• Veröffentlichungsdatum : 20.03.2023
  • – Letztes Update : 25.04.2023

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PerspektivenReich: Diskussionslose Neutralität?

Katharina Reich

Zur österreichischen Neutralität ist eine Diskussionskultur aktuell rar, die alle Möglichkeiten ihrer Ausgestaltung sachlich auslotet. Derzeit gibt es in der Bevölkerung ein Selbstverständnis, dass die Neutralität ein Teil der Identität ist. Vielfach wird davon ausgegangen, dass diese unantastbar sei, was jedoch nicht stimmt. Die Wissenslücken sollten in Diskussionen gefüllt werden.

Im Bereich der Verteidigungspolitik, dem militärischen Ast der Neutralität, gäbe es drei zentrale Möglichkeiten:

  • Beibehalten der Neutralität mit einem Hochrüsten, um verteidigungsfähig zu werden;
  • NATO-Beitritt;
  • Mitgliedschaft in einer europäischen Armee.

Der aktuelle Status Quo als formal Neutraler mit einem minimalen Heer stellt, auch angesichts des Ukraine-Krieges, keine Option dar.
 

Österreichs Neutralität und EU-Europa 

Das Wort „neutral“ leitet sich vom lateinischen Ausdruck „neuter“ (keiner von beiden) ab. Die Idee einer österreichischen Neutralität wurde bereits in der Kaiserzeit formuliert. Der letzte k.k. Ministerpräsident Heinrich Lammasch argumentierte sie mit Überlegungen zur geografischen Lage Österreichs im Zentrum Europas. 1919 trat er als Sachverständiger bei den Friedensverhandlungen in Saint-Germain für die Neutralität Österreichs ein.

Zur Neutralität gilt es bezüglich Völkerrecht, Unionsrecht und Verfassungsrecht zu unterscheiden. Im Völkerrecht wird zwischen der temporären und der dauernden (immerwährenden) Neutralität unterschieden. Die temporäre Neutralität ist ein, auf den Zeitraum eines Krieges, beschränktes Ausbleiben militärischer Handlungen auf der Seite einer Kriegspartei, wenngleich Wirtschaftssanktionen möglich sind. Die dauernde oder immerwährende Neutralität gilt auch im Friedenszustand.

Am 26. Oktober 1955, dem Tag an dem der letzte Besatzungsoldat Österreich verließ und der Staat tatsächlich seine volle Souveränität erlangte, erklärte die Bundesregierung aus freien Stücken die Neutralität Österreichs. Im Staatsvertrag von Wien, der am 15. Mai 1955 zwischen den vier Siegermächten (USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich) und der Bundesregierung unterzeichnet wurde, gibt es keinen Hinweis auf die Neutralität. Das dürfte damit zusammenhängen, dass diese nur ein souveräner Staat beschließen kann und nicht aufgezwungen werden darf. Dennoch gibt es keinen Zweifel daran, dass ein neutrales Österreich als Puffer zwischen „dem Westen“ und „dem Osten“, eine Bedingung der Sowjetunion war. 65 Staaten mit denen Österreich 1955 in diplomatischer Beziehung stand, haben die Neutralität anerkannt und notifiziert. Seit 1965 ist der 26. Oktober ein Staatsfeiertag.

Zwischen 1955 und 1990 haben sich die außenpolitischen Rahmenbedingungen der Neutralität durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Paktes völlig verändert. Mit dem EU-Beitritt am 1. Jänner 1995 gilt für Österreich das EU-Recht in vollem Umfang. Dieses stellt Solidarität vor Neutralität, wenn Freiheit, Demokratie oder Menschenrechte bedroht werden. Festgehalten und von Österreich unterzeichnet, wurde das am 7. Februar 1992 im EU-Vertrag (EUV) von Maastricht. Zentral ist die „Wahrung der gemeinsamen Werte, der grundlegenden Interessen, der Unabhängigkeit und der Unversehrtheit der Union“  und die „Stärkung der internationalen Sicherheit“  im Einklang mit der UN-Charta. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass das Kapitel VII der UN-Charta (Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen) durchaus im Spannungsverhältnis mit der Neutralität steht, wobei die Aufnahme Österreichs in die UNO am 15. Dezember 1955 für die Sowjetunion kein Widerspruch war.

Die EU-Mitgliedschaft bringt eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) mit sich. Diese ist integraler Bestandteil der Mitgliedschaft. Ein Beitritt zu einer Verteidigungsunion – einem Militärbündnis – wäre Österreich aufgrund der Neutralität verwehrt, ein solches ist die EU jedoch nicht. In der GASP gibt es absichtliche Spielräume für neutrale Staaten. So wird auf politische Eigenheiten und historische Befindlichkeiten der Mitglieder eingegangen und gleichzeitig eine gemeinsame EU-Außenpolitik ermöglicht.

Gemäß dem Vertrag über die Europäische Union (EUV) müssen EU-Mitgliedstaaten „die Außen- und Sicherheitspolitik der Union aktiv und vorbehaltlos im Geiste der Loyalität und der gegenseitigen Solidarität“  unterstützen (Art 11 Abs 2 EUV). Der Art 17 Abs 1 besagt jedoch, dass die „Politik der Union nach diesem Artikel (…) nicht den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten“  berührt. Dieser substanzielle Kompromiss, der Neutralen die Eigenständigkeit bei einer gemeinsamen Entscheidungsfindung der Union garantiert, wird „irische Klausel“ genannt.

Der Gesetzgeber hat auf das Spannungsverhältnis zwischen Neutralität und EU-Beistandsklausel reagiert. Österreich wirkt deshalb an der GASP mit, inklusive der Petersberger Aufgaben sowie möglicher wirtschaftlicher Sanktionen gegenüber Drittstaaten. Der Art. 23f B-VG beinhaltet verfahrensrechtliche Regelungen, wie die Genehmigungen gewisser Beschlüsse durch den Nationalrat mit qualifizierter Mehrheit, dessen Recht auf Stellungnahme, dem Einvernehmen zwischen Bundeskanzler und Außenminister sowie dem Aufbau einer gemeinsamen Verteidigungspolitik oder der Mitwirkung des Nationalrates bei der Entsendung von Soldaten. Es gibt keine inhaltliche Beschränkung der proklamierten Mitwirkung an der GASP. Wie weit die Bindung Österreichs an die dauernde Neutralität bei der Mitwirkung bzw. Beteiligung an friedensschaffenden Einsätzen gehen darf, ist in der Rechtslehre strittig. Ein Teil der Rechtskundigen verneint den Einklang mit Art 23f B-VG.

Die Kernelemente der Neutralität sind weiterhin sowohl innerstaatlich als auch völkerrechtlich verbindlich. Österreich hat erklärt, immerwährend nicht an Kriegen teilzunehmen und akzeptiert damit verbundene Vorwirkungen in Friedenszeiten. Gemäß Art I Abs 2 des Neutralitätsgesetzes besteht deshalb die Verpflichtung, keinem militärischen Bündnis beizutreten bzw. die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf österreichischem Territorium nicht zu dulden. Abseits internationaler Erfordernisse bedarf die Einschränkung oder Aufhebung der Neutralität einer Verfassungsänderung, die eine Zweidrittelmehrheit im Nationalrat benötigt. Das gilt auch im Falle eines Beitrittes zur NATO.

1975 wurde die Umfassende Landesverteidigung (ULV) als Verteidigungsgrundlage der Österreichischen Neutralität beschlossen. Das Ziel ist im B-VG Artikel 9a. (1) wie folgt formuliert: „Österreich bekennt sich zur Umfassenden Landesverteidigung. Ihre Aufgabe ist es, die Unabhängigkeit nach außen sowie die Unverletzlichkeit und Einheit des Bundesgebietes zu bewahren, insbesondere zur Aufrechterhaltung und Verteidigung der immerwährenden Neutralität.“

Verteidigungsministerin Klaudia Tanner betonte bei einer Ansprache am Nationalfeiertag 2020: „Landesverteidigung endet nicht am Kasernenzaun, denn dort beginnt sie! Sie muss in Schulen, in Unternehmen und sogar in Familien stattfinden, um ein Bewusstsein zu schaffen!“  Damit spricht sie sich für eine Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung aus, mit der Geistigen Landesverteidigung als Element der ULV.

Neutralität im internationalen Umfeld

Österreichs Mitgliedschaft in der UNO ist das Zeichen einer flexiblen Außenpolitik und der Wiedererlangung der staatlichen Souveränität. Damit verbunden war und ist die Vision, dass man durch die UNO kollektiv geschützt ist. Die UN-Charta verpflichtet zur Teilnahme an Sanktionen gegen Staaten, die gegen das Gewaltverbot verstoßen. In der Verdross-Doktrin entkräftet Österreich das Spannungsverhältnis zwischen der Neutralität und der Teilnahme an Zwangsmaßnahmen. Darin ist festgelegt, dass Österreich nicht gegen seine Neutralität durch Maßnahmen der kollektiven Sicherheit verstoßen wird.

Österreich hat seine Beziehungen zur NATO erweitert und nimmt seit 1994/95 an der Partnerschaft für den Frieden (NATO-PfP) teil. Es beteiligte sich an verschiedenen NATO-geführten Operationen mit einem Mandat des UN-Sicherheitsrates, z. B. im Kosovo bei KFOR. Die NATO-Vertretung Österreichs besteht aus Diplomaten des Außenministeriums und Experten des Bundesministeriums für Landesverteidigung (BMLV) der österreichischen Militärvertretung in Brüssel. Beide bringen Österreichs Positionen und Interessen in Diskurse mit Partnerstaaten ein, wie bei der Vorbereitung von friedenserhaltenden Missionen mit österreichischer Beteiligung.

Zentraler Faktor für internationale Organisationen ist – zusätzlich zur Neutralität – die geopolitische Lage Österreichs. In der Vergangenheit war Österreich der neutrale Angelpunkt zwischen dem Westen und dem Osten. Seit dem Ende des Kalten Krieges hat sich die Situation völlig verändert. Was sind nun die neuen Faktoren von Neutralität? Eine Idee ist, Wirtschaft und Frieden durch einen Bund der europäischen Neutralen zu verbinden. Gerade die neutralen Zwergstaaten wie Liechtenstein (2021 laut Statista: BIP 5,36 Milliarden Euro), Malta (2021 laut Statista: BIP 14,53 Milliarden Euro) und Vatikan (2021: keine BIP-Angaben, da Einkommenszahlen zur Ermittlung fehlen) sind wegen ihres starken Finanzsektors bedeutend. Die anderen Neutralen wie Österreich, Irland, Moldawien (noch nicht international anerkannt neutral) und Serbien könnten ihre Neutralität, als „Waffe“ für den Frieden nutzen. Ein Sonderfall ist Weißrussland, das sich als „de-factoneutraler“ Staat bezeichnet, da es in einer engen Wirtschafts- und Verteidigungsunion mit Russland steht. Denkbar wäre ein Charity-Finanzierungs-Modell für den Frieden in Europa. Damit könnte beispielsweise eine Friedenstruppe finanziert werden, die größere Kontingente ermöglicht als bisher.

Parteipolitischer Standpunkt

Österreich zählt zusammen mit Irland und der Schweiz zu den letzten neutralen Staaten in Europa. Seit 1991 kann die Aus- und Durchfuhr von Kriegsmaterial durch die Bundesregierung erlaubt werden. Dies wird von verschiedenen Behörden genau geprüft. Voraussetzung ist die Umsetzung von Resolutionen des UN-Sicherheitsrates. Waffenlieferungen an andere Staaten waren in der österreichischen Politik ein wiederkehrender Streitpunkt. Dennoch wurden zwischen 2004 und 2017 von österreichischen Unternehmen Waffen und Fahrzeuge in 167 Länder exportiert. Beteiligt sich Österreich an Waffentransporten der EU in die Ukraine bewegt man sich in einem Graubereich. Ein Ausweg aus diesem Dilemma wäre eine Unterstützung aus dem EU-Budget und/oder außerbudgetärer Fonds für humanitäre Hilfe anstelle von Waffen, im Sinne der konstruktiven Enthaltung bei der Europäischen Friedensfazilität.

Überlegungen gegen die Neutralität gab es immer wieder. So wurde von Wolfgang Schüssel, ÖVP-Bundeskanzler von 2000 bis 2007, und dem BZÖ Fragen eines möglichen NATO-Beitrittes aufgeworfen. Die FPÖ hatte sich in den 1990er-Jahren kritisch zur Neutralität positioniert. Die SPÖ sah durch die NATO-PfP eine maximale Annäherung an die NATO und sprach sich für die Neutralität aus. Zusätzlich verteidigten gewichtige Stimmen aus der Presselandschaft, etwa der damalige Herausgeber der Kronen-Zeitung, Hans Dichand, die immerwährende Neutralität. Diskussionen gab es zudem über die EU-Beistandspflicht im Zusammenhang des nicht umgesetzten EU-Verfassungsvertrages und der Beteiligung Österreichs an der EU-Eingreiftruppe.

Da die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung eindeutig positiv zur Neutralität steht, wurde seitens der Politik ein Antasten aus wahltaktischen sowie grundsätzlichen Gründen gemieden. Einzig die NEOS hinterfragen diese und bekennen sich zu einer Beteiligung an einer EU-Armee. Im aktuellen Regierungsprogramm wird die aktive Neutralitätspolitik mit einem eigenständigen Beitrag Österreichs zu Frieden und Sicherheit in Europa und der Welt behandelt. In den Grundsatzprogrammen der einzelnen Parteien finden sich aktuell die folgenden Positionen:

  • Grüne (2001): Bekenntnis zu Neutralität;
  • FPÖ (2011): Bekenntnis zu Neutralität;
  • SPÖ (2018): Bekenntnis zu Neutralität;
  • ÖVP (2015): Weiterentwicklung zur Verteidigungsunion mit Ziel gemeinsamer EU-Armee;
  • NEOS (2019): Teilnahme an einer EU-Armee.

Da in Österreich entweder eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament oder eine Volksabstimmung zur Abschaffung benötigt wird und zu wenige Parteien dafür sind, ist die Aufgabe der Neutralität unwahrscheinlich, zumindest derzeit. Zusätzlich macht die notwendige Steigerung des Verteidigungshaushaltes als NATO-Mitglied auf zumindest zwei Prozent des Bruttoinlandproduktes (BIP) dieses Thema politisch zu einer „heißen Kartoffel“.

Allgemein gibt es wenige politisch relevante Dokumente zur Neutralität. Die Sicherheitsstrategie 2013 und die Teilstrategie Verteidigungspolitik 2014 beschreiben eine solidarische Sicherheitspolitik mit einer Verbindung zwischen Österreich und der EU. Damit wurde das ursprüngliche Neutralitätskonzept weiter ausgeformt und entwickelt. Vielfach wird die Auffassung vertreten, dass Österreichs Neutralität im klassischen Sinn nicht mehr bestehen würde. Zudem wird von einer zukünftig engeren NATO- und EU-Zusammenarbeit ausgegangen. Im Strategischen Kompass vom März 2022 heißt es dazu: „Die NATO bleibt das Rückgrat der europäischen Verteidigung“. Seit 2003 gibt es eine strategische Partnerschaft als Grundlage der gemeinsamen Sicherheit, die den Rückgriff auf NATO-Mittel und -Kapazitäten für militärische Operation erlaubt.

Die einseitige und ausschließliche Abstützung der Verteidigungsfähigkeit Europas auf die NATO zeigt sich aktuell als Schwäche. Die hauptfinanzierende Kraft der NATO sind die USA, wodurch Europa in der Verteidigung seine Unabhängigkeit einbüßt. Europa fällt aktuell mit der Drosselung der Gaslieferungen durch Russland aber auch diese Abhängigkeit „auf den Kopf“. Die einseitige Abhängigkeit bei relevanten Grundbedürfnissen, wie der Energiequelle Gas, zeigt sich als Nachteil für die europäische Unabhängigkeit – schlussendlich betrifft diese Verkettung Österreichs Neutralität.

Die Nord-Stream-1-Pipeline wurde 2009 mit einer Verdichterstation zur Druckerhöhung des Erdgases in der Leitung von Siemens Energy beliefert. Die zugehörige Turbine kommt aus Kanada und ist seit mehr als zehn Jahren im Einsatz. Für das Aufrechterhalten des Pipelinebetriebes muss diese regelmäßig gewartet werden, was aus technischen Gründen nur in Kanada möglich ist. Kanada ist aber an den Sanktionen gegen Russland beteiligt und weigert sich, die Gasturbine an den Kunden zurückzuliefern. Für die europäische Gasversorgung kann das katastrophale Folgen haben. Die Entwicklung einer eigenen Energieversorgung und der Fokus auf eine eigene Produktionswirtschaft ist als mittel- bis langfristige Strategie für Europa relevant.

Was hat das mit Neutralität zu tun? „Die Vernetzung der Wirtschaft steht der Neutralität zum Teil entgegen. Einem Staat der neutral ist, sind direkte Druckmittel, seitens der Wirtschaft, im Sinne einer Beteiligung an Sanktionen, schwer möglich“, sagte Außenminister Alexander Schallenberg im Mai 2022 hinsichtlich eines Embargos von russischem Gas. Dieses könne von Österreich aufgrund seiner Neutralität nicht mitgetragen werden, wurde von ihm argumentiert.

Durch den Krieg in der Ukraine wird sichtbar, wie ratlos die Europäische Union und ihre 27 Staaten gegenüber dem militärischen Vorgehen Russlands sind. Sie sind auf NATO und USA angewiesen. Sich von Amerika bzw. der NATO abhängig zu machen, ist zu hinterfragen. Europa wäre gut beraten, mittel- bis langfristig seine Verteidigungsfähigkeit selbst in die Hand zu nehmen. Daher empfiehlt es sich eine europaweite Verteidigungsebene zu entwickeln. Dazu benötigt es jedoch einen offenen Diskurs.
 

Reset der Blockfreien Bewegung?

Für ein Bündnis der europäischen Neutralen müssten alle Staaten miteinbezogen werden. Neben Irland (1939 neutral), der Schweiz (1815 neutral) und Österreich (1955 neutral), gibt es noch Kleinststaaten, die ebenfalls neutral sind: Liechtenstein (1868 neutral), Vatikan (1929 neutral) und Malta (1981 neutral). In Europa gibt es darüber hinaus die parlamentarische Republik Moldau, deren verfassungmäßige Neutralität noch nicht international anerkannt wurde. Eine Allianz aller Europäischen Neutralen erscheint eine interessante Idee. Diese könnten sich einen und eine gemeinsame Stimme entwickeln. Die Vision könnte sein, den Frieden der Welt mit einer eigenen Friedenstruppe zu stärken. Europa hat eine lange Tradition im friedlichen Diskurs, den es über Jahrhunderte des Krieges gelernt hat. Geschult in Diplomatie könnten besonders die Neutralen eine neue Rolle definieren und beispielsweise Verhandlungsräume in ihren Hauptstädten anbieten.

Für die europäischen Neutralen stellt sich langfristig die Frage, ob sich die Aufrechterhaltung ihres Status um den Preis der weitgehenden Nichtteilnahme an der Westeuropäischen Integration lohnt. Ist die Neutralität weiterhin eine taugliche Strategie, um Unabhängigkeit und Sicherheit zu wahren? Aktuell ist unklar, ob die „Neudefinition“ des traditionellen Neutralitätskonzeptes aus diesem Dilemma herausführt. Es bleibt zu klären, welche Funktion neutralen Staaten in einem System kollektiver Sicherheit, wie der UNO, zukommt.

Post-Neutralität – wirtschaftliche Schiedsrichterrolle?

Das Bild der Neutralität, das bei weiten Teilen der Bevölkerung vorhanden ist, entspricht einer Allianzfreiheit, die sich von der Neutralität unterscheidet. Die Begriffe bündnisfrei oder allianzfrei bedeuten dasselbe, nämlich die Nicht-Beteiligung an militärischen Bündnissen. Das ist wirtschaftlich attraktiv, da ein solcher Staat die Rolle des Streitschlichters einnehmen kann. Diese Position auszubauen und zu definieren wäre Aufgabe der österreichischen Wirtschaft. Die Neutralität würde damit eine neue Dimension bekommen. Es gilt jedoch zu klären, wie sich die wirtschaftlichen sowie Rohstoffinteressen usw. mit dem differenzierten bilateralen Beziehungen zusammenführen ließen.

Post-Neutralität ist eine begriffliche Wortschöpfung der Politikwissenschaften. Sie bezieht sich auf den Bedeutungswandel, den das Konzept der Neutralität seit dem Fall der Mauer 1989 durchlebt hat. Der Wegfall der Blockkonfrontation brachte den Bezugsrahmen des nicht-alliierten Staates ins Wanken, da die Bezugsgrößen des Kalten Krieges zerfielen. Damit wurde der Bedarf nach einem neutralen Ort für Verhandlungen, Tagungen und Konferenzen gering. Eine neue Orientierung wurde erforderlich. Der Begriff Post-Neutralität hat sich in der Forschung bisher noch nicht etabliert und wird nur vereinzelt angewendet. Der Zusammenschluss der neutralen Staaten Europas könnte diesen Begriff aufgreifen und weiterentwickeln.

Grundsätzlich dient die Neutralität dem Schutz vor der Verwicklung in kriegerische Konflikte und bringt international betrachtet, die Rolle des Mediators mit sich. Wirtschaftlich ist die Neutralitätsrolle im Herzen Europas eine andere, da Österreich auch eigene politische Interessen verfolgt. Dieser Umstand stellt die vermittelnde, unbeteiligte bzw. schiedsrichterliche Instanz in Frage. Dagegen könnten ethische Fragen zur weltweiten Friedenswahrung, die sich aus der Neutralität ableiten ließen, in Zukunft in den Vordergrund rücken. In der militärisch-geopolitischen Dimension sind die umfangreichen diplomatischen Erfahrungen aus der konfliktschlichtenden Rolle zwischen den Blöcken interessant. Sie könnten auf die Wirtschaft übertragen und Teil der politischen Praxis zum Frieden werden. Ziel der Post-Neutralitäts-Rolle könnte es werden, die Post-Neutralität auch in wirtschaftlichen Belangen zu leben und schiedsrichterliche Dienste anzubieten. Bisher wurde Neutralität vor allem in ihrer sicherheitspolitischen und militärischen Dimension betrachtet. In der vernetzten Gegenwart ist nun eine neue Dimension entstanden, deren Integration an Bedeutung gewinnt.

Ein gutes Anwendungsgebiet für eine Neuausrichtung des neutralen Österreichs ist die Waffenindustrie in Europa. Diese ist aktuell durch prohibitive Zölle und Exportregelungen mit hohen Kosten für die Produktion verbunden. Daher ist die Waffenindustrie in Fragmenten vorhanden, die noch nicht ausreichend miteinander interagieren, weshalb europäische Waffensysteme teuer sind. Es sei angemerkt, dass auch neutrale Staaten Waffen benötigen, da die militärische Verteidigung auch für sie relevant ist. Die schiedsrichterliche Rolle zur Harmonisierung der Wirtschaft für eine gemeinschaftliche und konkurrenzfähige Waffenindustrie mit einzelnen Komponenten aus verschiedenen europäischen Ländern, sollte Priorität bekommen. Durch sie kann Europa unabhängig von anderen Großmächten, seine Verteidigung wieder selbst in die Hand nehmen.

Verteidigungspolitische Optionen

Hinsichtlich der sicherheitspolitischen Betrachtungen zur Neutralität gäbe es, wie am Beginn des Beitrages erwähnt, drei Varianten, die es zu diskutieren gilt: den möglichen NATO-Beitritt Österreichs, die Neutralität mit dem Selbst-Hochrüsten Österreichs bei signifikanter Wehrbudgeterhöhung oder eine gemeinschaftliche EU-Armee. Zentral wäre es in allen Fällen die österreichische Bevölkerung durch eine Volksbefragung miteinzubeziehen. Schließlich bezahlt die Bevölkerung die Verteidigung Österreichs und sollte deshalb die Entscheidung über die Neutralität treffen. Das Parlament kann aufgrund der aktuellen Mandatsverteilung keine Entscheidung im Alleingang treffen, da die notwendige Zweidrittelmehrheit für eine Verfassungsänderung nicht erreichbar wäre. Darüber hinaus ist die Neutralität zu stark im Bewusstsein der Österreicher verankert, um eine politische Entscheidung ohne breiten gesellschaftlichen Diskurs umzusetzen, bei der auch die schwache Verteidigungsfähigkeit ins Bewusstsein rücken sollte. Ebenfalls ist zu berücksichtigen, dass gerade durch den Ukrainekrieg die Neutralität wieder ein Thema ist, das Österreich eine Bridge-Builder-Funktion bringen könnte.

Besonders im Zusammenhang mit der EU-Mitgliedschaft wird klar, wie sehr die Funktion neutraler Staaten innerhalb des internationalen Machtgefüges von deren außenpolitischer Identität und dem sich daraus ergebenden politischen Verhalten gespeist ist. Die gelebte Praxis der Neutralen passt jedoch nicht immer zum propagierten Selbstbild. Solche Differenzen zwischen einem neutralen Selbstverständnis und dem neutralen Fremdbild beeinträchtigen mitunter die staatliche Begegnung und Beziehung auf Unionsebene.
 

Resümee

Der Ukraine-Krieg hat auch Österreich die Vulnerabilität staatlicher Souveränität vor Augen geführt. Einem Angreifer könnte man aktuell nicht annähernd etwas entgegensetzen, weder hinsichtlich der Ausrüstung noch der Einstellung. Hier gilt: Nur wer einem Angreifer mit Entschlossenheit und militärischer Ausstattung entgegentreten kann, wird ein ernst zu nehmender Gegner sein. Der Ausbau der Luftverteidigung Österreichs, eine strategisch-aktionsfähige Cyberabwehr etc. sind hier zu nennen. Bei realistischer Betrachtung der Ereignisse in der Ukraine und den internationalen Reaktionen zeigt sich, dass die militärische Unterstützung erst einsetzte nachdem man festgestellt hatte, dass die Ukraine nicht nach einer Woche aufgeben bzw. überrollt werden würde. Auch deshalb ist die Verteidigungsfähigkeit in Zusammenhang mit der Neutralität Österreichs zu diskutieren, um die Möglichkeiten mit ihren Konsequenzen auszuloten.

Das aktuelle Fehlen einer Diskussionskultur in Österreich zur politischen, wirtschaftlichen und verteidigungspolitischen Dimension der Neutralität, ist für eine offene Gesprächskultur hinderlich. Daher ist ein Diskurs zwischen der Bevölkerung und Fachleuten unter anderem aus Militär, Rechtslehre sowie der Abstimmung mit dem Verfassungsgesetz, Ethik usw. erforderlich. Dieser sollte über unterschiedliche Kanäle erfolgen, wie Radio, Tageszeitungen mit den zugehörigen Wochenendbeilagen und Fernsehdiskussionen auf allen Sendern. Schließlich sind weder Social-Media-Kanäle noch Umfragen ein Ersatz für einen Diskurs zur Positionierung bei Fragen der Sicherheit. Eine Volksbefragung könnte nach einer strukturierten Diskussionsphase aller politischer Richtungen, das Ergebnis sein, da die Neutralität für weite Teile der Bevölkerung als Teil der österreichischen Identität betrachtet wird. Das muss ernst genommen werden, weshalb der Wille und die Entscheidungsgewalt der Bevölkerung eine zentrale Rolle spielt.

Mag. Katharina Reich ist Privatdozentin zu sicherheitsrelevanten Infrastrukturen, Ökonomie und komplexem Denken an diversen Universitäten und Fachhochschulen.

 

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