Eisiges Schweigen flussabwärts

Michael Thumann
Eisiges Schweigen flussabwärts – Eine Reise von Moskau nach Berlin
Verlag: C.H.Beck
Erscheinungsjahr: 2025
284 Seiten, mit 19 Abbildungen und 2 farbigen Karten
978-3-406-83003-7
26,00 €
„Sogar die Russen selbst schweigen sich an.“ Dieser Satz, den Michael Thumann im Verlauf seiner Reise notiert, bringt auf den Punkt, was sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes Werk zieht: Das Verstummen einer Gesellschaft – nach innen wie nach außen. In seinem politischen Reisebericht „Eisiges Schweigen flussabwärts“ begibt sich der Moskau-Korrespondent der „Zeit“ auf eine vielschichtige Spurensuche nach den Rissen, Spannungen und Sprachlosigkeiten des heutigen Russlands.
Auf einem umständlichen Reiseweg von Moskau nach Berlin, der ihn nicht wie üblich per Flugzeug über die Türkei, sondern über abgelegene Routen und offene Grenzübergänge erst nach Osten Richtung Zentralasien, dann nach Westen über die baltischen Staaten und Polen nach Deutschland führt, gewährt er der Leserschaft Einblicke in eine Gesellschaft, deren Verhältnis zu sich selbst genauso ambivalent ist wie jenes zur Außenwelt: Die zunehmende Abschottung und das Schweigen Russlands. Diese geht dem Aufstieg Wladimir Putins einher und dessen Versuch, das Land vom Westen zu entfremden und in ein hermetisch abgeschottetes Reich zu verwandeln, in dem Europa nur noch als Feindbild existiert.
Die damit zusammenhängenden Umstände werden von Thumann ebenso authentisch, präzise und eindringlich beleuchtet wie die langen Gespräche mit Mitreisenden und Zufallsbekanntschaften. Diese machen die Brüche innerhalb der russischen Gesellschaft sichtbar – von Putin-kritischen Stimmen über solche, die in die äußere oder innere Emigration gehen, bis hin zu jenen, die versuchen sich in nahezu lethargischer Apathie mit der gegenwärtigen Situation zu arrangieren .
Bereits die einleitenden Begriffe der Kapitelüberschriften offenbaren, dass es sich bei diesem Werk nicht nur um eine politische Analyse handelt, sondern um eine persönliche, emotionale und mitunter wehmütige Auseinandersetzung des Autors mit Russland. Als Osteuropa-Historiker und Slawist befasste sich Michael Thumann bereits während seines Studiums in den 1980er-Jahren mit der Sowjetunion und erlebte – geprägt von Kindheitserfahrungen im Kalten Krieg – die Gorbatschow-Jahre mit Glasnost und Perestroika hautnah mit. Es überrascht daher nicht, dass er die bedrohlichen Veränderungen, denen ein Journalist aus dem Putin-kritischen Deutschland inzwischen ausgesetzt ist thematisiert, wie Befragungen durch den FSB, überbordende Bürokratie, Beschattungen, Wohnraumdurchsuchungen, Verhaftungen und Anklagen. Ebenso spricht er die Kluft zwischen der beängstigenden Gegenwart und den einstigen Hoffnungen, als viele Russen noch neugierig auf den Westen blickten, an.
Resümierend lässt sich feststellen, dass es sich bei „Eisiges Schweigen flussabwärts“ um eine Hommage an Russland handelt, die zugleich eine Geschichte der Ernüchterung und Desillusionierung ist. Thumann gelingt es, die Leserschaft auf seine Reise mitzunehmen, ihr die Brüche aufzuzeigen, die sich durch (ethnisch russische) Familien und Stadtgesellschaften ziehen, ebenso wie die Illusionen zu entlarven, die sich mancherorts noch über Putins Pläne zur Umgestaltung der Welt und zum Bruch mit dem Westen halten.
-gam-