• Veröffentlichungsdatum : 30.01.2023
  • – Letztes Update : 25.01.2023

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Warten auf Kampfpanzer

Markus Reisner

Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine geht in die nächste Runde und er wird wohl noch länger andauern. Die Annahme vieler Experten in den letzten Monaten, dass diese bewaffnete Auseinandersetzung schnell vorbei sein könnte, ist jedenfalls nicht eingetroffen.

(Stand 17. Jänner 2023)

Zu Beginn des Krieges waren viele Experten – zum Beispiel der Leiter des U.S. Militärnachrichtendienstes General Scott D. Berrier  – davon überzeugt, dass die Ukraine diesen Konflikt nicht lange durchhalten kann. Dennoch konnte sie den ersten Angriff der russischen Seite abwehren. Die Ukraine ist jedoch auf die Hilfe von westlichen Verbündeten, vor allem der USA angewiesen, um weiterhin gegen die russische Armee bestehen zu können. Es gibt zwei Faktoren die wesentlich sind, um den gegenwärtigen Status-Quo im Ukraine-Krieg zu verstehen, den Abnützungskrieg und den „Schlagabtausch“.

Abnützungskrieg

Diese Form des Krieges ist davon geprägt, dass er so lange dauert, bis eine Seite entweder keine Ressourcen mehr zur Verfügung hat, um den Krieg zu führen oder ein Ereignis eintritt, durch das eine Seite so in die Enge getrieben wird, dass sie ihre Strategie nicht mehr weiterführen kann. Dieser Fall ist zurzeit nicht absehbar. Aufgrund des Abnützungseffektes sind hingegen massive Verluste auf beiden Seiten zu beobachten.

Schlagabtausch 

Der zweite Faktor ist, dass es beiden Konfliktparteien nicht gelingt, ein entscheidendes Ereignis herbeizuführen. Die Situation ist vergleichbar mit einem Boxkampf, wo Runde um Runde nach Punkten gewonnen wird. Das entscheidende KO, das den Kampf beenden würde, fehlt jedoch.

Erfolg und Misserfolg 

In den vergangenen Monaten konnte beobachtet werden, wie beide Armeen sich geschlagen und aus ihren Fehlern gelernt haben. Beide Konfliktparteien sind durch eine hohe Flexibilität in der Lage sich auf verschiedene Situationen einzustellen. Nun geht es um die Ausdauer, diesen Abnützungskrieg weiterführen zu können.

Strategien und Taktiken Russlands 

Um den Krieg bzw. den dahinterstehenden Konflikt zu verstehen, ist es nicht zielführend, die russische Seite als inkompetent oder nicht einsatzfähig zu bezeichnen. Es hat Erfolge gegeben und diese muss man analysieren, um sich auf eine weitere Eskalation des Krieges vorbereiten zu können.

Russland hat in seinem Schockmoment, dem Abwehrerfolg der ukrainischen Streitkräfte am Beginn des Angriffes, erkannt, dass seine Taktik und die angewendeten Gefechtstechniken, nicht weiterverfolgt werden können. Die russischen Streitkräfte haben deshalb eine völlige Änderung ihrer Strategie durchgeführt. Das gilt vor allem für den Einsatz der Landstreitkräfte.

In der zweiten Phase des Angriffes, als noch nicht absehbar war, ob sich die Ukraine erfolgreich verteidigen kann, marschierte Russland nur langsam voran und versuchte, mit dem Einsatz von Artillerie eine Entscheidung herbeizuführen. Ein wesentlicher russischer Erfolg in den letzten elf Monaten war die Einnahme der Stadt Mariupol, auch wenn dies erst nach heftigen Gefechten mit vielen zivilen Opfern gelang.

Die russischen Streitkräfte werden weiterhin versuchen, gewonnenes Gelände zu halten und sich im besetzten Gebiet einzugraben. Von dort aus werden umfangreiche Maßnahmen zur Verstärkung von Stellungen, zum Stellungsausbau und zum Heranholen von zusätzlichen Kräften durchgeführt.

Ukraine zwischen Angriff und Verteidigung 

Die Ukraine hat zu Beginn auf der taktischen und operativen Ebene viele Dinge richtig gemacht und so Erfolge bei Kiew, Charkiw und Cherson erzielt. Das Problem war, dass die ukrainischen Streitkräfte zu wenig auf die Abwehr von Marschflugkörpern, ballistischen Raketen und Drohnen, die die Infrastruktur des Staates trafen, vorbereitet waren. Die Ukraine hätte bereits viel früher Fliegerabwehr von ihren Unterstützern fordern müssen. Sie tat das jedoch erst im Oktober 2022 als Russland begann die kritische Infrastruktur anzugreifen. Ihre eigenen Systeme waren zu diesem Zeitpunkt bereits signifikant verbraucht.

Die ukrainische Führung wird weiterhin ihre westlichen Verbündeten um rasche und effiziente Unterstützung bitten, damit sie eine Offensive starten kann. Nur so kann der Krieg weitergeführt werden. Das Maximalziel bleibt die Rückeroberung aller besetzten Gebiete, inklusive der Krim.
 

Die ukrainischen Landstreitkräfte

Zu Beginn des Krieges hatte die Ukraine die stärksten Landstreitkräfte Europas mit ca. 2.400 Kampf- und Schützenpanzern. Diese Zahl war im Sommer 2022 signifikant gesunken. Durch das Eintreffen der schweren Waffen aus Europa (etwa 1.400 Kampf- und Schützenpanzer sowie gepanzerte Mannschaftstransportfahrzeuge) gelang es der Ukraine wieder in die Offensive zu gehen. Diese Waffensysteme sind jedoch mittlerweile in großen Teilen verbraucht. Der Generalstabschef der Ukraine, Walerij Saluschnyj, fordert aus diesem Grund weitere 300 Panzer, 600 bis 700 Schützenpanzer und 500 Artilleriesysteme, damit die ukrainischen Truppen erneut in die Offensive gehen können.

Die ukrainischen Landstreitkräfte müssen mittlerweile zum dritten Mal aufgestellt werden. Das zeigt, wie hoch der Ressourcenverbrauch in den Kämpfen der vergangenen beinahe zwölf Monate tatsächlich war. Im Sommer 2022 wurden beispielsweise an einem Tag von beiden Seiten etwa 80.000 Artilleriegranaten verschossen. Ungefähr 60.000 Granaten von der russischen, 20.000 von der ukrainischen Seite. Mittlerweile wurden bereits Millionen von Artilleriegranaten verschossen.

Differenz zwischen Forderung und Lieferung 

Die Ukraine hat die Zusage über etwa 60 Schützenpanzer des Typs „Bradley“ aus den USA, und 40 Stück „Marder“ aus Deutschland. Bei den Kampfpanzern wurde lange diskutiert. Im Moment steht die Lieferung von bis zu 50 M1 „Abrams“, jeweils 14 „Leopard“ aus Deutschland und Polen, acht aus Norwegen und weitere aus Finnland und den Niederlanden im Raum. Die britische Armee prüft die mögliche Lieferung von 14 Stück „Challenger“ Panzern. Insgesamt über 100 schwere Kampfpanzer.

Anhand dieser Zahlen ist deutlich der klare Unterschied zu sehen, zwischen dem was gefordert wird und dem was geliefert wird. Die Zahlen der Schützen- und Kampfpanzer passen nicht mit den ukrainischen Forderungen von 600 bis 700 Schützenpanzern und 300 Kampfpanzern zusammen. Diese Zahlen sind notwendig um rasch und schnell eine Entscheidung herbeizuführen und wieder in die Offensive zu gehen.

In den vergangenen elf Monaten war die Geschwindigkeit der entscheidende Faktor beim Einsatz von Waffensystemen. Der Ukraine läuft jedoch die Zeit davon, da sie auf die Lieferungen aus dem Westen angewiesen ist, um das Momentum aufrechtzuhalten. Zusätzlich wird es immer schwieriger, eine Offensive zu starten, je länger sie warten müssen. Das Ziel der Ukraine ist es, die russischen Streitkräfte nicht zur Ruhe kommen zu lassen, damit sie sich nicht eingraben und konsolidieren können. Gemäß der klassischen Militärtheorie benötigt ein Angreifer mindestens eine dreifache Überlegenheit gegenüber dem Verteidiger. Wenn dieser eingegraben ist, eine vierfache und im urbanen Raum sogar eine achtfache Überlegenheit.
 

Kampf der verbundenen Waffen 

Waffensysteme sind am effektivsten, wenn alle Teilsysteme zusammenspielen und ineinandergreifen. So kann der Kampfpanzer, aufgrund seiner Beweglichkeit, Feuerkraft und Panzerung, in den Angriff übergehen. Er schützt den Schützenpanzer, der ihn begleitet. Dieser bzw. seine Besatzung ist notwendig, wenn es darum geht, Gelände in Besitz zu nehmen, vor allem im urbanen Raum oder in einem vom Gegner besetzten Gebiet. Unterstützt werden die Panzer von der Artillerie. Diese bekämpft zuerst den Gegner mit Steilfeuer, damit er so geschwächt ist, dass Kampf- und Schützenpanzer gemeinsam erfolgreich angreifen können. Alles spielt ineinander. Waffensysteme stehen nicht für sich alleine. Sie müssen, ebenso wie das Kaliber und die Durchschlags- bzw. Leistungsfähigkeit, als Gesamtes betrachtet und beurteilt werden.
 

Ausblick 2023 

Es ist abzusehen, dass der Krieg noch länger fortgeführt wird. Eine Hoffnung für eine friedliche Lösung ist, dass der Abnützungseffekt so weit fortschreitet, dass es möglich ist Verhandlungen zu führen. Momentan werden diese noch kategorisch ausgeschlossen. Im Hintergrund sind jedoch Bewegungen zu sehen, wie der Gefangenenaustausch zwischen den Konfliktparteien oder der Abzug von Soldaten aus Cherson.

Es wird also notwendig sein, dass bei beiden Seiten ein Erschöpfungszustand eintritt, der die Bereitschaft erhöht, sich an einen Tisch zu setzen. Da es für Friedensverhandlungen vermutlich noch zu früh wäre, könnte ein temporärer Waffenstillstand eine realistische Option sein. In der Geschichte gibt es aber auch Beispiele, dass ein Krieg nach einem Erschöpfungszustand weitergehen kann. Eine Möglichkeit wäre, dass sich ein Konflikt in einer Pause befindet, der später mit einer noch größeren Vehemenz erneut ausbricht.

Oberst dG Dr. Markus Reisner, PhD ist Leiter der Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie, dzt. Kommandant der Garde in Wien.

 

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