• Veröffentlichungsdatum : 31.10.2017

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Die "neue" NATO

Otto Naderer

Mehr als 40 Jahre lang, von ihrer Gründung 1949 bis zum Ende des kalten Krieges 1990/1991, garantierte die "North Atlantic Treaty Organization" (NATO) die Sicherheit Nordamerikas und Westeuropas. Dafür sorgten neben einer großen Zahl von Verbänden aller Teilstreitkräfte auch Nuklearwaffen. Der vorliegende Beitrag stellt die "neue" (alte) NATO vor, wie sie sich derzeit präsentiert, verbunden mit den Beziehungen zu wichtigen Partnern und mit einem mittelfristigen Ausblick auf die Zukunft des Bündnisses.

Die NATO ist eine Internationale Organisation ohne Hoheitsrechte. Ihre Basis ist der Nordatlantikvertrag nach Artikel 51 der UN-Charta. Ihre Organisation versteht sich nicht nur als Verteidigungsbündnis, sondern auch als militärisch-politische Organisation von 29 europäischen und nordamerikanischen Mitgliedstaaten mit dem Ziel eigener Sicherheit und weltweiter Stabilität. Zu Zeiten des Kalten Krieges war die NATO ein Gegenpol zum kommunistisch geprägten Warschauer Pakt (siehe dazu TD-Heft 3/2015, „Der Warschauer Pakt - Die Führung der Vereinten Streitkräfte“).

Nach dem Wegfall der kommunistischen Bedrohung reduzierten die NATO-Staaten ihr konventionelles und nukleares Potenzial massiv. Bald verlegte sich das nordatlantische Bündnis auf neue Aufgaben, nämlich auf Stabilisierungsoperationen im Auftrag der Vereinten Nationen. Im Dezember 1995 begann die NATO-Operation „Joint Endeavour“ in Bosnien und Herzegowina zur Umsetzung des Dayton-Abkommens, gefolgt von der „Kosovo Force“ (KFOR, ab 1999) und vor allem der „International Security Assistance Force“ (ISAF) in Afghanistan. An all diesen NATO-geführten Operationen beteiligte sich auch das Österreichische Bundesheer in unterschiedlichem Ausmaß, doch diese fast zwanzigjährige Phase der so genannten „Expeditionary Operations“ hat mittlerweile ihre frühere Bedeutung verloren.

Zuerst wollten die Regierungschefs der NATO-Staaten selbst ihr Engagement in diesen Operationen stark reduzieren und beschlossen bei ihrem Treffen in Chicago (Mai 2012) die Einstellung von ISAF. Wenig später wurde das Bündnis durch die russische Politik zusätzlich herausgefordert. Die Ereignisse rund um die ukrainische Halbinsel Krim alarmierten vor allem die östlichen NATO-Mitgliedstaaten und führten zu einer Schwergewichtsverlagerung hin zu den alten Aufgaben der NATO - der gemeinsamen Abschreckung und - falls nötig - Verteidigung.

Der Ukraine Konflikt

Die russische Politik in der Ukraine bringt die NATO zurück zu ihren Wurzeln. Die im März 2014 nach dem Regimewechsel in Kiew vollzogene Annexion der Krim überraschte auch die NATO, die in ihrem letzten „Strategischen Konzept“ aus dem Jahr 2010 Russland noch als wichtigen Partner einstufte. Zur Rückversicherung, namentlich der osteuropäischen Alliierten, wurden bald erste Maßnahmen wie die Verstärkung der Luftraumüberwachung über dem Baltikum beschlossen, die wenige Monate später zum „Readiness Action Plan“ auf dem Gipfel in Wales führten. Dieser Plan beinhaltete neben den Verstärkungen zu Lande, zu Wasser und in der Luft im Osten des Bündnisgebietes auch eine Anpassung der „NATO Response Force“ (NRF), der größeren Schwester der EU-Battlegroups.

Der Readiness Action Plan (RAP)

Das rasche Auftauchen „Grüner Männchen“ auf der Krim und in der Ostukraine zwang die NATO zur Verbesserung ihrer militärischen Reaktionsfähigkeit. Dafür wurde die lange Zeit eher vernachlässigte NRF revitalisiert und eine „Very High Readiness Joint Task Force“ (VJTF), oder „Speerspitze“, als Kern gebildet.

Insgesamt werden diese Kräfte eine Heeresbrigade in der Größe von etwa 5 000 Soldaten bilden, verstärkt durch Elemente der Luftwaffe und Marine. Diese Brigade entsendet spätestens 48 Stunden nach einem gegebenen Befehl ein Vorauselement mit der Aufgabe, eine erste Verbindungsaufnahme im Einsatzgebiet herzustellen. Zwei weitere NRF-Brigaden mit etwas geringerem Bereitschaftsgrad werden als Verstärkung für den Fall einer größeren Krise bereitgehalten. Damit sollen drei multinationale Brigaden über einen durchgängigen Drei-Jahreszyklus aufgeboten werden.

Um das Einfließen dieser Einheiten in die Einsatzräume zu erleichtern, wurden „NATO Force Integration Units“ (NFIU) gebildet, die aus etwa 40 Soldaten bestehen, wovon die Hälfte aus dem Gastland kommt. In ruhigeren Zeiten sind diese kleinen Kommanden vor allem mit der Vorbereitung von Ausbildungen und Übungen in ihrem Land beschäftigt. Nach entsprechenden Vorarbeiten wurden sie ab September 2015 in den baltischen Staaten, in Polen, Bulgarien, Rumänien, Ungarn und der Slowakei aufgestellt. Die Vorbereitung und Führung dieser Kräfte in Ost- und Südosteuropa übernahm das Multinationale Korps Nordost in Stettin (Polen), und in der rumänischen Hauptstadt Bukarest wurde ein neues Divisionskommando gebildet.

Übungen

Durch die lange Konzentration auf Stabilisierungsoperationen außerhalb des Bündnisgebietes gingen über die Jahre nicht nur klassisches, schweres Gerät, sondern auch konventionelle Übungen und damit einhergehend militärisches Wissen verloren. Die NATO-Armeen mussten wieder lernen, im Kampf der verbundenen Waffen zu verteidigen, im Einsatz stehende Kräfte zu verstärken und dafür Reserven über größere Distanzen zu verlegen. Dies begann mit den Übungen für die neue „Speerspitze“ ab Herbst 2014 und wurde vorzugsweise im Osten des Bündnisgebietes bis heute fortgeführt. So diente in der Tschechischen Republik die Übung „Ample Strike“ der Luft-Boden-Koordination bei taktischen und strategischen Luftangriffen. Die Übung „Venerable Gauntlet 16“ hatte als Zweck die Zertifizierung des Kommandos der NRF-Speerspitze für 2017.

Schließlich wurden unter der Führung des Allied Air Command (AIRCOM) Ramstein Abfangübungen über der Nord- und Ostsee abgehalten. Als Zielobjekte dienten Bomber der Typen B-2 und B-52, die direkt zu diesem Zweck aus den USA kamen und auch dorthin wieder zurückflogen. Die Abfangeinsätze selbst wurden hauptsächlich von den Flugzeugen durchgeführt, die in der Luftraumüberwachung über dem Baltikum eingesetzt sind. Ihnen schlossen sich JAS-39 „Gripen“ aus Schweden an. „Saber Guardian 17“ mit 25 000 Soldaten bildete im Juni/Juli 2017 in Rumänien und Bulgarien die vorerst letzte größere Übungsserie mit dem Kampf der verbundenen Waffen als Hauptthema.

Von Reassurance zu Deterrence

Nachdem die nötigen Maßnahmen zur Absicherung (Reassurance) vor allem der östlichen Flanke getroffen wurden, beschlossen die westlichen Staatschefs 2016 in Warschau die Abschreckung (Deterrence) möglicher russischer Aktionen durch die Verlegung von vier multinationalen Bataillonen. Diese kamen in den drei kleinen baltischen Republiken und in Polen unter dem Begriff „Enhanced Forward Presence“ zum Einsatz. Die „Tailored Forward Presence“ bildet die ergänzende Maßnahme für Rumänien und Bulgarien. Hier wurden aber kaum zusätzliche Kräfte verlegt, sondern eher die Übungstätigkeit erhöht.

Natürlich sind diese kleinen Verbände in Nordosteuropa eher als politische Abschreckung zu verstehen, da ihr rein militärischer Wert beschränkt ist. Die NATO wollte aber die Zusicherungen an Russland aus 1997 aufrechterhalten, wonach in neuen Mitgliedstaaten keine „sub-stanziellen Kampfverbände“ stationiert werden. Die multinationale Zusammensetzung soll letztendlich auch die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass bei einem Angriff im Baltikum viele NATO-Staaten davon betroffen sind und daher ihre jeweiligen politischen Führungen rasch den „Artikel 5“ auslösen - den Übergang zur kollektiven Verteidigung.

Da aber in der aktuellen Lage die sicherheitspolitischen Herausforderungen unter dem Begriff „hybride Bedrohung“ wesentlich komplexer geworden sind, wurden in Warschau ebenso nicht-militärische Inhalte wie die Cyber-Abwehr in die laufenden NATO-Operationsplanungen aufgenommen. Eine „Gemeinsame Erklärung NATO-EU“ verfolgt schließlich das Ziel, die Schwächen der jeweiligen Organisation wechselseitig zu kompensieren und so besser, abgestimmt auf gemeinsame Herausforderungen, reagieren zu können.

Die NATO und ihre Partner

Russische Föderation

Trotz der bekannten Spannungen will das nordatlantische Bündnis mit Russland im Gespräch bleiben und verfolgt dabei die Strategie „Defence and Dialogue“, also die Gesprächsbereitschaft auf Basis erhöhter Verteidigungsanstrengungen. In diesem Sinne gab es im letzten Jahr drei Treffen im NATO-Russland-Rat (NRR). Bei diesen Ratstreffen sollten vor allem gefährliche Zwischenfälle wie der Überflug über ein amerikanischen Kriegsschiff in der Ostsee durch einen russischen Jagdbomber vorsorglich erörtert und damit zukünftig vermieden werden.

Ukraine

Entgegen weit verbreiteter Vorstellungen erhält dieses Land nur wenig Unterstützung von der NATO. Ein in Warschau zusammengefasstes „Global Assistance Package“ beinhaltet vornehmlich die Bereiche Entminungsdienst, Suche und Zerstörung von Sprengfallen, Hilfen in der Logistik, der Führungsunterstützung und der Cyber-Abwehr.

Schweden, Finnland und Österreich

Während Schweden und Finnland wegen der russischen Ukrainepolitik näher an das Bündnis heranrücken, verfolgt Österreich weiterhin schwergewichtsmäßig seine Truppenabstellungen für Stabilisierungsoperationen auf dem Balkan und in Afghanistan. Bei KFOR zählt Österreich zu den größten Beitragsleistern, und auch für „Resolute Support“ (NATO-Mission zur Ausbildung und Beratung sowie Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte als Folgemission des am 31. Dezember 2014 beendeten Einsatzes der ISAF; Anm.) wurde das Kontingent durch Spezialisten im Gebirgskampf erhöht. Darüber hinaus besteht schon seit einigen Jahren eine Kooperation in der Cyber-Abwehr.

Zusammenfassung/Ausblick

Trotz Erfolgen wie die beim Gipfeltreffen in Warschau im Juli 2016 erzielte Übereinstimmung zur Verstärkung der Ostflanke und die sich abzeichnende Vertiefung der Kooperation mit der EU sieht sich die Allianz einigen Ungewissheiten ausgesetzt.

Eine Ungewissheit ist die Situation in der Türkei. Nach dem gescheiterten Putsch Mitte Juli 2016 glitt dieser wichtige Alliierte im Südosten des Bündnisgebietes rasch in Strukturen mit autoritärem Charakter ab. Naturgemäß erregt dies Besorgnis in einigen Mitgliedstaaten, da das Bündnis grundsätzlich den demokratischen Werten verpflichtet ist. Ein weiteres Element war die Annäherung der Türkei an die Russische Föderation, die trotz früherer Differenzen zu einer Kooperation in Syrien führte. Parallel dazu blockierte die Türkei über mehrere Monate die Partnerschaftsprogramme, da Partner, und hier besonders Österreich, aus Sicht Ankaras die Türkei zu stark kritisierten. Es ist daher aus heutiger Sicht völlig unklar, wie sich die Türkei als NATO-Alliierter weiter verhalten wird, was in unruhigen Zeiten zu zusätzlicher Verunsicherung führen kann.

Die Unwägbarkeiten der Politik in Washington, namentlich die des amtierenden US-Präsidenten, rufen Besorgnisse bei der Mehrheit der europäischen Staaten hervor, obwohl die USA ihre früheren Zusagen erfüllen. Daher gibt es Überlegungen, die Sicherung des europäischen Kontinentes verstärkt in die eigenen, also europäischen, Hände zu nehmen, was nicht bedeuten müsste, die Brücken über den Atlantik abzubrechen. Das wäre vermutlich auch unvernünftig, da Moskau im Osten und der IS-Terror im Süden/Südosten als Bedrohung bestehen bleiben. Moskau hält laut dem NATO Defense College Report 01/17 vom März 2017 an der völkerrechtswidrigen Politik auf der Krim bzw. in der Ukraine fest und unterstützt die 35 000 Aufständischen mit geschätzt 6 000 Soldaten. Darüber hinaus stellte der Internationale Gerichtshof in Den Haag fest, dass die Russische Föderation die Krimtataren unterdrückt und den Gebrauch der ukrainischen Sprache massiv erschwert.

Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass die NATO an ihren Beschlüssen zur Verstärkung der Ostflanke des Bündnisses und damit an der Rückkehr zu ihren klassischen Aufgaben auf absehbare Zeit festhalten wird. Um das finanzieren zu können, werden in vielen Staaten nach langen Jahren des Sparens die Wehretats wieder angehoben. Offen sind aber der Ausgang der internen Spannungen und der zukünftige Platz Österreichs als NATO-Partner.

Oberst dhmfD Mag. Dr. Otto Naderer ist Forscher am ISS/LVak, Forschungsschwerpunkt transatlantische Beziehungen.

 

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