• Veröffentlichungsdatum : 26.11.2020

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Nichts wird so bleiben, wie es war?

Ulrike GUEROT

Europa nach der Krise.

Eine Zeitreise 128 Seiten, gebunden

€ 21,-

ISBN 978-3-222-15062-3

Molden Verlag, Wien 2020

Die Autorin stellt den Anspruch die gegenwärtige „Corona-Krise" und die damit einhergehenden Widerwärtigkeiten wie nationalen Egoismen als Chance zu nutzen um Europa neu gestalten zu können. Dazu bedürfe es aber einer „kritischen Erinnerung". Die Erinnerung an die Schrecken der Weltkriege sei die Grundlage für die friedvolle Entwicklung der europäischen Einheit gewesen.

Dieses Lernen aus der Krise habe sich über die folgenden Jahrzehnte bis etwa in das Jahr 2000 fortgesetzt und initiierte Entwicklungs- und Einigungsschritte in Europa. Seither scheine in der EU eine Form von „Durchwursteln" angesagt. Nach militärischer und wirtschaftlicher Befriedung biete die gegenwärtige Krise nun aber auch die Chance einer sozialen Befriedung, die letztlich die Menschen in Europa in den Mittelpunkt stellen könnte.

Dies bedinge aber eine grundlegende institutionelle Neuordnung der EU, die seitens der herrschenden Eliten aber nicht gewünscht sei. Im Gegenteil, nationale Akteure würden Spaltungstendenzen verfolgen, die Reichen seien in der Krise reicher und die Armen ärmer geworden, dazu erstarke der Populismus, ein Trend, der sich ungebrochen fortsetze. Die Corona-Krise habe gezeigt, wie dünn der Lack der europäischen Einheit und Solidarität sei. Binnen kürzester Zeit seien Grundrechte wie das der Reisefreiheit vollkommen außer Kraft gesetzt, die Unionsbürgerschaft wertlos geworden.

Dies zeige vor allem auch ein grundlegendes Problem der EU auf: die Entfremdung der Bürgerinnen und Bürger von den Institutionen der EU, die Menschen seien nicht der Souverän. Hier müsste angesetzt werden, ebenso wie ein gesamteuropäisches „Wir"- Gefühl die Nationalismen verdrängen müsste, so dass es nicht mehr darum gehe, der Beste zu sein. Die Autorin sieht eine seit Jahrzehnten wachsende, von mehreren zivilgesellschaftlichen Initiativen getragene bürgerliche Selbstermächtigungstendenz in Europa, die nicht mehr ignoriert werden könne.

Die bisher existierende Unionsbürgerschaft entwickle sich immer mehr hin zu einer europäischen Staatsbürgerschaft, die auf das soziale und ökologische Wohlergehen der Menschen in der EU abziele. Aus einer Staatenunion könne letztendliche eine Bürgerunion werden. Ein weiteres Spielfeld der Betrachtungen der Autorin ist die Frage inwieweit Menschen und Industrie in Europa miteinander kompatibel seien.

Smarte Digitalisierung bevorzuge bisher nur einige wenige, die sich bereichern könnten, es gebe bisher keine digitale Gemeinschaft. Digitalisierung müsse aber letztlich den Menschen, der politischen Vergemeinschaftung dienen und nicht bloßes Mittel in der Hand weniger sein. Um dies umzusetzen, denkt die Autorin einen digitalen europäischen Bürgerpass an, der europaweit gleiche bürgerliche, politische, soziale Rechte gewährleiste. Es gehe dabei um nichts Geringeres als die Abschaffung der letzten „Seinsformen" nationaler Grenzen die es in wirtschaftlicher Form ohnehin nur mehr begrenzt gebe. Auch in klimatechnischer Hinsicht sei fast alles möglich, was nur gewollt werde; alte Abhängigkeiten würden hier aber nach wie vor vieles verhindern.

Anstatt geeint zum Global Player neben den USA und China zu werden, verliere sich die EU in Nationalismen und vermeide die Entwicklung hin zu einem europäischen Staat. Der eigentliche Krisengewinnler sei heute der jeweilige Nationalstaat, der seinen Bürgerinnen und Bürgern suggeriere, sie gerettet zu haben.

Auf institutioneller Ebene streite sich Europa über rechtliche und finanzpolitische Vergemeinschaftung, die Frage, wer in Europa entscheide, sei essentiell: die Bürgerinnen und Bürger oder der Rat? Diese Frage müsse offen diskutiert werden: warum kein europäischer Staat? Dieser könnte der Autorin zufolge in einem längeren Prozess um die Nationalstaaten herum auf- und ausgebaut werden, wichtig wäre jedenfalls die gefühlsmäßige Bindung der Menschen an ihn.

Ein neuer Staat in der Form einer flachen, partizipativen Netzwerkdemokratie. Dafür müsse auch den Argumenten entgegengehalten werden, die eine europäische Ebene stets mit dem Attribut „super" betitle, um Angst vor einem allmächtigen Gebilde zu schüren. Ebenso sei offenes Denken zu fördern und eingeschlafene Debatten sowie Ideen hin zum europäischen Staat wieder zu beleben.

Es sei unehrlich, dass sich Europa seit 20 Jahren weigere, das Politische zu besetzen. Zu hoffen sei, dass die kommende Zukunftskonferenz der EU sich zu einer breiten Bürgerbewegung und einem Verfassungskonvent entwickeln werde. Die Autorin zeichnet einen Weg hin zur europäischen Staatsbildung, der über fünf Schritte erfolgen soll: die Schaffung einer europäischen Proto-Staatsbürgerschaft mit European Citizen Card, die Schaffung einer politischen Autorität mit substantieller budgetärer Ausstattung, die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Außengrenze mit einheitlicher Asyl- und Migrationspolitik, die Schaffung eines europäischen Außenamtes und letztlich die Schaffung direkter europäischer Steuereinnahmen.

Am Ende der Analysen und Ausführungen der Autorin steht der Versuch der Beantwortung der Frage: „Wo gehen wir hin?" Sie sieht Europas Gesicht entstellt, da auf keine der jüngeren Krisen die EU eine nachhaltig positive Antwort gefunden habe. Es würden keine großen Projekte mehr betrieben, keine europäische „Kathedrale" mehr gebaut, man verliere sich in Kleinigkeiten, sei von Selbstzweifeln geplagt und werde abstrakt.

Es sei daher eine neue Form des freien wissenschaftlichen Denkens ohne Grenzen und Wahrheitsanspruch notwendig, ebenso wie Sinneserfahrungen jenseits von Masken und Handschuhen, die Lust auch auf Europa machen. Das Erbe Europas müsse entrümpelt werden, ebenso wie Europa sich aus der sicherheitsorientierten Pandemie des Denkens lösen müsse.

Sie fordert eine Entwicklung von der Normalität hin zur Veränderung, zu einer Art europäischem Labor, in dem Bürgerbewegungen sich frei entfalten können. In Europa müsse das Politische schlechthin wiederbelebt werden, eine permanente, ununterbrochene friedliche Revolution, die auch eine Verschränkung von Freiheit und Gleichheit fördere.

Die Autorin stellt in diesem Werk ihr umfassendes „europäisches" Wissen zur Schau, neben einer scharfen Analyse stellt sie nicht nur zahlreiche Fragen, sondern bietet auch Antworten darauf. Ihr ausnehmend optimistisches Bild der Bürgerbewegungen und deren Bedeutung ebenso wie ihre Vision einer denationalisierten europäischen Staatsbürgerschaft mögen utopisch erscheinen, es bereitet aber dem Leser Freude, dabei mitzudenken. Fraglich ist, ob die in diesem Werk gebauten Gedankenkonstrukte letztlich doch nur Eliten-Denken darstellen und wieviel Unterstützung in den breiten Massen der europäischen Bürgerinnen und Bürger dafür vorhanden ist.

-hah-

 

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