• Veröffentlichungsdatum : 27.09.2022
  • – Letztes Update : 05.10.2022

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Die ukrainischen Offensiven in Cherson und Charkiv

Markus Reisner

Seit Ende August 2022 konnten die ukrainischen Streitkräfte dank der Offensiven in Cherson und Charkiw Erfolge gegen die russischen Truppen erzielen. Wie ist das gelungen? Und wurde dadurch eine Wende im Krieg herbeigeführt?

(Stand: 14. September 2022)

Als Ausgangspunkt für die Analyse der beiden Offensiven dienen die vier Faktoren Gelände, eingesetzte Kräfte, Zeit und Information.
 

Offensive in Cherson

Die ukrainische Offensive im Raum Cherson im Süden der Ukraine begann am 29. August 2022 und die wechselvollen Kämpfe dauern bis heute an.

Faktor Gelände

Die russischen Streitkräfte konnten bereits zu Beginn des Krieges das Westufer des Flusses Dnjeprs in Besitz nehmen. Seitdem halten sie dort einen Brückenkopf, der sich von der Dnjepr-Mündung im Südwesten, über die Stadt Cherson bis in den Nordosten zieht.

Im Juli und August 2022 gelang es den Ukrainern Kräfte bereitzustellen, um die Voraussetzungen für eine mögliche Offensive zu schaffen. Die Vorbereitungsphase war vor allem vom Versuch geprägt, den russischen Brückenkopf zu isolieren. Das Ziel war es, die drei wesentlichen Übergangsstellen über den Dnjepr – eine Brücke bei Cherson, eine Eisenbahnbrücke in deren Nähe sowie eine weitere Brücke bei einem Kraftwerk im Osten – zu zerstören. Diese drei Brücken stellten Nadelöhre für die Versorgung der russischen Truppen dar.

Nach diesem „Shaping“ war es die Absicht der Ukrainer die russischen Streitkräfte mit zwei Angriffen im Norden und Süden zu binden. Danach sollten mit einem zentralen Stoß zwei Kesseln zwischen dem Dnjepr und den ukrainischen Streitkräften gebildet werden. In weiterer Folge wäre es die Absicht der ukrainischen Streitkräfte gewesen einen Kessel nach dem anderen zu zerschlagen.

Faktor Kraft

Die vom Westen gelieferten Waffensysteme waren eine wesentliche Voraussetzung für einen möglichen Erfolg der Offensive. Besonders zu erwähnen sind die gelieferten Panzer vom Typ T-72 aus Polen und Tschechien, aber auch Schützenpanzer vom Typ BMP. Diese bildeten die Speerspitze der Angriffe.

Das Mehrfachraketenwerfer-System HIMARS erwies sich hingegen bei der Zerstörung der Brücken ebenfalls als effektiv. Auch der Einsatz von mobiler Artillerie, wie das polnische System KRAB, war von wesentlicher Bedeutung. Die Angriffe selbst erfolgten durch drei mechanisierte Kampfgruppen und vor allem mobile Einheiten, die es den Ukrainern nach einem Durchbruch ermöglichen sollten, rasch Geländeteile in Besitz zu nehmen.

Am Beispiel von HIMARS zeigt sich die Wirkung westlicher Waffensysteme. Bisher wurden etwa 16 Stück Mehrfachraketenwerfer-Systeme an die Ukraine geliefert, die damit mehr als 400 russische Ziele angriff. Dies wirkte sich vor allem auf die Logistik der russischen Truppen aus, da unter anderem wichtige Munitionslager und Stützpunkte zerstört wurden.

Faktor Zeit

Die russischen Streitkräfte setzten zur Aufklärung der ukrainischen Bereitstellungen Drohnen ein. Daraus ergab sich für die Ukrainer die Herausforderung ihre Kräfte im offenen Gelände bereitzustellen, ohne sofort zum Ziel von Beschuss zu werden. Das flache Gelände ließ kaum Deckungsmöglichkeiten zu.

Videos und Bildmaterial zeigen, wie die russische Seite mit Artillerie immer wieder gezielt die wenigen Heckenstreifen beschießt in dem sich die ukrainische Seite untergezogen hatten. Auch vom Beginn der Offensive gibt es Fotos, auf denen man die vorrückenden ukrainischen Verbände im offenen Gelände und das Einschlagen der Granaten der russischen Artillerie, erkennen kann.

Faktor Information

Die Offensive begann am 29. August 2022 an drei Stellen. Einerseits mit Bindungsangriffen im Südwesten bzw. im Nordosten sowie mit dem Versuch eines zentralen Vorstoßes inklusive eines Brücken- bzw. Flussübergang in der Mitte. Dort war es die Absicht, nach der Zerstörung der Brücken in der vorbereitenden Phase zwei Kessel zu bilden.

Aufgrund des guten Lagebildes der russischen Truppen war es diesen möglich, die ukrainischen Angriffsspitzen rasch mit Gegenangriffen, Artillerie und dem Einsatz von Kampfhubschraubern abzunutzen. Darum dürfte es bisher auch keinen signifikanten Vormarsch der ukrainischen Seite gegeben haben. Bemerkenswert ist jedoch der Vorstoß im zentralen Bereich des russischen Brückenkopfes sowie im Nordosten. Das Problem bei der weiteren Entwicklung der Offensive ist vor allem die laufende Aufklärung der russischen Seite. Diese hat sich zudem seit Monaten in vorbereiteten Stellungen eingegraben.
 

Offensive in Charkiv

Die ukrainische Offensive im Raum Charkiv begann am 6. September 2022 und hier wurde tatsächlich ein durschlagender messbarer Erfolg erzielt.

Faktor Gelände

Im Raum der zweiten Offensive versuchten die russischen Streikräfte nach dem Erfolg der Kesselschlacht von Lyssytschansk weiter Richtung Westen anzugreifen. Dazu wurde ein weiteres Korps, das dritte Armeekorps, aufgestellt. Die angenommene Absicht der Russen war es aus dem Raum Isjum in den Süden vorzustoßen und damit die Situation im Donbass mit einem Schlag für sich zu entscheiden.

Bereits seit Juli gabe es immer wieder Hinweise, dass sich die ukrainischen Streitkräfte im Raum Charkiw bereitstellen würden, um diesen russischen Plan zu verhindern. Tatsächlich schafften es die Ukrainer, unter der höchsten Geheimhaltung, dort Kräfte bereitzustellen. Der Plan war weiter in Richtung Osten bis an den Fluss Oskil vorzustoßen. Dies würde die Ukrainer in die Lage versetzen, diesen Raum in Besitz zu nehmen und die russischen Streitkräfte bei Isjum einzukesseln.

Faktor Kraft

Auch bei dieser zweiten Offensive war westliches Militärmaterial entscheidend für den Erfolg. Einerseits spielten erneut Panzer vom Typ T-72 aus Polen und Tschechien eine große Rolle, aber auch Schützenpanzer vom Typ M113. Außerdem wurden auch Mehrfachraketenwerfer vom Typ MLRS eingesetzt (Mehrfachraketenwerfer-Systeme auf Ketten). Zum Einsatz kam zudem die Panzerhaubitze 2000, die sich für den Verschuss endphasengesteuerte Munition vom Typ "Excalibur" eignet. Auch hochmobile Einheiten, zum Teil auf Pickups oder gepanzerten Fahrzeugen (z. B. „Bushmaster“) waren von zentraler Bedeutung.

Dass die Moral der ukrainischen Soldaten dieser Angriffsgruppierung sehr hoch ist zeigt ein Video, das unmittelbar vor dem Beginn der Gefechte aufgenommen wurde. Es zeigt, wie ukrainische Soldaten sich nochmals versammeln und ihre Nationalhymne singen.

Der Einsatz spezieller Waffensysteme trug ebenfalls zum Gelingen dieser Offensive bei. Ein Beispiel dafür ist die bereits genannte endphasengesteuerte Artilleriemunition vom Typ „Excalibur“, die eine hohe Zielgenauigkeit hat. Ein anderes wirkungsvolles Waffensystem ist die Anti-Radar-Rakete vom Typ AGM-88 aus den USA. Mit dieser gelang es der Ukraine, gezielt russische Fliegerabwehrsysteme zu zerstören und den eigenen Vormarsch sowie den Einsatz der eigenen Luftwaffe – wenn auch in geringem Umfang – durchzusetzen.

Faktor Zeit

Die Offensive begann am 6. September 2022 und fasste an einer günstigen Stelle Fuß, wo eher untergeordnete russische Einheiten im Einsatz waren. Eine gemischte Kampfgruppe konnte mit Panzern vorausfahrend einen zentralen Durchbruch erzielen. Dieser Vorstoß entwickelte sich rasch und wurde zentral in Richtung Osten weiter vorangetrieben. Schlussendlich war es möglich, eine Distanz von mehr als 50 Kilometer in kurzer Zeit zu überbrücken.

Dank dieses Durchbruches konnten hochmobile ukrainische Einheiten rasch Ortschaften in Besitz nehmen, die ukrainische Flagge hissen und Bilder davon den sozialen Netzwerken teilen. Damit entstand für die russischen Soldaten der Eindruck, dass sie zunehmend umfasst und eingekesselt werden. Das Ergebnis war schließlich eine Flucht der russischen Streitkräfte in Richtung Osten. Und wie die Militärgeschichte zeigt, so war es auch nicht hier mehr möglich eine große Armeeformation, welche einmal begonnen hat sich fluchtartig abzusetzen, aufzuhalten.

Die Russen taten das Einzige, das zu diesem Zeitpunkt noch möglich war: Sie versuchten eine Verteidigungsstellung am Fluss Oskil einzurichten und dort die zurückflutenden Verbände aufzunehmen. Wie prekär die Situation war sieht man in mehreren Videos, die zeigen sollen, wie russische Soldaten mit schweren Hubschraubern vom Typ MI-26 bis in die Nacht hinein Panzer anlandeten und diese Linie verstärkten. Von den russischen Truppen wurde schließlich viel schweres Gerät (man nimmt an die Ausstattung von drei Panzerregimentern) zurückgelassen, weil man sich überstürzt nur mit den leichten Fahrzeugen Richtung Osten oder Richtung Süden bzw. Richtung Isjum, abgesetzt hatte.

Faktor Information

Der ukrainische Angriff wurde im Kern von zwei mechanisierten Brigaden, einer Luftsturmbrigade, territorialen Einheiten und zusätzlichen Elementen zur Unterstützung durchgeführt. Die ukrainischen Streitkräfte stießen rasch vor und schafften es den Angriff Richtung Osten weiter voranzutreiben. Das Problem aus russischer Sicht war, dass es ihnen nicht gelang, diesen Angriffsschwung zu brechen und sie daher von den Ereignissen überrollt wurden.

Historische Vergleiche

Bei der Analyse dieser Offensive kann man historische Vergleiche heranziehen. Ein Beispiel wäre das Unternehmen Cobra im Juli 1944: Der Durchbruch der alliierten Streitkräfte aus dem Brückenkopf in der Normandie in die Tiefe des französischen Tieflandes. Dabei gelang es durch den Einsatz von zwei Panzerdivisionen rasch in die Tiefe zu stoßen und die Voraussetzungen für den Kessel von Falaise zu schaffen. Den deutschen Streitkräften gelang es nur fluchtartig aus diesem Kessel auszubrechen und sie ließen eine hohe Anzahl an Waffen, Ausstattung und Gerät zurück.

Die Situation lässt sich auch mit dem Unternehmen Bagration im Juni 1944 vergleichen. Dort gelang es durch einen massiven Angriff, nicht nur die russische Seite voranzutreiben, sondern vor allem die deutsche Seite in eine Fluchtbewegung überzuleiten, die bis fast zur Grenze des Deutschen Reiches nicht mehr nachhaltig gestoppt werden konnte. Auch dieses Ereignis ist in der Ukraine theoretisch möglich.

Es ist aber auch möglich, dass der Erfolg nur von kurzer Dauer ist, vergleichbar mit der deutschen Ardennen-Offensive im Dezember 1944. In diesem Fall gelang zwar der Vorstoß, aufgrund der Überlegenheit des Gegners war man jedoch gezwungen, das gewonnene Gelände wieder aufzugeben.

Möglicherweise führen die Erfolge der ukrainischen Streitkräfte aber dazu, dass es zu Umbrüchen in Russland kommt, ähnlich wie im Oktober 1917. Momentan gibt es zwar keine Indikatoren dafür, aber es könnte durchaus sein, dass es nach dieser zweiten schweren Niederlage zu Zerfallserscheinungen kommt.
 

Status Quo und Ausblick

Russland beherrscht nach wie vor die Krim und den Oblast Luhansk sowie zu einem hohen Anteil Cherson und Zarporoschija. Auch in Donezk gelingt es den russischen Truppen nach wie vor langsam vorzumarschieren. Hier sind 60 Prozent besetzt. Der entscheidende Unterschied ist nun im Raum Charkiw. Möglicherweise wurde sogar nicht nur dieser, sondern auch Geländeabschnitte im Oblast Mykolajiw bzw. Cherson, in ukrainischen Besitz genommen. Das bedeutet, das von Russland besetzte Gelände verringert sich weiter, auf zumindest unter 20 Prozent.

Nach der erfolgreichen Durchführung dieser ukrainischen Offensiven, geht der Konflikt nun in eine neue Phase. Die erste Phase war der Angriff und die Abwehr der russischen Streitkräfte im Raum Kiew. Die zweite Phase war das Übergehen der Handlungsinitiative an Russland und die Angriffe im Donbass mit der Kesselschlacht von Lyssytschansk. Die dritte Phase ist durch die Offensiven bei Cherson bzw. Charkiw vom Übergehen der Initiative auf die ukrainische Seite gekennzeichnet. Zur Zeit ist erkennbar, dass der Erfolg von Charkiv durch weitere ukrainische Angriffe im Raum Lyman ausgenützt werden soll. Hier kann ebenfalls eine Einkesselung gelingen. Südostwärts von Lyman rücken die Russen aber weiterhin langsam in Richtung Westen vor. Ziel ist die gänzliche Einnahme des Oblastes Donetsk.

Der Erfolg im Raum Charkiw hat gezeigt, dass die Ukrainer in der Lage sind, nach einer Zusammenziehung der Kräfte und nach entsprechender Geheimhaltung eine Offensive durchzuführen. Die Offensiven zeigen auch dass die westlichen Waffenlieferungen das Gefechtsfeld entscheidend beeinflussen können. Es hängt nun entscheidend davon ab, ob die ukrainischen Streitkräfte diesen Erfolg weiter ausbauen können. Das Ergebnis wird man in den nächsten Wochen und Monaten sehen. Es wird auch von den Auswirkungen der russischen Mobilisierung abhängig sein. Erst im Frühjahr wird sich daher zeigen, ob tatsächlich eine Wende in diesem Krieg herbeigeführt wurde.

Oberst dG Dr. Markus Reisner, PhD ist Leiter der Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie, dzt. Kommandant der Garde in Wien.

 

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