• Veröffentlichungsdatum : 21.12.2020

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Die Reichweite des Staates

Elke HARTMANN

Elke Hartmann

Die Reichweite des Staates

Wehrpflicht und moderne Staatlichkeit im Osmanischen Reich 1869 – 1910 (= Krieg in der Geschichte, Bd. 89)

470 Seiten, 16,5 x 24 cm, gebunden

€ 58,--

ISBN 978-3-506-78373-8

Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2

Die von der Islamwissenschaftlerin Elke Hartmann ursprünglich als Dissertation verfasste Studie befasst sich mit der Wehrpflicht im Osmanischen Reich von der späten Reformära des Tanzimat (etwa 1839 bis 1876; Anm.) bis hin zu den Balkankriegen im Zusammenhang mit der Errichtung eines modernen Staatswesens. Ausgangspunkt ihrer Ausführungen war, dass der „osmanischen Zentralgewalt an der Schwelle zur Moderne jegliche Durchsetzungskraft und Autorität, die über einen eng begrenzten Kernbereich des Reiches hinausging", fehlte und die Modernisierung des Staates massiv vom aktiven Eingreifen der europäischen Großmächte auf die osmanische Innenpolitik beeinflusst war (von Hartmann als „nachholende Modernisierung" bezeichnet). Der Reformprozess sei „maßgeblich durch den Druck militärischer Niederlagen und Schwäche ausgelöst" worden und habe daher als Militärreform begonnen; die „erfolgreiche Aufstellung neuer, moderner militärischer Einheiten" sei die „Ausgangsvoraussetzung struktureller Reformen".

Die Arbeit gliedert sich in sechs Abschnitte. Im ersten finden sich die Fragestellung und Thesenbildung zum Thema, ein Überblick über die verwendeten Quellen und ihre Beschränkungen sowie einleitende Bemerkungen zur Wehrpflicht. Im zweiten Abschnitt beschäftigt sich die Autorin mit den gesetzlichen Rahmenbedingungen (wobei sie deren Exegese minutiös, fast schon exzessiv darstellt), der Einführung und Durchsetzung der Wehrpflicht im Modernisierungsprozess allgemein und besonders im Hinblick auf die Etablierung moderner Staatlichkeit im Osmanischen Reich. Ihr Augenmerk liegt auch auf einem Vergleich der verschiedenen Wehrpflichtmodelle in europäischen Armeen und deren Adaptierung für osmanische Zwecke vor allem im Hinblick auf seinen Status als multiethnischer, multireligiöser und multikultureller Vielvölkerstaat, wobei ihr Fazit bezüglich der Integration des Militärdienstes durchwegs negativ ausfällt: „Das Osmanische Reich habe es nie geschafft, alle Bevölkerungsgruppen in den Staat zu integrieren".

Die folgenden Kapitel beschäftigen sich mit der zentralen Frage, mit welchen Mitteln und Strategien es möglich war, die zunehmende Ausweitung der militärischen Organisation und damit moderner zentralstaatlicher Kontrollgewalt zu erreichen. Gemäß Hartmanns Analyse breitete sich der Aufbau des osmanischen Wehrsystems langsam – quasi in Etappen – auf das gesamte Staatsgebiet des Vielvölkerstaates aus, beginnend mit einem parallel zu den stehenden Truppen 1834 erstmals eingerichteten, regional geordneten Milizsystem, den Redifs, das als Muster für die schrittweise Ausweitung der Kontrolle durch die Zentralregierung ausweitete.

Widerstand gegen die voranschreitende Modernisierung versuchte man seitens der osmanischen Regierung mit „vertrauensbildenden Maßnahmen" bei der betroffenen Bevölkerung etwa im Bereich des Rekrutierungsverfahrens, das per Los erfolgte, zu begegnen. Den gesetzlichen Grundlagen der Rekrutierung im Rahmen der Wehrpflicht und deren praktischen Durchführung, aber auch den Themen „Verweigerer und Deserteure" und „Wehrersatzleistungen" wird breiter Raum gewidmet. Ein weiteres Kapitel widmet sich ausführlich den Ausnahmen von der Wehrpflicht, den sog. Exemtionen, die territorial und aufgrund sozialer Indikatoren definiert wurden. Ganze Städte bzw. Regionen (wie z. B. Konstantinopel, Mekka, Medina oder Bosnien) und Berufsgruppen, vor allem aber Nichtmuslime waren vom Militärdienst ausgeschlossen – ein Faktum, das sich erst mit der jungtürkischen Revolution von 1908 ändert.

Fazit

Hartmann zeichnet das Bild eines ständig zunehmenden Zugriffes des Zentralstaates, der den Modernisierungsprozess wenigstens zum Teil mit Erfolg umsetzt. Ein Manko ist allerdings das Fehlen der „Sicht von unten", das heißt aus dem Blickwinkel der Betroffenen Der Wert der Arbeit liegt vor allem in ihrer Grundlagenforschung im Hinblick auf die minutiöse Aufarbeitung des Wehrpflichtsystems in der osmanischen Armee – eine grundlegende, auf umfassender Archivquellen- und Literaturrecherche aufbauende Studie, die als Basis für weiterführende Forschungsarbeiten dienen soll.

-rhc-

 

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