• Veröffentlichungsdatum : 20.10.2023
  • – Letztes Update : 06.12.2023

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Eurocorps

Helmut Fiedler

Das Eurocorps wird auf der operativen und der taktischen Führungsebene tätig. Es kann die Rolle eines Operational Headquarters und eines Force Headquarters für „Rapid Deployment Capacity“ einnehmen. Eine weitere Besonderheit sticht hervor: Das Eurocorps dient gleichermaßen der EU und der NATO.

Nach 30 Jahren „Friedensdividende“ und der widerlegten Annahme, dass bewaffnete Konflikte ausschließlich weit weg von Europa geführt würden, muss vor allem Europa erkennen, dass Sicherheit keine Selbstverständlichkeit ist. Einen kleinen Vorgeschmack der eingeschränkten militärischen Handlungsfähigkeit europäischer Staaten gab es bereits im August 2021, als die Evakuierung der eigenen Bürger und Soldaten aus Afghanistan ohne die Hilfe der USA nicht möglich gewesen wäre.

Doch am Hindukusch, weit weg von Europa, wo während der vergangenen 20 Jahre internationales Krisenmanagement auf der Tagesordnung gestanden hatte, ist die westliche Betroffenheit eine ganz andere als gegenwärtig, wo die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine nicht nur militärisch, sondern vor allem wirtschaftlich tagtäglich spürbar sind. Die NATO (North Atlantic Treaty Organization) verstärkt ihre Ostflanke und überarbeitet ihre Verteidigungspläne. Westliche Staaten erhöhen ihre Verteidigungsausgaben. Finnland ist bereits Mitglied, und auch Schweden wird nach Jahrzehnten der militärischen Bündnisfreiheit unter das schützende Dach der NATO eintreten. Die Europäische Union versucht schrittweise, ihre Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit dem im Jahr 2020 gestarteten Dialog „Strategischer Kompass“ und der „European Union Rapid Deployment Capacity“ (schnelle Eingreiftruppe der Europäischen Union; Anm.) zu verbessern. 

Rückblick 


Nach dem Ende des Kalten Krieges und einer allgemeinen sicherheitspolitischen Aufbruchsstimmung fiel während des deutsch-französischen Gipfeltreffens am 22. Mai 1992 in La Rochelle der Beschluss, einen europäischen militärischen Einsatzverband aufzustellen: Das Eurocorps wurde geboren. Angesiedelt in Straßburg wurde das Eurocorps am 5. November 1993 feierlich in den Dienst gestellt. Der damalige französische Präsident François Mitterrand sowie der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl setzten damit ein starkes Zeichen in Richtung verstärkter europäischer Sicherheitszusammenarbeit. Zunächst führte die Aufstellung eines „europäischen“ Korps (ein Hauptquartier der obersten taktischen Führungsebene; Anm.) zur besonderen Aufmerksamkeit der USA: „Die Lehren aus dem Balkan ... in der gegenwärtigen Phase der europäischen Integration war eine Zusammenlegung der Souveränität in den Bereichen Außenpolitik und Verteidigung ein Wunschtraum. Für Amerika war das der Silberstreif am Horizont. Washington wusste nun, dass es sich keine Sorgen mehr über die Europäer machen musste, die ihrer eigenen Wege gehen konnten. Dazu waren sie aber nicht fähig. Selbst das Eurocorps, das von Mitterrand und Kohl als Truppe von 60 000 Soldaten mit der deutsch-französischen Brigade als Kern konzipiert worden war und über das sich Bush und Cheney bei seiner ersten Ankündigung aufgeregt hatten, wurde als das gesehen, was es war: eine Idee, die nur auf dem Papier existierte und in den kommenden Jahrzehnten kaum Auswirkungen haben würde. In der Zwischenzeit würde die amerikanische Vormachtstellung in der Alten Welt unangefochten bleiben.“ 

Spätestens nachdem die konsequente Haltung der USA in Bosnien und Herzegowina im Jahr 1995 zum Frieden verholfen hatte, bestätigte sich erneut die sicherheitspolitische Abhängigkeit Europas von den USA.

Trotz dieser sicherheitspolitischen Realität in Europa behielt das Eurocorps von Beginn an einen Sonderstatus, der in der Dualität seines Selbstverständnisses begründet ist. Noch im Jahr 1992 legten Frankreich und Deutschland fest, dass das Eurocorps allen Mitgliedstaaten der Westeuropäischen Union (WEU – Frankreich, Großbritannien, Belgien, Niederlande, Luxemburg, Bundesrepublik Deutschland und Italien; Anm.) freistünde. Gegenüber der NATO kam es bereits im Jänner 1993 zu einem Abkommen, durch welches das Eurocorps auch unter das Kommando der NATO gestellt werden kann. Dadurch wurde bereits in der Geburtsstunde dieses militärischen Hauptquartieres der Weg in Richtung mehrfacher Verwendung, sowohl für die heutige Europäische Union als auch für die NATO, geebnet.

Zusammenfassend lässt sich die Entwicklung des Eurocorps der vergangenen 30 Jahre wie folgt beschreiben: „From a political will to an operational unit”, beziehungsweise „Vom politischen Willen zur operativen Einheit.

Von Kooperation zur Integration

Multinationalität und Integration sind für Streitkräfte zur Normalität geworden. Es besteht ein eigenartiges Paradoxon, dass Streitkräfte auf der einen Seite nach wie vor als Symbol nationaler Souveränität gelten, auf der anderen Seite aber intensiv internationalisiert wurden. Militärische Karrieren führen regelmäßig in internationale Stäbe, fast alle größeren Einsätze europäischer Streitkräfte erfolgen in einem multinationalen Rahmen, und auch in den ständigen Streitkräftestrukturen haben sich multinationale Hauptquartiere, siehe Eurocorps, fest etabliert. Seit der Gründung der NATO prägen die militärische Integration innerhalb der Allianz und, seit einigen Jahren auch verstärkt, die „Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ der Europäischen Union das Selbstverständnis westlicher Streitkräfte.

Die politische Integration hingegen stößt bislang an ihre Grenzen, vor allem, wenn sie auf den Bereich der Verteidigung ausgeweitet werden soll: von der gescheiterten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft der 1950er-Jahre bis zur gegenwärtigen, zwischenstaatlich-organisierten Verteidigungspolitik der Europäischen Union. Kennzeichnend bleiben weiterhin die Souveränität der Mitgliedstaaten über den Einsatz ihrer Streitkräfte, die Abhängigkeit der Union von deren militärischen Fähigkeiten und ihren unterschiedlichen Strukturen. Ein Blick in die militärische Zukunft Europas lässt sich wahrscheinlich am anschaulichsten mit einem Zitat von Herfried Münkler (ehemaliger Experte im Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland und emeritierter Professor für Politikwissenschaft; Anm.) skizzieren: „Dabei muss deutlich werden, dass Freiheit und Wohlstand auf Dauer nicht durch ängstliches Zurückweichen, sondern nur durch entschlossene Verteidigungsbereitschaft zu haben sind."
 

Mögliche Zukunft 


Ein Interviewausschnitt aus dem Jahr 2021 mit dem damaligen kommandierenden französischen General des Eurocorps, Generalleutnant Laurent Kolodziej, beschreibt die enorme Bedeutung der mittlerweile 30-jährigen Dualität (Europäische Union und NATO) des Korps im Fachmagazin „The European“: „Herr General, eine vielleicht seltsame, aber dennoch ernst gemeinte Frage: Die Besonderheit des Eurocorps besteht darin, dass es zwei Herren dient. Sie können sowohl bei der NATO als auch bei der Europäischen Union beschäftigt sein. Für wen schlägt Ihr Herz, oder anders ausgedrückt, haben Sie und Ihre Führungskräfte eine doppelte DNA?“

General Kolodziej: „Diese duale DNA wurde uns von unseren Gründervätern François Mitterrand und Helmut Kohl mit auf den Weg gegeben und spiegelt sich in unserem Motto – Eine Kraft für EU und NATO – wider. Deshalb liegt mir dieses Dualitätsprinzip als Kommandierender General des Eurocorps besonders am Herzen, und ich bin dankbar, dass die Rahmennationen seine Bedeutung regelmäßig unterstreichen und dafür sorgen, dass es auch 28 Jahre später noch gilt. Diese Dualität und die damit verbundene herausragende Erfahrung, die Fähigkeit, über den Tellerrand zu schauen, unterscheidet das Eurocorps von allen anderen vergleichbaren Einheiten in Europa und macht uns gewissermaßen einzigartig.“

Natürlich hat sich die europäische Sicherheitspolitik seit diesem Zeitpunkt, nämlich mit Beginn des Ukraine-Krieges im Frühjahr 2022, fundamental verändert. Stellten doch die zweieinhalb Jahrzehnte zwischen dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 und der völkerrechtswidrigen Annexion der Halbinsel Krim durch Russland 2014 eine Art historische Ausnahme in Europa dar: Es bestand keine existenzielle Bedrohung der Europäischen Union bzw. der NATO. Die internationale Politik war von vielen regionalen und innerstaatlichen Kriegen und Konflikten, vor allem im Nahen Osten, in Afrika, aber auch in Europa auf dem Westbalkan geprägt. Westliche Streitkräfte kamen zumeist in Friedensmission der Vereinten Nationen und später im Rahmen der US-dominierten Missionen, vor allem in der Aufstands- und Terrorismusbekämpfung sowie in der Stabilisierung zum Einsatz. Die in dieser Zeit von westlichen Regierungen geführten Kriege können als „Wars of Choice“ bezeichnet werden.

Im Gegensatz dazu begann Ende der 2010er-Jahre zunächst schleichend, spätestens seit der Annexion der Krim, und noch deutlicher seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine 2022, eine fundamentale Änderung der weltweit vorherrschenden sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen. Beobachter sprechen mittlerweile von einem „neuen Kalten Krieg“. Andere stellen zumindest einen Systemwettbewerb zwischen den USA und Europa auf der einen und Russland und China auf der anderen Seite fest. Demnach müssten die USA und Europa Russland und China Einhalt gebieten und sich darauf vorbereiten, „Wars of Necessity“ führen zu können, die im besten Fall dank einer erfolgreichen Abschreckungswirkung nicht auszufechten sein werden.

Im Unterschied zum internationalen Krisenmanagement der vergangenen 25 Jahre handelt es sich hierbei um die Sicherung und den Schutz der staatlichen Existenz von verbündeten westlichen Staaten. Mehr denn je kommt es für jene Nationen, die im Rahmen von NATO und Europäischer Union ein gemeinsames Verteidigungsbündnis eingegangen sind, darauf an, sich als Verbündete aufeinander verlassen zu können, im Frieden ebenso wie in einer Krise und im Krieg.

Zwischen diesen beiden soeben beschriebenen Ausprägungen – „Wars of Choice“ bzw. „Wars of Necessity“ – finden sich zurzeit nicht allein die Europäische Union, Stichwort „Strategischer Kompass“, und die NATO, Stichwort „Re-Fokussierung der Bündnisverteidigung“, wieder. Auch für das Eurocorps, auf einer rein militärischen Ebene, ist diese Gratwanderung bzw. Neuausrichtung entscheidend. Beurteilt man die verschiedenen militärischen Rollen bzw. Aufgaben, die ein Korps gegenwärtig einnehmen kann, lassen sich diese recht rasch der Europäischen Union bzw. der NATO zuordnen:

Aufseiten der Europäischen Union wäre dies die Rolle eines Force Headquarters, eines im jeweiligen Einsatzraum führenden Kommandos der operativen Führungsebene. Beispiele dafür wären die Führung von Ausbildungs- und Trainingsmissionen der Europäischen Union, aber auch das Bereithalten eines operativen Hauptquartieres im Rahmen der so genannten „Rapid Deployment Capacity“, der progressiven Weiterentwicklung der EU-Battlegroups ab dem Jahr 2025. Aufseiten der NATO wäre dies die Rolle des „Warfighting Corps“ oder eines Land Component Commands in der Bündnisverteidigung oder die eines Joint Task Force Headquarters auf der operativen Führungsebene im Rahmen des internationalen Krisenmanagements.

Ähnlich wie General Kolodziej das Alleinstellungsmerkmal des Eurocorps – den dualen Status – hervorgehoben hat, wird sich diese mehrfache Einsatzmöglichkeit des Korps, auch in den kommenden zehn Jahren kaum ändern. Gerade in Anbetracht der sicherheitspolitischen Verhältnisse in Europa und der direkt oder indirekt sich abzeichnenden militärischen Aufgabenteilung zwischen der Europäischen Union und der NATO wird das Eurocorps auch künftig wechselweise Rollen sowohl für die Europäische Union als auch für die NATO von ihren sechs Rahmennationen übertragen bekommen. All diese Aufgaben werden an der Schnittstelle zwischen der oberen taktischen und der operativen Führungsebene angesiedelt sein.

Das Eurocorps ist ein militärisches Hauptquartier im Herzen Europas, leistet seinen Beitrag zur europäischen Sicherheit und Verteidigung und bleibt seinem Leitspruch auch künftig treu: „A force for the European Union and NATO“.

Oberst dG Mag.(FH) Helmut Fiedler, PhD; Planungsgruppenleiter beim Eurocorps in Straßburg.


Dieser Artikel erschien im TRUPPENDIENST 3/2023 (393).

Zur Ausgabe 3/2023 (393)


 

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