Der Warschauer Aufstand 1944

Stephan Lehnstaedt
Der Warschauer Aufstand 1944
Verlag: Reclam, Stuttgart
Erscheinungsjahr: 2024
160 Seiten
Zahlreiche Fotos (s/w, Farbe) und Skizzen
ISBN 978-3-15-011483-4
18 €
Zahlreiche Schlachten und Fakten des Zweiten Weltkrieges sind Teil des kollektiven historischen Wissens und Gegenstand zahlreicher Publikationen, Dokumentationen, Expertenrunden oder anderer Darstellungsformen (Film, Musik etc.) – zum Beispiel die Schlachten von Stalingrad oder Berlin. Das hängt nicht nur mit der propagandistisch aufgeladenen Bedeutung dieser Orte zusammen, sondern auch mit der tatsächlichen kriegsentscheidenden Bedeutung der dortigen Gefechte. Die Stadt, die den Namen von Hitlers Hauptgegner trägt, markiert den östlichsten Vorstoß der deutschen Streitkräfte; der Fall der Hauptstadt des Dritten Reiches und der damit verbundene Tod Hitlers stehen sinnbildlich für das Ende des Krieges und des NS-Regimes.
Andere Gefechte sind durchaus bekannt, werden im deutschsprachigen Raum jedoch selten in den Fokus der erinnerungskulturellen oder historiografischen Auseinandersetzung gerückt. Eine davon ist der Warschauer Aufstand, bei dem sich Teile der Bevölkerung der polnischen Hauptstadt mit Waffengewalt gegen die deutschen Besatzer auflehnten. Stephan Lehnstaedt, Professor für Holocaust-Studien und Jüdische Studien an der Touro University von Berlin, widmet sich diesem Kapitel der Kriegsgeschichte, das häufig mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto des Jahres 1943 verwechselt wird, bei dem sich die jüdische Bevölkerung mit Waffengewalt der deutschen Vernichtungspolitik entgegenstellte.
Lehnstaedt zeichnet jedoch nicht nur das Kampfgeschehen in Warschau nach, das er mithilfe von Karten übersichtlich und nachvollziehbar veranschaulicht, sondern beleuchtet auch die Vorgeschichte des Aufstands, stellt zentrale Akteure vor und schildert die unerträglichen Lebensbedingungen der polnischen Bevölkerung unter deutscher Besatzung – eine zentrale Triebfeder des bewaffneten Widerstands. Das Schicksal der Menschen der polnischen Hauptstadt wird auch während des Kampfes bzw. danach erörtert, da sie bei diesem Ereignis die wesentliche Opfergruppe mit zumindest 150.000 Toten sowie hunderttausenden Deportierten darstellen. Darüber hinaus wird die Rolle der Roten Armee thematisiert, die die polnischen Aufständischen de facto nicht unterstützte, obwohl sie vor den Toren der Stadt stand.
Heute gilt der Warschauer Aufstand als eine wesentliche Widerstandshandlung des damals besetzten Polens gegen ein Besatzungsregime, das seine Bevölkerung aufgrund einer rassistischen Wahnpolitik versklaven wollte. Davon zeugen zahlreiche Erinnerungszeichen und Narrative der damit verbundenen Geschichtspolitik, die aktuell nicht nur die Verbrechen der Nationalsozialisten, sondern auch jene der Roten Armee bzw. der der Sowjetunion in Polen thematisiert – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Situation, in der Russland erneut als Bedrohung der polnischen Souveränität wahrgenommen wird. Der Umgang mit der Vergangenheit – und damit die Erinnerungskultur – bildet ein zentrales Thema des Buches, das inhaltlich einen weiten und zugleich geschlossenen Bogen spannt. Da jedoch jedes einzelne Kapitel Gegenstand mehrerer Bücher sein könnte, bietet Lehnstaedts Werk lediglich einen Überblick – wenngleich dieser bemerkenswert in die Tiefe reicht. Fazit: Das Buch ist eine klare Leseempfehlung an alle, die sich vertiefend mit den militärischen, politischen und gesellschaftlichen Dimensionen dieses Kapitels der europäischen Zeitgeschichte befassen möchten.
-keu-