• Veröffentlichungsdatum : 13.12.2022

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  • 1306 Wörter

Mahnmal in drei Bänden

Gerold Keusch

Michael Gurschka ist Lehroffizier an der Heerestruppenschule. Dort lehrt er Miliz- und Berufssoldaten ihr Handwerk und gibt ihnen das Rüstzeug mit, um als Zugs- oder Kompaniekommandant zu führen. In seiner Freizeit schreibt der Major Bücher. In diesen beschäftigt er sich mit seiner Großelterngeneration und deren Kriegserlebnissen.

„Mein Interesse für den Zweiten Weltkrieg begann mit den Erinnerungsstücken meines Großvaters, die mir meine Großmutter als Kind gezeigt hat“, sagt Michael Gurschka. Seinen Großvater hat der 43jährige Berufssoldat zwar kennengelernt, über dessen Kriegserlebnisse konnte er aber nicht mehr mit ihm reden, da er damals noch zu jung war. Als Erwachsener, nachdem er bereits Soldat war, stolperte er über dessen Nachlass. „Sein Lebenslauf und ein Foto waren der Beginn meines Engagements. Von da an wollte ich mehr über sein Schicksal und jenes seiner Generation erfahren.“

Gurschkas Großvater (Jahrgang 1914) stammt, so wie er selbst aus dem Weinviertel. Dort wurde die 44. Infanteriedivision der Deutschen Wehrmacht formiert, die ab dem Polenfeldzug ein Teil der 6. Armee war. Im Jahr 1940 rückte Josef Gurschka zu einer Ersatzeinheit dieser Division ein. Nach der Grundausbildung ging es für ihn, nun Angehöriger der 297. Infanteriedivision, zunächst an die Westfront und im Frühjahr 1941 in den Osten. Der Russlandfeldzug führte ihn und seine Division bis nach Stalingrad. Als sich dort am 23. November 1942 der Kessel schloss, war er einer von etwa 300.000 Soldaten, deren Schicksal besiegelt schien. Er hatte jedoch Glück. Am 10. Jänner 1943 wurde er schwer verwundet und am Tag darauf aus dem Kessel geflogen, wodurch er die Schlacht überlebte. Am 2. Februar 1943 kapitulierte die 6. Armee in Stalingrad. Von den knapp 100.000 Soldaten, die in sowjetische Kriegsgefangenschaft kamen, kehrten nur etwa 6.000 in ihre Heimat zurück.

Gespräche mit Zeitzeugen

„Mit meinem Großvater konnte ich nicht mehr über seine Kriegserlebnisse sprechen, da er zu früh gestorben war“, erzählt Gurschka. „Da sein Schicksal ähnlich war wie das vieler anderer Kriegsveteranen aus der Region, habe ich versucht seine Lebensumstände und Kriegserlebnisse über deren Schilderungen zu begreifen.“  Nachdem der Berufsoffizier mit den ersten Veteranen gesprochen hatte, ergaben sich immer mehr und mehr Kontakte. Schließlich lernte er Dr. Otto Gratschmayer kennen, der sein Mentor wurde. „Dr. Gratschmayer, Jahrgang 1925, ist der letzte noch lebende Absolvent der Fahnenjunkerschule Wr. Neustadt, wie die Theresianische Militärakademie damals hieß. Er kämpfte als junger Offizier an der Italienfront und war zu Kriegsende bei der Schlacht um Berlin, wo er in sowjetische Kriegsgefangenschaft kam, aus der er 1947 heimkehrte. In der Zweiten Republik erreichte er als General-Inspekteur der Zollwache den Generalsrang und war der höchste Zollwachebeamte Österreichs. Ohne seine Unterstützung hätte ich die drei Bücher nicht schreiben können.“ 

Bis dato hatte Michael Gurschka Kontakt mit mehr als 50 Zeitzeugen. Mit den meisten von ihnen traf er sich mehrere Male. Das war die Basis für das Vertrauensverhältnis, um deren persönliche Schicksale im Detail zu erfahren und ihre Lebensumstände so gut wie möglich kennenzulernen. Vom einfachen Soldaten bis zum späteren General, neben Dr. Gratschmayer hatte er intensiven Kontakt mit dem General des Bundesheeres Brosch-Fohraheim (er war unter anderem Kommandant einer berittenen Aufklärungseinheit der Aufklärungsabteilung 44), reichte der Bogen seiner Gesprächspartner. Dazu kamen Interviews mit Zivilisten, die den Krieg und dessen Ende in Österreich erlebten.

Die verschiedenen Perspektiven seiner Interviewpartner zeigen sich auch im Aufbau der Bücher. „Ich beschreibe die Schicksale und Erlebnisse der einzelnen Soldaten, ordne diese aber auch in einem größeren Ganzen ein – auf der taktischen und operativen Führungsebene", erklärt der Berufsoffizier seinen Zugang. Dieser ermöglicht es den Lesern die Geschichte in ihrer Gesamtheit zu begreifen und deren Hintergründe kennenzulernen. Er zeigt aber auch, dass sich hinter den „anonymen Bezeichnungen“ von Truppenverbänden Menschen verbargen, deren Schicksal von „technischen Überlegungen“ – dem militärischen Führungshandwerk ihrer Vorgesetzten – abhing.

Der Major interessiert sich nicht nur für die Kriegserlebnisse dieser Generation, die ab ca. 1918 – also kurz nach dem Ersten Weltkrieg – zur Welt kam. „Mein Interesse beginnt mit den Lebensumständen dieser Menschen in den frühen 1930er-Jahren. Da gehören das Vereinswesen genauso dazu wie die politisch-gesellschaftliche Situation, beispielsweise deren Umgang mit dem Anschluss 1938 oder so scheinbar banale, aber dennoch einschneidende Erlebnisse, wie der Erhalt des Einberufungsbefehles“, sagt Gurschka über seinen Ansatz. „Darüber hinaus habe ich mich damit beschäftigt, wie meine Gesprächspartner ihre traumatischen Erlebnisse nach dem Krieg verarbeitet haben und sich nach 1945 in die Gesellschaft wiedereingliederten.“  Mittlerweile sind auch medizinische Forschungseinrichtungen auf seine Werke aufmerksam geworden und stehen mit ihm in Kontakt.

Mahnung für den Frieden

Die Erkenntnisse seiner historischen Forschung bringt der Lehroffizier auch in den Dienst ein. So werden im Rahmen von Geländebesprechungen Gefechtsabläufe zwischen Truppen der deutschen 6. Armee und der sowjetischen 26. Armee anhand von noch vorhandenen Stellungsräumen thematisiert. „Vor allem in unwegsamen Gelände haben sich Kampfverfahren der Infanterie seit dem Zweiten Weltkrieg kaum verändert. Es gibt zwar neue technische Möglichkeiten hinsichtlich der elektronischen Aufklärung, Nachtsichtmittel und vieles mehr. Die Kampfentfernungen bedingen die de facto gleichen Gefechtstechniken wie damals“, erklärt der Major. Die Ausbildung an Orten, in denen vor knapp 80 Jahren tatsächlich gekämpft wurde, bietet mehrere Vorteile. Einerseits kann die eigene Beurteilung am historischen Beispiel abgeglichen werden, an den Stellungen vor Ort oder den Gefechtsberichten. Andererseits wird den Lehrgangsteilnehmern vor Augen geführt, dass der Krieg nicht auf einer abstrakten Ebene geführt wird, sondern damit auch konkrete Schicksale und starke Gefühle wie Angst, Tod oder Trauer verbunden sind. Das ermöglicht es die ethische Kompetenz von Kommandanten zu schulen.

Der intensive Kontakt und die Auseinandersetzung mit den potenziell traumatisierenden Erlebnissen seiner Gesprächspartner waren für den Lehroffizier nicht immer einfach. „Bei manchen Treffen sind Tränen geflossen, auch bei mir!“, sagt Gurschka. „Wenn man sich so intensiv mit einem Thema und einen Menschen auseinandersetzt, dann lebt man mit ihm mit. Für mich war es oft nicht möglich abzuschalten, wenn ich zu Hause war. Die Gespräche arbeiten weiter, ob man will oder nicht.“  Bei all seinen Treffen, so belastend und emotional sie auch waren, hörte er nie Worte des Hasses, der Hetze oder der Verherrlichung des Krieges. Vielmehr mahnten die Veteranen vor einer Wiederholung der Geschichte.

Mit dem Verein zur Klärung von Schicksalen Vermisster und Gefallener birgt Gurschka ehrenamtlich Gefallene, die in den letzten Kriegswochen in Österreich starben. Die meisten waren Angehörige der sowjetischen 26. Armee. „Es ist eine ehrenvolle Aufgabe den jungen Menschen, die damals in den Krieg mussten – ob sie wollten oder nicht – eine würdige Grabstätte zu geben und ihr Andenken zu bewahren.“  Für ihn ist diese Tätigkeit eine aktive Friedensarbeit, sind doch die Angehörigen bzw. Nachfahren einstiger Gegner daran beteiligt, heute gemeinsam jener Generation zu gedenken, die damals keine Möglichkeit hatte sich friedlich zu begegnen.

Eine aktuelle Brisanz erfährt dieses Thema, da damals Russen und Ukrainer als Sowjets Seite an Seite in der Roten Armee gegen Nazi-Deutschland kämpften. Heute stehen sich deren Enkel und Urenkel als Feinde im Ukraine-Krieg gegenüber, ob sie das wollen oder nicht. Ein Umstand, der für den Berufssoldaten und Familienvater deprimierend ist. „Ich frage mich häufig: Wie wird es zukünftigen Generationen ergehen? Wird es gelingen den Frieden zu erhalten, nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern ein gesellschaftliches Miteinander über die Grenzen hinweg?“
 

Ausblick

Nachdem mit dem dritten Band (im Oktober 2022 im Kral-Verlag erschienen) das Werk vollendet ist, stellt sich die Frage wie es für Michael Gurschka als Autor und Forscher weitergeht. „Jetzt ist einmal Schluss!“, ist er überzeugt. „Die letzten Jahre waren sehr intensiv und das Buchprojekt hat mich sehr gefordert. Nun möchte ich mich wieder mehr um andere Interessen und vor allem um meine Familie kümmern.“  Erfreut und stolz ist er auf die Tatsache, dass seine Bücher von der Leserschaft so gut angenommen werden. Der erste Band war bereits nach vier Monaten vergriffen, insgesamt umfassen alle Auflagen rund 7.000 Stück. „Wer weiß, vielleicht gibt es in Zukunft wieder ein Thema über das ich schreiben werde. Ein paar Dinge gäbe es da schon noch…“, sagt Michael Gurschka mit einem Gesichtsausdruck, der auf eine Fortsetzung hoffen lässt.

Hofrat Gerold Keusch, BA MA ist Leiter Online-Medien in der Redaktion TRUPPENDIENST.

 

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