Geschichte der Ukraine

Kerstin S. Jobst
Geschichte der Ukraine
Verlag: Reclam
Erscheinungsjahr: 2022
296 Seiten, 4 Karten
ISBN 978-3-15-014326-1
12,80 €
„Lernen’s ein bissl Geschichte“ – jenes berühmte, stark verkürzte Zitat Bruno Kreiskys erscheint angesichts von Desinformation, Fake News und verschwörungsideologischen Erzählungen aktueller denn je. Nur wer bereit ist, die Geschichte – in all ihrer Komplexität, ihren Ambivalenzen und ihren vielfach subjektiv geprägten Narrativen – eines Staates zu durchdringen, kann sich den politischen sowie gesellschaftlichen Realitäten der Gegenwart zumindest annähern. Kerstin S. Jobst bietet mit ihrem Werk „Geschichte der Ukraine“ der Leserschaft genau dies: einen quellengestützten, historisch differenzierten Überblick über die vielschichtige Historiografie eines Volkes, dem partiell bis heute der Anspruch auf Unversehrtheit seiner Grenzen und auf nationale Selbstbestimmung abgesprochen wird.
Die 2022 erschienene Neuauflage wurde um ein einleitendes Kapitel ergänzt – Die „Ukraine-Krise“ 2014 und ihre Vorgeschichte. Darin präsentiert Jobst die notwendigen historischen Hintergründe und Fakten, um plakative Begriffe wie „Euromaidan“ oder „Orangene Revolution“, die zwar Eingang ins kollektive zentraleuropäische Gedächtnis gefunden haben, dort aber oft nur schemenhaft präsent sind, zu kontextualisieren. Die Autorin geht dabei weit in die Geschichte zurück, um die Wurzeln ukrainischer Identität zu ergründen – von der mittelalterlichen Kiever Rus‘ über die Kosakenzeit bis hin zu nationalen Formierungsprozessen. Mythen wie die Vorstellung einer „tausendjährigen Ukraine“ werden kritisch hinterfragt. Zugleich demonstriert Jobst eindrucksvoll, dass sich ein Bewusstsein ukrainischer Eigenständigkeit bereits lange vor der Etablierung eines modernen Nationalstaates herauskristallisierte. So sehr sich die ukrainischen Länder historisch wie kulturell unterscheiden – insbesondere aufgrund langjähriger, oft wechselnder politischer Zugehörigkeiten zu Polen, Litauen, Habsburg, dem Zarenreich oder der UdSSR –, so wenig trifft jenes zählebige russische Narrativ zu, das Ukrainer als die unzivilisierten Verwandten „am Rande“ (Ukraïna = „am Rande“) abwertet.
In Kapitel 6 – Die ukrainischen Länder als Teil Polens und Litauens – gelingt es Jobst, ein differenziertes Bild der „Polonisierung“ der ukrainischen Gebiete zu zeichnen, das gängige Narrative einer repressiven Fremdherrschaft ebenso hinterfragt wie idealisierende Vorstellungen einer frühen Vermittlung europäischer Rechtsstaatlichkeit. Ab Kapitel 9 – Die ukrainischen Länder unter der Herrschaft des Habsburgerreichs – thematisiert die Autorin das kriegerische 20. Jahrhundert: von der Aufteilung des Territoriums unter den Kriegsparteien des Ersten Weltkrieges, über den sogenannten „Brotfrieden“, den die nach dem Zusammenbruch des zaristischen Russlands ausgerufene Ukrainische Volksrepublik (UNR) mit den Mittelmächten (Österreich-Ungarn und Deutschland) schloss, bis hin zu den Gräueltaten Stalins, die ihre Spuren im kollektiven Traumagedächtnis hinterließen: Millionen von Toten durch Zwangskollektivierung, Deportationen nach Sibirien, Ansiedlung von Russen, aber auch das Wüten der deutschen Besatzer auf ukrainischem Boden.
In den beiden abschließenden Kapiteln ihres Werkes widmet sich Jobst der Krim-Frage inklusive ethnischer Sondergruppen sowie den Entwicklungen seit 2015. Besonders überzeugend ist hierbei ihre Analyse der politischen Instrumentalisierung traumatischer Ereignisse und der vielschichtigen Erinnerungspolitik. Auch die Darstellung der Krim als historisch und ethnisch komplexer Raum gelingt differenziert und fern vereinfachender Narrative. Im letzten Kapitel beschreibt die Autorin die kulturelle und politische Selbstverortung der Ukraine seit 2015 als bewusste Abgrenzung von Russland – etwa sichtbar in der ukrainischen Populärkultur als Ausdruck einer „starken Politisierung des Alltags“ gegen Putin.
Als kleines Manko soll an jener Stelle die Komplexität der Sprache des Buches Erwähnung finden. Angesichts der Tatsache, dass Jobst als Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien tätig und somit Expertin in diesem Bereich ist, überrascht dies jedoch kaum. Die Erweiterung der Neuauflage um ein Vorwort und ein Schlusskapitel bringt zudem eine leichte Irritation in den ansonsten chronologisch aufgebauten Erzählfluss – zumindest aus der Perspektive nicht fachlich vorgebildeter Leser.
Das Fazit von „Geschichte der Ukraine“ lautet dennoch: klein, aber fein. Der Leser erwirbt ein kompaktes, detailreiches und objektiv neutrales Werk, das zudem durch seinen günstigen Preis besticht. Es gelingt Jobst, die Komplexität des Themas mit vielen Anregungen zu verbinden, ohne sich im Geäst der Historie zu verlieren, und bietet so dem interessierten Laien einen faktenreichen Überblick, der anspornt, mehr über die Ukraine und ihre Rolle als verbindendes Glied zwischen Ost- und Mitteleuropa in Erfahrung zu bringen.
-gam-