• Veröffentlichungsdatum : 24.11.2022
  • – Letztes Update : 29.11.2022

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Artillerie - hochpräzise wie ein Scharfschütze

Reinhard Lemp

Die Hochpräzisionsmunition der Artillerie ist der Gamechanger auf dem Gefechtsfeld des 21. Jahrhunderts. Die Ausrichtung der „Streitkräfteentwicklung 2032“ des Bundesheeres auf die Schutzoperation und die Ereignisse in der Ukraine unterstreichen die unverminderte Bedeutung der Artillerie für die Einsatzführung.

Militärische Landesverteidigung und Schutzoperation

Destabilisierende Kräfte, die souveränitätsgefährdend in ganz Österreich wirksam werden und durch einen sicherheitspolizeilichen Assistenzeinsatz nicht mehr beherrschbar sind, lösen eine Schutzoperation aus. Die gegenüberstehenden Kräfte sind subkonventionell organisiert. Sie greifen den Staat, die Bevölkerung und deren Lebensgrundlagen mit bis zu bataillonsstarken Kräften vorrangig im urbanen Raum an, um ihre politischen Ziele in oder außerhalb Österreichs durchzusetzen.

Die Schutzoperation beinhaltet alle wesentlichen Einsatzverfahren, die auch die Abwehroperation charakterisieren. Trotzdem gibt es einen wesentlichen Unterschied zur Abwehroperation. Diese hat grundsätzlich eine lineare Ausrichtung des Verantwortungsbereiches, es gibt also ein „Vorne und Hinten“. Die Gliederung erfolgt in den unmittelbaren Kampfraum (Close), in die Tiefe des Gegners (Deep) und den rückwärtigen Raum (Rear) mit unterschiedlichen Aufgabenstellungen im jeweiligen Raum.

Es sind dies der Kampf gegen den Gegner im direkten Kontakt (Close Operation), der Kampf in der Tiefe des Gegners gegen noch ungebundene Kräfte (Deep Operation) und der Schutz der eigenen Kräfte in der eigenen Tiefe (Rear Operation). Für das Steilfeuer leiten sich daher die Aufgaben zur direkten Feuerunterstützung (Direct Support), der Kampf mit Feuer in der Tiefe (General Support) und der Schutz der eigenen Kräfte (Force Protection) im rückwärtigen Raum ab.

Nachdem sich der Gegner in einer Schutzoperation vermutlich inmitten der Zivilbevölkerung befindet oder diese sogar zum eigenen Schutz ausnutzt, löst sich die liniare Ausrichtung der Abwehroperation auf, es gibt also kein „Vorne und Hinten“, sondern nur ein „Überall“. Die Räume bzw. deren Aufgabenstellungen überschneiden sich und sind nur zeitlich oder anlassbezogen konkret abzugrenzen. Dadurch sind unbeteiligte Dritte, also Nichtkombattanten, in der Einsatzführung zu berücksichtigen. Das bedeutet für den Waffeneinsatz, dass immer mit 

  • höchster Präzision, 
  • höchster Genauigkeit und 
  • Verhältnismäßigkeit 

zu wirken ist. Für österreichische Steilfeuerelemente ist das – beruhend auf dem rein ballistischen Flächenfeuer der Sprenggranate – aktuell nicht möglich. Durch die Fähigkeitserweiterung mit Präzisions- und Hochpräzisionsmunition kann die Artillerie in der Schutzoperation jedoch zum Gamechanger werden. 

Entwicklung von Steilfeuer

Jahrhundertelang wirkte Steilfeuer nur durch die Wucht der Detonation und die Splitterverteilung seiner Granaten. Die Vorteile der Artillerie liegen in der Wirksamkeit in die Tiefe des Gegners, in der Möglichkeit, das Feuerschwergewicht rasch verlegen zu können, und in der Flächenwirkung gegen ungeschützte Ziele. Die Streuung der Granaten im Ziel ergibt sich aus der mangelnden Berücksichtigung von ballistischen Einflussfaktoren und war anfangs sogar ein „erwünschter Nebeneffekt“ des indirekten Feuers.

Die Erhöhung der Gefechtsgeschwindigkeit und der Einsatz gehärteter Fahrzeuge auf dem Gefechtsfeld verringerte die Wirkung im Ziel. Daher wurde die Feuerdichte durch mehr Granaten im Ziel gesteigert. Das erfolgte durch die Steigerung der Rohranzahl oder durch eine höhere Feuergeschwindigkeit. Parallel dazu erhöhte sich die Reichweite des Steilfeuers, um die gestiegene taktische Mobilität der eingesetzten Truppen und die vergrößerten Verantwortungsbereiche abzudecken. Die zuvor noch erwünschte Streuung erwies sich zusehends als nachteilig, da sich diese direkt proportional zur vergrößerten Reichweite verhielt. Der Munitionseinsatz gegen ein Ziel bei gleicher Wirkungsforderung erhöht sich um 33 Prozent ab etwa 15 Kilometer gegenüber demselben Ziel bei geringerer Schussentfernung.

Nach dem Zerfall des Warschauer Paktes 1991 und nach dem Ende des Zweiten und Dritten Golf-Krieges (1990/91, 2003) musste der konventionelle Einsatz von Steilfeuer überdacht werden. Auslöser war die Erkenntnis, dass es bei der Durchsetzung des militärischen Mandates bei Operationen inmitten der Zivilbevölkerung zu hohe Kollateralschäden gegeben hat. Die Ursachen waren eine hohe Streuung der eingesetzten Kampfmittel, eine große Anzahl an Blindgängern, und dass großteils in urbanen Gebieten gekämpft worden war.

Die Konsequenzen waren verschiedene internationale Abkommen wie etwa für Antipersonenminen (Ottawa, 1999) oder für Streumunition (Oslo, 2010). Aktuell wird der Verzicht auf Explosivstoffe in bewohnten Gebieten gefordert. So wird etwa die politische Deklaration EWIPA (Explosive Weapons in Populated Areas) von Österreich und Deutschland unterstützt und wird im Herbst 2022 unterzeichnet. Diese soll, im Sinne einer Selbstverpflichtung, zum Verzicht oder zumindest zum eingeschränkten Einsatz von Explosivstoffen beim Kampf im urbanen Raum führen. 

Wirksamkeit, Reichweite, Präzision

Steilfeuer wirkt in erster Linie durch seine Effekte im Ziel und in zweiter Linie durch seine Genauigkeit, die wiederum durch die Schussentfernung direkt beeinflusst wird. Um der berechtigten Kritik an Kollateralschäden und auch der Eigengefährdung (Friendly Fire) Rechnung zu tragen, muss die Präzision verbessert werden.

Herkömmliche Granaten von Steilfeuerwaffen werden rein ballistisch verschossen, wobei keine Korrektur der Flugbahn bis zum Einschlag erfolgt. Im Rohr und im freien Flug wirken messbare Einflussfaktoren (z. B. Pulvertemperatur, Rohrabnutzung, Granatgewicht, Wetter, Erdrotation), die bereits bei der Kommandoermittlung berücksichtigt werden. Hinzu kommen unvermeidbare Einflussfaktoren (Abweichungen). Diese sind de facto nicht messbar oder zu aufwendig in der Messung und wirken nach Abschuss permanent auf die Granate. Sie führen zu einem statistischen Trefferbild (Normalverteilung), das rund um den zu erwartenden Einschlagpunkt liegt. Je länger die Granate fliegt, umso länger wirken die unvermeidbaren Einflussfaktoren auf sie ein, und umso größer ist auch die Ablage des Steilfeuers, die auch als Streuung bezeichnet wird. Zum Beispiel: Die 50-prozentige Längenstreuung einer Sprenggranate bei etwa 25 Kilometern kann bereits 150 Meter betragen (50 Prozent der zu erwartenden Treffer sind in diesem Bereich). Das führt dazu, dass ab einer Schussweite von etwa 15 Kilometern eine wirksame Feuerdichte nur durch mehr Munitions- und Rohreinsatz erreicht werden kann, was aber zu höheren Gefährdungsbereichen führt. Daher ist ab dieser Entfernung der Einsatz rein ballistischer Munition in Bezug auf Kollateralschäden und Friendly Fire abzuwägen.

Die Verfügbarkeit von Satellitennavigationssystemen und die Miniaturisierung etablierten aber eine Technik, die das Reichweitenproblem der ballistischen Streuung lösen kann. Bestückt mit einem GPS-Empfänger kann die Flugbahn der Granate mit den Zielkoordinaten verglichen und mittels Steuerungsflächen am Zünder oder an der Granate laufend korrigiert werden. Diese Maßnahme kann die Streuung, unabhängig von der Schussentfernung, auf unter zehn Meter radialen Zielfehler (Circular Error Probable – CEP) reduzieren. Daher wird diese als Präzisionsmunition (Precision Guided Munition – PGM) bezeichnet.

Präzise Zielfestlegung 

Präzisionsmunition trifft folglich immer nur eine Koordinate und dann günstigerweise das Ziel, daher ist auch ein höchstmöglicher Anspruch an die Zieldaten notwendig. Jede Zielortung/-festlegung kann durch Messfehler/-toleranzen ungenau werden. In der Vorschrift für Steilfeuerwaffen wird die Genauigkeit der Zielfestlegung für Sprenggranaten zurzeit mit ± 25 m für die Koordinaten gefordert. Dies bedeutet, dass in Verbindung mit einer Präzisionsmunition CEP 10 m (Circular Error Probable/Zielfehler) eine maximale Gesamtablage von 35 m generiert wird. Möglicherweise gibt es dann kaum eine Wirkung im Ziel, jedoch Kollateralschäden. International werden fünf Kategorien der Zielgenauigkeit festgelegt (CAT 1 bis 5). Der Einsatz von Präzisionsmunition verlangt CAT 1 (Genauigkeit von 0 bis 6 m) bzw. CAT 2 (Genauigkeit von 7 bis 15 m) und beschränkt damit den Target Location Error (TLE) auf maximal 15 m.

Im Gegensatz zu Präzision wird die Hochpräzision durch das direkte Lenken ins Ziel erreicht, entweder mit Lasermarkierung oder mit autonomen Suchzündern. Bei Suchzündern spricht man von intelligenter Munition, die durch entsprechende Sensorik Ziele entdecken, unterscheiden und direkt bekämpfen kann. Beide Varianten setzen voraus, dass die Granate zuerst ballistisch oder kurskorrigierend in den unmittelbaren Zielbereich verschossen wird, bevor die eigentliche Zielselektion erfolgt. Die intelligente Munition bekämpft die definierten Ziele durch Sensorik und vorgegebene Algorithmen, während bei der endphasengelenkten Munition die Verantwortung der Zielselektion bei einem Zielmarkierer (Beobachter) liegt. Der Target Location Error verliert in beiden Verfahren an Relevanz, da keine „statische“ Zielkoordinate, sondern immer das eigentliche Ziel anvisiert wird. Damit werden auch bewegliche Ziele (bis zu 36 km/h) bekämpfbar.

Die endphasengelenkte Munition kann unabhängig von ballistischen Einflussfaktoren, von der Positionsänderung des Zieles oder vom Ziellagefehler direkt ins Ziel geleitet werden. Die Anforderung liegt hier bei CEP kleiner als drei Meter, was bei einer Zielfläche von etwa 3 mal 10 m einer Trefferwahrscheinlichkeit von mehr als 85 Prozent entspricht. Das ist vergleichbar mit einer Panzerkanone, die auf 2 500 m feuert, während mit endphasengelenkter Artilleriemunition die gleichen Werte auf 70 km erreicht werden können. 

Fähigkeitserweiterung Steilfeuer

Der Einsatz im urbanen Umfeld, die daraus resultierenden Kollateralschäden in der Zivilbevölkerung, aber auch das Friendly Fire stellen neue Anforderungen an die Rüstungsindustrie. 2012 wurden die Anwenderanforderungen definiert, die, neben der Erhöhung der Reichweite und der Verbesserung der Wirksamkeit, vorrangig die Reduzierung der Kollateralschäden im urbanen Umfeld für die Rohrartillerie festlegten.

Das Ergebnis ist ein 155-mm-Treibspiegelgeschoß, das bei 52 Kaliberlängen auf bis zu 70 km hochpräzise (CEP unter 3 m), mit hoher Trefferwahrscheinlichkeit (TW über 85 Prozent), lasergelenkt auch gegen harte und dynamische Ziele („mission kill“ durch kinetische Auftreffenergie) wirksam eingesetzt werden kann. Zudem kann der Einfallswinkel zwischen 70 Grad („top attack“) und 30 Grad („vertikal wall“) und damit zwischen konventionellem und/oder urbanem Einsatz variiert werden. Bei unverhältnismäßig hohen zu erwartenden Kollateralschäden kann der Auftrag abgebrochen werden („mission abortion“). Bei der Deutschen Bundeswehr soll nach einem abschließenden Test 2023 die Munition der Firma Diehl Defence AG unter der Bezeichnung „Vulcano“-V-155 GLR-SAL (Guided Long Range-Semi Active Laser) eingeführt werden.
 

Konsequenz 

Die Restriktionen für das Steilfeuer im urbanen Raum sind tiefgreifend und werden voraussichtlich in künftigen Abkommen zusätzlich eingeschränkt. Damit wäre die indirekte Feuerunterstützung in der Schutzoperation mit den bisher zur Verfügung stehenden Mitteln aufgrund der Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung – bis auf wenige Ausnahmen – unmöglich.

Um die strikten Vorgaben zu erfüllen, gibt es technische Lösungen auf dem Rüstungsmarkt. Die Weiterentwicklung am Beispiel der Munition „Vulcano“ zeigt, dass mit 

  • höchster Präzision (CEP unter 3 m), 
  • Verlässlichkeit (Trefferwahrscheinlichkeit mehr als 85 Prozent), 
  • Genauigkeit (Endphasenlenkung ins Ziel), 
  • der Möglichkeit des Missionsabbruches bis zum Aufschlag (codierte Umstellung auf Inert-Funktion und durchgehende Kontrolle der Flugbahn), 
  • einem klar definierten Wirkungsradius (Vorfragmentierung des Gefechtskopfes) und 
  • Verwendung einer insensitiven Munition (besonders handhabungssicher; Anm.) 

eine effektive Wirkung im Ziel bei möglichst geringer Auswirkung auf das zivile Umfeld erreichbar ist.

Im Gegensatz zu direktem Feuer erfüllt indirektes Feuer mit diesen Parametern, gemäß Rückmeldung der Abteilung Fremdlegistik, die Deklaration Explosive Weapons in Populated Areas (EWIPA) zurzeit im höchstmöglichen Ausmaß. Damit kann das Steilfeuer weiterhin effektiv, rasch und vor allem über große Entfernungen eingesetzt werden. Gerade diese Fähigkeit der raschen, hochpräzisen und raumabdeckenden Reaktionsmöglichkeit ist in der großflächigen Schutzoperation eine unabdingbare Forderung zum Schutz der Zivilbevölkerung und der eigenen Kräfte.

Oberst Reinhard Lemp, MSD MA; Evaluierungsdirektor Artillerie in der Direktion Fähigkeiten und Grundsatzplanung.

 

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