• Veröffentlichungsdatum : 18.05.2018
  • – Letztes Update : 30.07.2018

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Widerstand trotz Kriegsgefangenschaft

Tristan Nikischer

Sommer 1940. Frankreich, eine stolze Nation mit einer großen militärischen Vergangenheit, musste die Waffen niederlegen. Die Wehrmacht hatte die französische Armee in sechs Wochen besiegt. Für zwei Millionen französische Soldaten und Offiziere folgte die Kriegsgefangenschaft, die ihren Widerstand jedoch nicht brechen konnte, wie sich im Offizierslager 17 in Edelbach (nahe dem heutigen Truppenübungsplatz Allentsteig) in Niederösterreich zeigte.

Mannschaften und Offiziere wurden bei der Gefangenahme in getrennte Gefangenenlager gesteckt. Die Offiziere der französischen Armee kamen in die sogenannten Offizierslager (Oflag; Anm.). Sie waren im Gegensatz zu den einfachen Soldaten nicht zur Zwangsarbeit verpflichtet. Das Deutsche Reich beachtete in diesem Fall die Genfer Konvention, die besagt, dass Offiziere keine Zwangsarbeit leisten und mit dem gleichen Sold wie jene der Wehrmacht bezahlt werden müssen. Das geschah mit einem Hintergedanken: Die Gefangenen sollten durch vergleichsweise gute Behandlung zur Kollaboration gebracht werden. Die Mannschaften waren in großen Stammlagern (Stalag, Anm.) eingepfercht. Sie mussten unter härteren Bedingungen auf engstem Raum leben. Zusätzlich waren sie verpflichtet Zwangsarbeit zu leisten, etwa als Erntehelfer. Die Todesrate unter ihnen war höher. Diese Lager waren im ganzen Deutschen Reich in den jeweiligen „Wehrkreisen“ verteilt.

Oflag 17-A in Edelbach

In Edelbach (Wehrkreis 17 - daher Oflag XVII-A; Anm.) wurden 4.100 französische Offiziere und 600 Ordonnanzen ab Sommer 1940 in Gefangenschaft gehalten. Auch polnische Staatsbürger, die zuvor in der französischen Armee kämpften, waren in dem Lager. Dieses bestand aus einfachen Baracken, die ursprünglich für reguläre Einheiten der Wehrmacht am Truppenübungsplatz Döllersheim, heute Allentsteig genannt, gebaut worden waren. Döllersheim war damals einer der größten Truppenübungsplätze in Zentraleuropa. Er umfasste eine Fläche von 200 Quadratkilometern und wurde von der Wehrmacht 1938 errichtet. 7.000 Einwohner aus 45 Dörfern wurden deshalb zwangsumgesiedelt.

Die Baracken des Oflag 17 wurden durch einen Stacheldraht und Wachtürme gesichert. Das Lager bestand aus einer etwa 440 mal 530 Meter großen Fläche. Die Wachmannschaften bestanden hauptsächlich aus österreichischen Veteranen des Ersten Weltkrieges, die von der Wehrmacht wieder einberufen worden waren. Im Vergleich zu anderen Kriegsgefangenenlagern waren die Zustände im Oflag 17 relativ gut. In jeder Baracke gab es eine kleine Küche und einen Waschraum. Jedem Offizier standen zwei Duschgänge pro Monat zu. Außerdem gab es eine Kapelle, einen Sportplatz sowie ein Freilufttheater. In jeder Baracke waren circa 100 Gefangene untergebracht.

Unter den französischen Offizieren waren viele bekannte Persönlichkeiten, wie etwa der spätere Präsident François Mitterrand. Eine geballte Menge an Intelligenz war im Lager versammelt. Deshalb gründeten die Offiziere im Oflag eine Universität (Université en Captivité), die bald 1.000 Studenten hatte und vom bekannten Mathematik-Professor Jean Leray geleitet wurde. Es wurden täglich viele Vorlesungen und Sprachkurse gehalten. Dissertationen, wie etwa ein Entwurf für eine französische Verfassung, entstanden. Ein Schwerpunkt der Forschung waren geologische Untersuchungen: Deshalb zählt heute der Boden des Lagers im Waldviertel zu den besterforschtesten geologischen Gebieten Österreichs. Das war einer der Verdienste der Kriegsgefangenen.

Vorurteile gegenüber Kriegsgefangenschaft

Rund um das Thema „Kriegsgefangenschaft“ gibt es - besonders in Frankreich - einige Problematiken, die es zu klären gilt:

1. Präsenz und Unbekanntheit - Warum ist das Thema aus der Wahrnehmung der Öffentlichkeit verschwunden? Warum wurde es nicht erforscht?

2. Viele (falsche) Vorurteile, Gerüchte und Behauptungen - Waren die Offiziere in Kriegsgefangenschaft tatsächlich privilegiert?

3. Kollaboration – Leisteten Kriegsgefangene Offiziere keinen Widerstand oder Beitrag zum fortgeführten Kampf, sondern waren sie teilweise sogar Kollaborateure?

Unbekanntheit

Die Unbekanntheit/Verdrängung des Themas lässt sich anhand der Behauptungen und die daraus resultierenden Vorurteile, die bezüglich der Kriegsgefangenen nach Ende des Zweiten Weltkrieges verbreitet waren, erklären. Viele Franzosen sahen in der Niederlage von 1940 eine Schmach. Schließlich wurde die stolze französische Armee in wenigen Wochen überrumpelt und musste nach kurzer Zeit die Waffen niederlegen. Oftmals wurde den Offizieren die Schuld an dieser Niederlage gegeben. Außerdem wurden in der französischen Nachkriegsgesellschaft die sogenannten Gaullisten bevorzugt. Das waren die Anhänger des späteren französischen Präsidenten, Widerstandskämpfers und Generals Charles de Gaulle.

Die Kriegsgefangenen wurden dieser Gruppe nicht zugeordnet. Sie wurden außer Acht gelassen, da eben das Vorurteil bestand, dass sie keinen oder nur unzureichenden Widerstand geleistet haben, was aber schlichtweg falsch ist, wie sich etwa bei den Gefangenen des Offizierslagers 17 in Edelbach in Niederösterreich zeigte. Da man sich aufgrund dieser Vorurteile nicht mit der Aufarbeitung ihrer Schicksale beschäftigte, blieb diese Thematik lange unbehandelt. Sie wurde vergessen und verdrängt, die Vorurteile bestanden weiter und wurden in der Öffentlichkeit verfestigt. Die Aufarbeitung erfolgte erst Jahrzehnte später und das Großteils nur durch Gedenkvereine wie der „Association Mémoire et Avenir“.

Das Vorurteil des Privilegs

Über die „Privilegien“ und die Versorgung der französischen Offiziere gab es viele falsche Behauptungen, etwa, dass sie sogar einmal die Woche „Champagner tranken“. Die Offiziere in Kriegsgefangenschaft mussten zwar keine Zwangsarbeit leisten, aber waren schlecht von den deutschen Wachmannschaften versorgt. Sie bekamen grünen Tee (vermutlich aus Gras gekocht) und 200 Gramm Brot pro Tag, was circa 500 Kilokalorien entsprach - viel zu wenig für einen Erwachsenen, der durchschnittlich 2000 Kilokalorien pro Tag benötigt, um sein Gewicht zu halten. Alkohol gab es generell gar keinen. Die Kriegsgefangenen waren also auf Pakete aus der Heimat angewiesen. Angehörige schickten ihnen alles Mögliche, das sie zum Überleben brauchten. Am wichtigsten war natürlich ausreichend Nahrung.

Da die Deutschen bei den Oflags die Genfer Konvention beachteten, konnten die Offiziere Kontakt zur Heimat wahren. Sie durften einen Brief pro Monat versenden. Kriegsgefangene Offiziere standen also etwas besser als die einfachen Mannschaften/Soldaten in Gefangenschaft da, von weitreichenden Privilegien kann jedoch bei näherer Betrachtung nicht die Rede sein.

Widerstand - Resistance

Der Widerstand, den französische Offiziere in Kriegsgefangenschaft betrieben, ist weitgehend unbekannt. Die Gefangenen waren keine Kollaborateure. Zwar war in den Anfangsjahren des Oflags ein Viertel der Gefangenen Anhänger des sogenannten Vichy-Regimes unter Marschall Philippe Pétain. Dieses Regime war eine Marionetten- und Kollaborationsregierung in der unbesetzten Zone Frankreichs; der Regierungssitz war in der Stadt Vichy. Dies änderte sich aber mit dem Fortschreiten des Krieges, sowie dem Wendepunkt des Kriegsgeschehens, der 1942 (Schlacht von Stalingrad, die erste große Niederlage der Deutschen; Anm.) eintrat. Ab diesen Zeitpunkt gab es kaum mehr Anhänger des Regimes im Lager. Somit mag der Vorwurf der Kollaboration auf den ersten Eindruck nicht unberechtigt sein, hält aber keiner genaueren Betrachtung stand.

Der Widerstand der Gefangenen zeigte sich in verschiedenen Formen von passivem und aktivem Widerstand. Zum passiven Widerstand zählten allgemeiner Ungehorsam gegenüber den Wachmannschaften, das Hören von „Feindsendern“ und der Schmuggel von Waren und Briefen. Interessanterweise waren so die Gefangenen besser informiert als ihre deutschen Bewacher. Der aktive Widerstand zeigte sich vor allem in den diversen Fluchtversuchen, welche viele Ressourcen der Bewacher (etwa bei der Suche nach den Geflohenen) beanspruchten. Einer davon endete mit der größten Massenflucht („Grande Évasion“) aus einem Kriegsgefangenenlager im Zweiten Weltkrieg.

Dieser fand im September 1943 statt. Die deutschen Bewacher waren nämlich nachlässig und erlaubten den Gefangenen einen Garten in der Nähe des Freilufttheaters anzulegen. Mit Bäumen, Gebüsch und Pflanzen verdeckten sie die Sicht der Wachmannschaften. Die Franzosen gruben dann regelrecht vor den Augen der Bewacher einen Fluchttunnel. Das Werkzeug hierzu (Schaufeln und Schubkarren) bekamen sie ursprünglich vom Roten Kreuz, da dieses die Zustände des Lagers kritisierte, weil es keinen Luftschutzbereich gab. Sie sollten ursprünglich damit Luftschutzgräben ausheben, aber im Endeffekt entstand auch ein 90 Meter langer Fluchttunnel. In der Nacht vom 18. auf den 19. September 1943 konnten circa 132 Gefangene fliehen. Am 9. November gab das deutsche Kommando zu, dass 14 von ihnen immer noch auf der Flucht waren. Die geflohenen Franzosen gaben sich als Erntehelfer aus und konnten so teilweise untertauchen beziehungsweise sogar bis nach Frankreich gelangen.

Befreiung des Oflag 17

Ein Teil der Gefangenen wurde am Dienstag, dem 17. April 1945, durch die Deutschen evakuiert. Die „Nicht-Gehfähigen“, ungefähr 800 Franzosen, mussten zurückbleiben und waren „sich selbst überlassen“. Das Lager wurde am 9. Mai 1945 offiziell durch sowjetische Truppen befreit. Wenige Wochen später waren die Kriegsgefangenen wieder in der Heimat. Alle Ereignisse sowie das gesamte Lagerleben wurde in einem Dokumentarfilm, „Oflag XVIIA - Tournage clandenstin derrière les barbelés“, mit Original-Aufnahmen, die heimlich in der Gefangenschaft gedreht wurden, festgehalten. Die Kamera und Filmrollen wurden per Post ins Lager geschmuggelt, und die Insassen filmten mit einem ausgehöhlten Wörterbuch und unter ihren Mänteln versteckt den Lageralltag.

Gedenken und Zukunft - Association Mémoire et Avenir

Kameradschaftspflege, Gedenken, Abbau von Vorurteilen und Aufklärung über das Thema Kriegsgefangenschaft sind die wichtigsten Gründe, warum der Gedenkverein „Association Mémoire et Avenir“ gleich nach Kriegsende 1945 gegründet wurde. Anfangs beschränkten sich seine Aktivitäten vor allem auf die Kontaktpflege und den Erhalt der Kameradschaft unter den ehemaligen kriegsgefangenen französischen Offizieren. In den 1990er Jahren erweiterte der Verein seine Funktionen: Es wurde begonnen zur Thematik Kriegsgefangenschaft beziehungsweise Oflag eine breite (französische) Öffentlichkeit zu erreichen, ganz nach dem Leitsatz: Aufklärung und Gedenken, Erinnerung und Zukunft. „Mémoire et Avenir“ will Vorurteile und Trugschlüsse über das Thema und die Problematiken dahinter beleuchten beziehungsweise verringern. Die Vereinsangehörigen begannen in den 1990er und 2000er Jahren mit der Sammlung und Archivierung von historischen Gegenständen. Diese wurden in verschiedenen Ausstellungen in ganz Frankreich präsentiert.

Ausstellung „Oflag“

2015 entstand anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung der Lager eine Wanderausstellung. Diese erweitert sich ständig mit neuen Dokumenten, um den vergessenen Kriegsgefangenen zu gedenken. Die Ausstellung vermittelt mit Schautafeln, historischen Gegenständen und Original-Dokumenten die Bedingungen der Kriegsgefangenschaft. Besucher werden über die Gefangennahme der Offiziere, den Transport zu den Lagern, die Organisation und das Alltagsleben, die „Lageruniversitäten“ sowie die kulturellen, intellektuellen, technischen, künstlerischen und religiösen Aktivitäten, die im Lager stattfanden, informiert. Auch die Lebensmittelversorgung, die Gesundheit der Gefangenen und Einzel- beziehungsweise Massenfluchtaktionen bilden einen Schwerpunkt der Ausstellung, die durch „Mémoire et Avenir“ ins Leben gerufen wurde.

Das Österreichische Bundesheer, die französische Botschaft sowie der Verein „Mémoire et Avenir“ gedenken jährlich am „Tag der Befreiung“ der Kriegsgefangenen des ehemaligen Lagers Edelbach.

Tristan Nikischer, BA ist Redakteur beim TRUPPENDIENST.

 

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