• Veröffentlichungsdatum : 22.05.2023

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Von Rom nach Ennsdorf und zurück

Gerold Keusch

Teil 2 der Serie zur Militärgeschichte von Enns (zur Artikelserie)

Von der Nordostecke des ehemaligen Legionslagers führt die Route wieder retour. Entlang des ehemaligen Grabens geht es zunächst auf dem gleichen Weg bis zur Brücke über die Westbahn und dem Kreisverkehr. Von dort gelangt man entlang der Lorcher Straße, angelehnt an die ehemalige Nordostmauer bzw. den ehemaligen davorliegenden Graben (beide nicht mehr vorhanden) Richtung Enns. Bei der Kreuzung der Lorcher Straße mit dem Teichweg gelangt man nach etwa 150 m zur einstigen Südostmauer. Dieser folgt man etwa 200 m, und kurz bevor man auf das ehemalige Südosttor trifft (heute Kathrein-Straße), biegt man Richtung Südosten in die Josef-Hafner-Straße. Danach geht es vom Legionslager in den mittelalterlichen Stadtkern von Enns.

Wenn man die Josef-Hafner-Straße entlangmarschiert, erkennt man die Anhöhe der Altstadt mit Teilen der ehemaligen Stadtmauer, den Stadtturm und einen Turm der Stadtbefestigung (Judenturm). Der Weg durch die Vorstadt erklärt, warum das Legionslager nicht an dem – wesentlich leichter zu verteidigenden – Hügel stand. Es bot nicht genug Platz für die Legion, genauso wenig wie für die wachsende Stadt Enns, die sich heute über den mittelalterlichen Kern hinaus ausbreitet.

Ein Gebäude, das davon zeugt, ist die von 1955 bis 1956 erbaute Ennser Stadthalle. Sie ist nicht nur ein Relikt der „Wiederaufbau- und Wirtschaftswunderzeit“ der Zweiten Republik, sondern eng mit dem Österreichischen Bundesheer verbunden. 1958 traten dort die Militärakademiker, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre vorläufige Offiziersausbildungsstätte in der heutigen Heeresunteroffiziersakademie hatten, ein letztes Mal an, bevor sie in ihre ursprüngliche Heimat, die Wiener Neustädter Burg, zurückkehrten. Seit 1995 finden in der Stadthalle teilweise die Ausmusterungen der Wachtmeister des Bundesheeres statt, die an der Ennser Heeresunteroffiziersakademie ausgebildet werden (TD-Artikel: Bereit für Österreich).

Als nächste Station des Ausfluges in die militärische Geschichte von Enns bieten sich die Ennsburg und der Georgenberg an, die sich etwa 500 m von der Stadthalle entfernt befinden. Von der Mauthausener Straße gelangt man zu diesem Ort, wobei der Frauenturm, der den Beginn der Altstadt markiert, am Weg liegt. Der Frauenturm ist einer von 15 Türmen der Ennser Stadtbefestigung, die im Mittelalter errichtet wurde (siehe Judenturm, Bäckerturm und Pfaffenturm am Ende des Beitrages). Er wurde wahrscheinlich erst um 1400 in den Mauerring integriert und stand bis dahin außerhalb der Befestigung. Als Frauentor war der Turm das nördlichste der insgesamt vier Tore, durch die man ab dem 12. Jahrhundert die Stadt betreten musste. In seinem oberen Teil befindet sich eine Kapelle mit Fresken, die um 1340 entstanden sind, 1911 freigelegt und danach restauriert wurden.

So wie bei der Stadtmauer und unzähligen Häusern, die damals errichtet wurden, verwendete man auch beim Bau des Frauenturmes die Steine des einstigen Legionslagers. Dieses war somit ein Steinbruch, der dem Steinraub immer mehr zum Opfer fiel und deshalb bis auf ein paar Reste der Erdwerke zur Gänze verschwand. Somit zeigt dieser Turm, so wie viele andere Gebäude einstiger römischen Siedlungen auch, den Wandel innerhalb der Gesellschaft, hinsichtlich der Wahrnehmung und des Umgangs mit dem Erbe der Vergangenheit. Dessen Bewahrung in Form des Denkmalschutzes ist ein, häufig zwar lästiger und aufwändiger, aber mittlerweile gesellschaftlich weit anerkannter Wert geworden, um das kulturelle Erbe für die Nachwelt zu sichern.

Neben dem Frauenturm steht das Schloss Ennsegg, das im Mittelalter ein Teil der Stadtbefestigung war. Diese landesfürstliche Burg wurde ab dem Ende des 15. Jahrhunderts errichtet, da die alte Burg am Georgenberg baufällig und wohl auch zu klein für einen repräsentativen Sitz war. Der Georgenberg, an dem das Schloss steht, war militärisch bedeutend, da dieser eine weite Rundumsicht ermöglicht und man von dort gegnerische Annäherungen bereits frühzeitig erkennen kann. Vom Turm des Schlosses, aber auch von einigen Stellen daneben öffnet sich der Blick nach Osten. Ab dem Mittelalter wurde von dort die Hauptgefährdung angenommen – eine richtige Beurteilung, wie der Verlauf der meisten Feldzüge zeigen sollte. Zur Zeit der Römer, kam die Hauptbedrohung für die Stadt noch aus dem (germanischen) Norden, was sich aufgrund der Völkerwanderung jedoch geändert hatte.

Militärhistorisch relevant ist vor allem der Umstand, dass Napoleon Buonaparte vom 4. bis 6. Mai 1809 während seines Vormarsches Richtung Wien (Fünfter Koalitionskrieg), nach der Schlacht von Ebelsberg (3. Mai 1809), dort sein Quartier aufschlug. Zu diesem Zeitpunkt kannte Napoleon die Stadt Enns bereits, da er auch im November 1805 während des Dritten Koalitionskrieges dort durchgekommen war. In beiden Jahren kam es zu Kampfhandlungen beim Übersetzen der damaligen Brücke über die Enns, die jedoch beide Male nach einem kurzen Geplänkel und dem Einsatz von Artillerie zu Gunsten der französischen Truppen entschieden wurden. Im Jahr 1809 soll Napoleon im Rosengarten des Schlosses gestanden sein, um seine Truppen zu beaufsichtigen.

Die erste Ennser Burg, die ab dem 9. Jahrhundert schrittweise errichtete „Enisiburg“ befand sich ebenfalls auf dem Georgenberg, etwa 100 m nordöstlich vom Schloss Ennsegg, wo heute der Schlosspark ist. Auch wenn der endgültige Beweis noch nicht erbracht ist, kann davon ausgegangen werden, dass bereits die Römer den Georgenberg als Aussichtspunkt benutzten und diesen unter Umständen mit einem Burgus verstärkten. Gesichert ist jedoch, dass sich auf dem Georgenberg ein römisches Heiligtum befand. Die mittelalterliche „Enisiburg“ sollte die Bevölkerung vor den Einfällen der Ungarn schützen, die damals bis zur Traun vorstießen, nachdem Markgraf Luitpold im Jahr 907, im Kampf gegen die Magyaren bei Pressburg fiel.

Am 17. August 1186 fand in dieser Burg ein wichtiges historisches Ereignis für Österreich statt: Die „Georgenberger Handfeste“, die die Grenze zwischen Österreich (heute Ober- und Niederösterreich) und der Steiermark festlegte, wurde dort unterzeichnet. Es war nicht das erste Mal, dass an diesem Ort ein wichtiger Streit beigelegt wurde. Bereits während des Aufenthalts von Karl dem Großen um 800 wurden dort die Streitigkeiten unter bairischen Adelshäusern beigelegt. Karl schloss im Jahr 788, das bis dahin selbstständige Herzogtum Bayern seinem Reich an und errichtete östlich davon die Awarenmark. Um das Jahr 800 legte Karl der Große bei seinem Kriegszug gegen die Awaren eine Rast von mindestens drei Tagen in Enns, vermutlich innerhalb des ehemaligen Legionslagers, ein. Die Enns dürfte damals noch die Grenze zum Awarenreich gewesen zu sein.

Zu dieser Zeit hatte der Georgenberg noch den, eigentlich passenderen, Namen Wartberg. Im Jahr 1278 spielte die Burg bzw. ihr Burghauptmann noch einmal eine wichtige Rolle für die Geschichte Österreichs. Dieser öffnete dem Reichsheer von Rudolf von Habsburg die Ennser Stadttore und schloss sich ihm mitsamt seinem Gefolge an. Dadurch konnte Rudolf rascher als es sein Gegenspieler um die Kaiserkrone (Ottokar von Böhmen) angenommen hatte, Wien erreichen und in der anschließenden Schlacht von Dürnkrut die Grundlage für die Herrschaft der Habsburger legen, die bis 1918 dauern sollte.

Während des Dreißigjährigen Krieges wurden die Ruinen der ehemaligen Burg am Georgenberg befestigt und mit Schanzen für die Artillerie versehen. Diese bestanden zumindest bis in das Jahr 1809, da in jenem Jahr auch die Napoleonischen Truppen diese Schanzen nutzten, um ihre Kanonen dort in Stellung zu bringen. Im Schlosspark des Georgenberges befindet sich darüber hinaus das Denkmal für die Sudetendeutschen, das von den Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges zeugt, weshalb dieser Ort eine historische Klammer über etwa 2.000 Jahre Militärgeschichte ist. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges musste die dort seit Jahrhunderten ansässige deutsche Bevölkerung aus der damaligen Tschechoslowakei flüchten. Nach Enns kamen unter anderem viele Menschen aus der Stadt Gablonz, die dort eine neue Heimat fanden.

Neben dem bereits erwähnten weiten Blick nach Osten, ist vom Georgenberg bzw. dem Schlosspark aus auch die Beobachtung nach Norden, über die ehemalige Grenze des römischen Imperiums hinaus, von der Aussichtsplattform am Rondeau möglich. Von dort sieht man bis zur Mündung der Enns, zu der aus dem Norden das Aisttal führt. Dieses Tal war einst die wichtigste Annäherungsmöglichkeit aus dem germanischen Barbaricum, zwischen dem Regental bei Regensburg und dem Manhartsberg östlich von Krems, zur Grenze des römischen Imperiums. Dieser Umstand dürfte auch den Ausschlag für die Errichtung des Legionslagers in Lauriacum gegeben haben. Denn nur durch die Anwesenheit einer starken Streitmacht konnte ein möglicher Angriff aus dem Norden abgewehrt werden.

Wie real diese Gefahr war, zeigt sich auch daran, dass der Anlass für die Verlegung der Legion bzw. für den Bau des Legionslagers – sowie der nochmalige und verstärkte Ausbau des Donaulimes selbst – die militärische und politische Antwort Roms auf den Einfall der Markomannen war. Diese erstürmten um 170 n. Chr. nicht nur die Grenzen des Imperiums, sondern stießen östlich der Alpen und über diverse Alpenpässe sowie Täler bis nach Aquileia (bei Grado in Italien) vor. Insgesamt dauerten die Einfälle dieses germanischen Stammes bis etwa 180 n. Chr. und sorgten dafür, dass sich der römische Kaiser Marc Aurel auf dem Gebiet des heutigen Österreich aufhielt, um seine Truppen möglichst unmittelbar führen zu könnnen.

Vom Schlosspark führen mehrere Wege zur Enns, wo bei der Kreuzung der Zeltwegstraße mit der Reintalgasse, ein Kreuz als Denkmal für den heiligen Florian steht. Die Darstellung des heiligen Florian ist eines der wichtigsten kulturellen „Relikte“ des römischen Imperiums in Österreich. In beinahe jeder österreichischen Gemeinde ist dieser Heilige als Statue, Denkmal oder Wandrelief zu finden. Seine Bedeutung ist darauf zurückzuführen, dass er der Schutzpatron der Feuerwehr ist, und in jeder Gemeinde eines oder mehrere Feuerwehrhäuser stehen, auf denen er häufig abgebildet ist. Durch diese Darstellungen ist dieser römische Offizier und Soldat, als Vertreter der römischen Militärmacht, allgegenwärtig.

Der heilige Florian wurde am 4. Mai 304 in der Nähe jener Stelle getötet, an der heute das Kreuz steht. Einst befand sich dort eine Holzbrücke über die Enns. Von dieser wurde er mit einem Stein um den Hals in den Fluss geworfen, damit er ertrank. Sein Todesurteil war das Bekenntnis zum christlichen Glauben, das unter Kaiser Diocletian, der die Christen verfolgte, den Tod bedeuten konnte. Knapp zehn Jahr später, im Jahr 313 wurde das Christentum im römischen Reich erlaubt. In den darauffolgenden Jahren erkannten die römischen Eliten schließlich den herrschaftsstabilisierenden Charakter dieser, auf Dogmen und dem Ein-Gott-Glauben basierenden, Religion. Schließlich wurde das Christentum unter Kaiser Theodosius im Jahr 380 n. Chr. zur Staatsreligion, bei der die Verehrung von Heiligen und Märtyrern, von denen Florian als oberösterreichischer Landespatron einer ist, eine besondere Bedeutung hat.

Von dem Kreuz für den heiligen Florian gelangt man entlang der Straße neben dem Fluss zur Ennsbrücke. Dort befindet sich neben der Ortstafel eine weitere Statue für diesen christlichen Märtyrer. Dieses Erinnerungszeichen ist relativ jung, im Gegensatz zum Figurenbildstock für den heiligen Johannes Nepomuk am Damm neben der Ennslände etwa 100 m südöstlich neben der Ennsbrücke. Dieses Denkmal erinnert an die Belagerung der Stadt während der kriegerischen Ereignisse im Jahr 1741. Im Zuge des Erbfolgekrieges, den Erzherzogin Maria Theresia um ihre Erbländer führen musste, wurde Enns 16 Wochen lang von churbayrischen und französischen Truppen besetzt. Die Statue ist insofern interessant, da sie als "Ewiges Denckhmall", wie ihre Aufschrift verrät, mittlerweile an ihrem fünften Standort steht. 

Die Ennsbrücke verbindet seit der römischen Zeit das Land ober mit jenem unter der Enns – die heutigen Bundesländer Ober- und Niederösterreich. Die Plätze und die Konstruktionen der Brücke änderten sich, ihre Bedeutung jedoch nicht. Immer wieder war sie hart umkämpft.  So wurden im Jahr 1532 osmanische Streifscharen dort daran gehindert den Fluss zu überschreiten und Oberösterreich zu betreten, was ihnen jedoch bei Ernsthofen gelang, wo sie kurzfristig sogar bis Wolfern bei Steyr vorstießen. Während der Napoleonischen Kriege fanden dort am 5. November 1805 und nochmals am 5. Mai 1809 schwere Gefechte statt. In der Endphase des Zweiten Weltkrieges wälzten sich Truppenverbände, Flüchtlingstrecks und Todesmärsche über diese Brücke. Am 7. Mai 1945 wurde dort aber auch ein kleinerer Waffenstillstand zwischen den Kommandanten der am östlichen Ennsufer eingesetzten 9. SS-Division „Hohenstaufen“und der 65. US-Infanteridivision unterzeichnet. In der Nacht vom 7. Mai auf den 8. Mai 1945 wurde sie dennoch zum Schauplatz eines der letzten Gefechte zwischen deutschen und amerikanischen Soldaten in Österreich. Nach dem Krieg war die Enns die Grenze zwischen der sowjetischen mit der amerikanischen Besatzungszone und erneut ein Schicksalsort der österreichischen Geschichte (TD-Artikel: Die längste Brücke der Welt).

Wenn man beim Fluss angelangt ist, bietet sich ein Abstecher auf die andere Seite des Flusses an. An die Besatzungszeit, die für den Ort Ennsdorf prägend war, erinnert kein Gedenkzeichen an der Brücke, obwohl sie für viele Menschen zum Schicksalsort wurde. Unzählige Menschen wurden dort festgenommen und in ein sowjetisches Gefängnis und/oder in einen Gulag verschleppt. Der berühmteste Fall war jener, der späteren ÖMV-Vorstandvorsitzenden Margarethe Ottilinger. Sie wurde dort verhaftet und wegen angeblicher Spionagetätigkeiten in die Sowjetunion verschleppt, wo sie zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde. Bereits 1956, ein Jahr nach ihrer Rückkehr, wurde sie von der Sowjetunion rehabilitiert, was die Willkür ihrer Verfolgung bestätigt. Viele, die ein ähnliches Schicksal teilten, sahen die Heimat jedoch nicht mehr wieder.

An der Ampelkreuzung 150 m östlich des Ufers ist an der Ecke des Gasthofes Stöckler eine Gedenktafel angebracht, die an die Besatzungszeit erinnert. Dieses Gebäude hat aufgrund seines Standortes eine bewegte Vergangenheit. Von dieser zeugen die Kanonenkugeln an der Westfassade des Gebäudes, die dort beim Beschuss durch napoleonische Truppen einschlugen und später eingemauert wurden. Darüber hinaus war der Gasthof von 1883 bis 1889 das Quartier von Erzherzog Franz Ferdinand als er beim Ennser Dragonerregiment Nr. 4 stationiert war. Seine Ermordung am 28. Juni 1914 in Sarajewo setzte jene Ereignisse in Gang, die das kurze 20. Jahrhundert einleiteten, wie die Epoche vom Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 bis zum Ende des Kalten Krieges 1989 auch genannt wird.

Der Weg über die Brücke und die Kreuzung weiter nach Mauthausen war am Ende des Zweiten Weltkrieges ein Schicksalsweg für zehntausende KZ-Häftlinge. Diese wurden in brutalen Todesmärschen zunächst nach Westen mit Masse in das KZ Mauthausen getrieben, wobei eine der Hauptrouten über Enns und Ennsdorf führte. Nach ihrer Ankunft im KZ Mauthausen wurden zehntausende Menschen weiter in den Westen beispielsweise nach Gunskirchen getrieben, und kamen erneut an dieser Kreuzung vorbei. Am Gemeindegebiet von Ennsdorf starben mindestens 33 Menschen bei diesen Märschen, die beim Bildstock an der Kreuzung Bäckerstraße/Westbahn Straße begraben wurden. Zusätzlich fanden dort fünf deutsche Soldaten, die in Ennsdorf fielen ihre letzte Ruhestätte. Die Grabstätte wurde 1980 aufgelassen, die Toten exhumiert und in anderen Friedhöfen bestattet. Im Jahr 2005 wurde an dem Bildstock eine Gedenktafel angebracht, die an sie erinnert.

Auf dem Rückweg sieht man die eindrucksvolle Kullisse der mittelalterlichen Stadt und erkennt die günstige Geländeposition, die diese Anhöhe bietet. Ebenfalls zu erkennen sind Reste der ehemaligen Stadtbefestigung, die ab dem Jahr 1193 als Ringmauer erbaut und um 1480 erneut ausgebaut wurde. Der Bau wurde unter anderem von Teilen des Lösegeldes finanziert, die wegen der „erkauften Freilassung“ des englischen Königs Richard Löwenherz in die damalige Staatskasse gelangte. Teile der Stadtmauer kann man an mehreren Stellen, zum Beispiel in der Stiegen- und in der Basteigasse sowie beim Kreisverkehr Ennser Straße aber auch von der Säufzerallee (nordwestlich der Stadtbefestigung ) aus sehen. Die Stadtmauer wurde zu einem erheblichen Teil aus den Steinquadern des römischen Legionärslagers errichtet. Sie wurden somit für quasi den gleichen Zweck (Abgrenzung und Verteidigung) wiederverwendet, jedoch an die militärischen Bedürfnisse des Mittelalters bzw. der beginnenden Neuzeit angepasst.

Die Befestigung von Enns zeigt, so wie jene anderer mittelalterlicher Städte auch, den Paradigmenwechsel in der Kriegsführung. Die Römer suchten die offene Feldschlacht und sicherten ihre militärischen Einrichtungen bei einer Belagerung so lange, bis der Entsatz, der ebenfalls auf dem offenen Feld gekämpft hätte, vor Ort war. Der Grund liegt darin, dass Rom über ein zahlenmäßig großes und stehendes Heer von Berufssoldaten verfügte. Diese waren gut ausgebildet und ausgerüstet, konnten die Vorteile ihrer eintrainierten Kampfverfahren jedoch nur im offenen Gelände ausspielen. Dort konnten sie den Mix an schweren Waffen, Reitern und infanteristischen Elementen zur Geltung bringen, der den Erfolg wahrscheinlich machte. Im Mittelalter und auch danach gab es grundsätzlich keine stehenden Heere, die nur bei Bedarf zusammengestellt wurden. Deshalb war eine Siedlung in ersten Linie auf sich alleine gestellt und hatte sich so lange selbst zu verteidigen, bis die Belagerer entweder von selbst abzogen oder doch Hilfe eintraf. Aus diesem Grund übersiedelten die Bewohner des ehemaligen Lagers ab dem Jahr 1000 auf den heutigen Stadtberg, der sich besser zur Verteidigung eignete. Das Legionslager scheint zur Zeit der Ungarneinfälle noch bestanden zu haben, und dürfte parallel zum Aufbau der Ennser Stadtbefestigung schrittweise abgebaut worden sein.

Die römische Kampfführung hatte auch eine Auswirkung auf das Schicksal von Lauriacum. Ursprünglich sollte der Ort keine Grenzstadt bleiben und sich das römische Reich in das Barbaricum ausdehnen. Die Niederlage im Teutoburgen Wald, mehrere hundert Kilometer entfernt im Jahr 9 n. Chr. beendete die römischen Pläne der Ausbreitung in die germanischen Siedlungsräume, die auch später nicht mehr verwirklicht werden konnten. Bei dieser Schlacht verloren die Römer drei Legionen, vermutlich vor allem deshalb, weil ihre zwar effektive aber auch schwerfällige Kampfführung im bewaldeten Gebiet der germanischen Gefechtstechnik und Taktik unterlegen war.

Die weitere Route des Ausfluges in die Ennser Militärgeschichte führt entlang der Stiegengasse, die entlang der ehemaligen Ringmauer verläuft und bei jener Kreuzung beginnt, bei der sich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts das östliche Stadttor (Wiener Tor) befand. Bei der Ecke Stiegengasse/Basteigasse ist eine Stiege. Diese Stelle ist nicht nur ein günstiger Aussichtsspunkt Richtung Osten, sondern auch der Platz einer Gedenktafel für die 65. US-Infanteriedivison. Diese erinnert an den 5. Mai 1945, als die Spitzen dieser Division die Stadt und den Fluss erreichten, und wurde zum 50. Jahrestag dieses Ereignisses 1995 dort angebracht.

An den Resten der Stadtmauer in der Basteigasse vorbei, gelangt man zur Fürstengasse und von dort weiter über den Hauptplatz zur Kaltenbrunner-Gasse. Diese Schleife führt nicht nur teilweise entlang der ehemaligen Stadtbefestigung, sondern auch zu drei der insgesamt noch fünf erhaltenen Türmen der Ringmauer. Diese sind: der Judenturm am Ende der Kaltenbrunnergasse, wo auch der Platz des ehemaligen Linzertores ist (Ecke Linzer Straße/Säufzerallee), der Bäckerturm am östlichen Ende der Bräuergasse und der Pfaffenturm bei der Pfarrgasse.

Bereits die römischen Kastelle und somit auch die Legionslager, die de facto große Kastelle waren, waren mit Türmen bestückt. Diese hatten die gleiche Aufgabe wie die Türme von mittelalterlichen Stadtbefestigungen, wobei sie sich in Lauriacum nicht vor, sondern hinter den Mauern befanden und diese nur um wenige Meter überragten. Die Türme ermöglichten eine überhöhte und weitreichende Beobachtung und somit den Einblick ins Gelände, boten neben der Mauer eine Deckung sowie die Möglichkeit sich innerhalb des Schutzes dieser Befestigungen zu bewegen. Die Türme erhöhten die Reichweite und Wirkung der eigenen Waffen bei gleichzeitiger Herabsetzung der gegnerischen Waffenwirkung, ein Effekt, den vorgelagerte Gräben unterstützten.

Zusätzlich erhöhten die Türme (falls sie außerhalb der Mauern waren) die Anzahl der sicht- und schusstoten Räume für den Gegner, die wiederum von eigenen Waffen beherrscht werden konnten. Sie standen so nahe beisammen, dass zwischen ihnen die Kommunikation möglich war und sich die Einsatzschussweiten der Waffen, die häufig nur Steine oder andere Wurfgeschosse waren, überlappten. Somit wurden die noch heute in der Kampfführung essenziellen Elemente Beobachtung, Wirkung, Deckung und Bewegung sowohl in der antiken als auch in der mittelalterlichen Kriegsführung angewandt und ein Schlüssel zum Abwehrerfolg. Sie waren auch bei der stationären Verteidigung einer Stadt von wesentlicher Bedeutung und die Grundlage für die Planung und den Ausbau der Geländeverstärkungen in Form von Stadtmauern. Auch wenn die Vorteile teilweise nur einige Meter ausmachten, war die Summe der kleinen Maßnahmen dennoch groß und aufgrund der damaligen Kampfentfernung die zumeist unter 30 m (Nahkampfentfernung) lagen, entscheidend.

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Hofrat Gerold Keusch, BA MA ist Leiter Online-Medien beim TRUPPENDIENST.

 

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