden mehr als 1.200 neue Fahrzeuge und Geräte beschafft.

Für 2018 sehen die ukrainischen Streitkräfte die Implementierung der Reformen und Entwicklungen innerhalb der Armee, die Organisation der umfassenden Unterstützung von Truppen sowie die Verbesserung der rechtlichen und regulatorischen Rahmenbedingungen für ihre Tätigkeit vor.

Die ukrainische Armee befindet sich im internationalen Ranking der Streitkräfte von Staaten auf Platz 29 mit einem Aktivstand von 250.000 und einem Reservestand von über 900.000 Personen (ukrainische Angaben). Das Verteidigungsbudget nimmt mittlerweile über fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes ein. Nach wie vor haben die ukrainischen Streitkräfte nicht genügend Ressourcen, um alle Bereiche abdecken zu können. Deshalb konzentriert man sich auf Schwergewichte wie die ATO, die Ausbildung von Personal und die Angleichung an „westliche“ Standards. Die Streitkräfte selbst dürfen nur gegen Feinde von außen eingesetzt werden und leisten keine Assistenz für die Polizei. Alle Einsätze müssen vom Parlament autorisiert werden. In Kampfeinsätzen dürfen nur Berufssoldaten eingesetzt werden.

Oberrat Major Mag.(FH) Michael Barthou, MA ist Leiter der Redaktion Online-Medien beim TRUPPENDIENST.

 

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