• Veröffentlichungsdatum : 08.11.2017
  • – Letztes Update : 09.11.2017

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  • 3822 Wörter

Die Heimat möcht´ ich wiedersehn

Harald Pöcher

Der Erste Weltkrieg war ein weltumspannender Konflikt, der auch fern der Heimat ausgefochten wurde. So kämpften außerhalb Europas auch österreichisch-ungarische Soldaten in Ostasien Seite an Seite mit dem deutschen Bundesgenossen. Nach der raschen Niederlage in Tsingtao gerieten die Besiegten in japanische Kriegsgefangenschaft. Mit Fortdauer der Gefangenschaft dachten viele Gefangene nicht mehr an eine rasche Heimkehr.

Eine kurze Vorgeschichte

Österreich und Japan unterhalten seit 1869 diplomatische Beziehungen. Diese Beziehungen entwickelten sich von Anfang an in allen Bereichen des Lebens zum beiderseitigen Vorteil. Auch die militärischen Beziehungen waren davon nicht ausgenommen. Ab 1882 entsandte Japan einen Militärattaché nach Wien und ab 1909 auch einen Marineattaché. Die Donaumonarchie entsandte erst ab 1904 einen Militärattaché und zwischen 1904 und 1907 auch einen Marineattaché nach Tokio.

Besonders rege war der Austausch von sonstigem Militärpersonal zu Studienzwecken. So hielt sich der k.u.k Generalstabsoffizier Theodor von Lerch zwischen 1910 und 1912 in Japan auf und führte in dieser Zeit den alpinen Schilauf bei den Truppen des Heeres ein (vom Autor erschien hierzu ein Artikel im Truppendienst 4/2009). Weitere Kontakte betrafen Flottenbesuche und Besuche militärischer Ausbildungseinrichtungen, Truppen und Versuchsanstalten. So besuchten 1907 die Kreuzer Tsukuba und Chitose unter dem Kommando von Vizeadmiral Ijuin Goro die österreichisch-ungarische Marine in Pola.

Im Gegenzug fanden mehrere Flottenbesuche österreichisch-ungarischer Kriegsschiffe in Japan statt, darunter der Besuch einer Flottille, bestehend aus den Kriegsschiffen SMS „Zenta“, SMS „Kaiserin Elisabeth“, SMS „Maria Theresia“ und SMS „Aspern“ unter dem Kommando von Admiral Rudolf Graf Montecuccoli im Jahr 1900. Weitere erwähnenswerte Aufwartungen sind der Besuch einer japanischen Delegation an der Theresianischen Militärakademie 1909 und der Aufenthalt des japanischen Prinzen Konohito im Jahre 1900 auf dem Truppenübungsplatz Bruckneudorf sowie die Gastspiele von Major des Generalstabes Okumura Eisaku in Tirol, Salzburg, Wien, Böhmen und auf dem Truppenübungsplatz Bruckneudorf in den Jahren 1902 bis 1904 und 1906 bis 1907.

Kriegsgegner wider Willen 

Österreich und Japan sind rund 10 000 km Luftlinie voneinander entfernt. Österreich liegt im Herzen Europas - Japan ist als Insel im Pazifik dem asiatischen Kontinent im Osten vorgelagert. Dennoch waren beide Staaten Gegner im Ersten Weltkrieg - das damalige Bündnissystem sah dies so vor. Österreich-Ungarn hatte am Anfang des 20. Jahrhunderts keine territorialen Ambitionen in Fernost; lediglich der Handel mit China und Japan war von Bedeutung.

Zum Schutz der österreichischen Handelsschiffe und Handelsniederlassungen unterhielt die k.u.k. Monarchie deshalb auch ein Stationsschiff in ostasiatischen Gewässern. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges war dies der alte Panzerkreuzer SMS „Kaiserin Elisabeth“ unter dem Kommando von Fregattenkapitän Richard Makoviz. Wäre es nach dem Hof in Wien gegangen, hätte Österreich-Ungarn eigentlich nicht gegen Japan Krieg führen sollen. Aber an die Möglichkeit, dass das alte Kriegsschiff heil nach Europa gelangen könnte, glaubte im Marineministerium in Wien niemand ernsthaft. Und auch eine Eingliederung in das deutsche Ostasiengeschwader unter dem Kommando von Vizeadmiral Maximilian Reichsgraf von Spee war nicht realistisch, da die „Liesl“, wie das Kriegsschiff SMS „Kaiserin Elisabeth“ liebevoll von ihrer Besatzung genannt wurde, zu langsam war. 

Ende August kam schließlich der Befehl aus Wien, dass der Kreuzer im Hafen von Tsingtao abzurüsten ist und sich die Mannschaft in das neutrale chinesische Tiensin zu begeben habe. Auf Drängen des deutschen Bündnisgenossen erklärte Österreich-Ungarn Japan den Krieg und dies bedeutete, dass der Kreuzer wieder seeklar zu machen war und die Besatzung über Schleichwege aus China nach Tsingtao zurückzukehren hatte. Die „Liesl“ leistete danach während der Belagerung von Tsingtao wertvolle Dienste und wurde schließlich am 2. November um 0255 Uhr gesprengt, als der Munitionsvorrat an Bord zu Ende ging. Ohne weiter auf die schicksalshaften Ereignisse zwischen September und Anfang November 1914 im Detail eingehen zu wollen, soll dennoch im Überblick der Verlauf der Einnahme des deutschen Pachtgebietes Tsingtao an der Ostküste Chinas durch die Truppen Japans und Großbritanniens dargestellt werden. 

Das deutsche Pachtgebiet Tsingtao

Der Gouverneur des deutschen Pachtgebietes Tsingtao, Kapitän zur See Meyer-Waldeck, hatte rund 4 730 Soldaten für die Verteidigung des Gebietes zur Verfügung. Mit der Entscheidung, dass die „Liesl“ abgerüstet werden und die Besatzung an Land mitkämpfen sollte, wurden die Verteidiger mit rund 330 österreichisch-ungarischen Soldaten verstärkt. Die Japaner verzichteten auf einen Großangriff von See her und brachten ihre Landungsflotte in eine Bucht rund 200 km nördlich von Tsingtao an Land. Damit konnten die Japaner in aller Ruhe und ungestört von Feindeinwirkung ihre Angriffstruppen formieren.

Die Masse der Angreifer zu Land bestand aus den 23 000 japanischen Soldaten der 18. Division unter dem Kommando von Generalleutnant Kamio Mitsuomi. Von See her beschossen japanische Kriegsschiffe, die zur Blockade der Hafeneinfahrt vor der Bucht von Tsingtao patrouillierten, die Befestigungsanlagen von Tsingtao. Weitere rund 1 500 Mann britische Truppen verstärkten die japanischen Angreifer. Der Angriff auf Tsingtao begann am 2. September 1914 mit einem Sperrfeuer aus 142 Geschützen. Ferner setzten die japanischen Truppen Aufklärungsflugzeuge ein. Nach dem geglückten Einbruch in die Befestigungsanlagen Anfang November, kapitulierte am 7. November 1914 die Garnison Tsingtao und geriet mit Masse in japanische Kriegsgefangenschaft. 

Erste behelfsmäßige Unterbringung der Kriegsgefangenen

Die japanischen Militärstellen hatten in puncto Einrichtung und Betrieb von Kriegsgefangenenlagern nur wenig Erfahrung. So mussten die Gefangenen zunächst auf große Tempelanlagen, provisorische öffentliche Gebäude, Teehäuser oder Baracken aufgeteilt werden. Die am Kampf von Tsingtao beteiligten alt-österreichischen Soldaten wurden nicht geschlossen in einem Lager untergebracht, sondern auf die Kriegsgefangenenlager Himeiji, Kumamoto, Shizuoka, Osaka und Fukuoka aufgeteilt. Der Kommandant der „Liesl“, Fregattenkapitän Richard Makoviz, wurde gemeinsam mit dem ehemaligen Gouverneur von Tsingtao, Kapitän zur See Meyer-Waldeck, im Lager Fukuoka untergebracht - hernach ab September 1915 in das Lager Narashino eingewiesen.

Große Unterschiede in der Behandlung

Die Behandlung der Kriegsgefangenen in den einzelnen Lagern war recht unterschiedlich, da es keine koordinierende Stelle gab, die einheitliche Direktiven für die Behandlung der Gefangenen ausgab. Deshalb hatte jede einzelne Lagerleitung einen großen Ermessensspielraum bei der Behandlung der Kriegsgefangenen. So war das Lager Kurume auf Kyushu wegen seiner Missstände und der schlechten Behandlung der Gefangenen verrufen, dass es oft schematisch dem Musterlager Bando gegenübergestellt wird, in dem die Kriegsgefangenen große Freiheiten genossen. Dafür kann man zwei Gründe anführen. Erstens war die Lagerbehörde infolge wiederholter Fluchtversuche nervös und streng gegenüber den Lagerinsassen.

Viele kleine und widersinnige Regeln wurden ihnen aufgezwungen, und Verstöße dagegen schwer bestraft. Der Unmut unter den Gefangenen vergrößerte sich dadurch, und sie widersetzten sich immer mehr. In diesem Teufelskreis kam es vonseiten der Lagerverwaltung zu Prügeleien und bösartigen Schikanen. Zweitens lagen in der Nähe des Lagers eine große Garnison und das Kommando der 18. Division des kaiserlich-japanischen Heeres. Deshalb konnte die Lagerbehörde die Gefangenen keinesfalls besser behandeln als die japanischen Soldaten.

Die Japaner reagierten sehr bald auf die unbefriedigenden Zustände in den improvisierten Gefangenenlagern und errichteten neue großzügig ausgestattete Lager, wie Bando auf der Insel Shikoku, oder benutzten zur Unterbringung der Gefangenen Truppenübungsplätze mit den angeschlossenen Unterkünften für Soldaten, wie beispielsweise Aonogahara bei Kobe oder Narashino östlich von Tokio. 

Das Kriegsgefangenenlager Aonogahara

Das Kriegsgefangenenlager Aonogahara wurde Ende September 1915 in einer Größe von 22 683 Quadratmetern in Betrieb genommen und lag auf dem Truppenübungsplatz der 10. Division in der Nähe von Kobe. Das Lager bestand aus fünf großen Baracken, einer kleineren Baracke für Offiziere, dem Lagerkommando und den Wasch- sowie Toilettenplätzen.

Hohe Lebensqualität 

Im Lager gab es ein Orchester, eine Theatergruppe, einen Chor und einige Kunstmaler. Dies spricht für die hohe Lebensqualität der Inhaftierten. Außerhalb des Lagers gab es noch rund 10 000 Quadratmeter Fläche für Ackerbau, Viehzucht und für Sportanlagen, darunter ein Fußball- und ein Tennisplatz. Im Lager Aonogahara wurden die Kriegsgefangenen der Lager in Fukuoka und Himeiji untergebracht, darunter der Großteil der Besatzung der SMS „Kaiserin Elisabeth“. Die höchste Belagstärke betrug etwa 500 Lagerinsassen, davon rund 230 Soldaten aus dem ehemaligen Österreich-Ungarn.

Folgeverwendung

Nach der Schließung des Lagers wurden die ehemaligen Gebäude des Kriegsgefangenenlagers von der japanischen Armee bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges weiter verwendet. Danach benutzten Siedler die Gebäude zu Wohnzwecken. Einige Gebäude blieben sogar bis 2005 erhalten und wurden danach abgerissen. Andere Konstruktionen, wie das Dach des Brunnens sind bis heute erhalten geblieben und damit ein wichtiges Erbe des Ersten Weltkrieges auf japanischem Boden.

 

Das Kriegsgefangenenlager Bando

Das Kriegsgefangenenlager Bando lag auf der Insel Shikoku und wurde 1917 in Betrieb genommen. In Bando wurden die Gefangenen der Lager Marugume, Matsuyama und Tokushima zusammengefasst. Die Gesamtfläche des Lagers betrug 57 233 Quadratmeter. In Spitzenzeiten der Belegung waren bis zu 1 000 Kriegsgefangene untergebracht. Das Lager Bando bestand aus acht Baracken für die Unterbringung von Soldaten mit Mannschaftsdienstgraden und Unteroffizieren. Die Offiziere bewohnten zwei eigene Unterkünfte aus Holz. Im Südwesten des Lagers lag Tapautau, das so genannte Geschäftsviertel mit zahlreichen kleinen Geschäften und Werkstätten. Des Weiteren gab es Baracken für die Unterbringung der Küchen- und Toilettenanlagen. Waschbänke gab es in der Nähe der Toilettenanlagen. Ferner lagen zwei Teiche im unmittelbaren Lagerbereich.

Beiderseitiger wertschätzender Umgang

Das Kriegsgefangenenlager Bando erhielt seine Berühmtheit, weil der japanische Lagerkommandant Oberst Matsue Toyohisa (1872-1955) deutsch denkend eingestellt war und den Gefangenen ein hohes Maß an Selbstverwaltung zugestanden hatte. Hierdurch wurde ein intensiver Kontakt der höflich mit „Doitsu-san“ (=Deutsche) angeredeten Kriegsgefangenen mit der einheimischen Bevölkerung ermöglicht - durchaus zu beiderseitigem Vorteil -, denn die deutschen Kriegsgefangenen waren in modernen Techniken beispielsweise der Milchwirtschaft, dem Gartenbau, der Geflügelzucht und in verschiedenen Handwerken versiert und pachteten sogar Land in der Umgebung des Lagers.

Wie weit die wirtschaftlichen und kulturellen Aktivitäten der Kriegsgefangenen gingen, lässt sich aus einem „Fremdenführer durch das Kriegsgefangenenlager Bando“ ersehen, der von der Lagerdruckerei Bando anlässlich der Ankunft der von Kurume nach Bando verlegten Kameraden im August 1918 herausgegeben wurde.

Gemäß dem Fremdenführer weist das Pachtgebiet vor dem Lager neben den ausgedehnten landwirtschaftlichen Nutzflächen und Hühnerhöfen neun Tennisplätze, je einen Fußball-, Hockey- und Faustballplatz sowie mehrere Musiklauben aus. Außerdem gab es einen Badestrand mit abgetrennten Bereichen für Offiziere, Schwimmer und Nichtschwimmer. Schließlich verfügte das Lager auch über eine Bootswerft, eine gut besuchte Kegelbahn und eine eigene Konzerthalle.

Findige Kriegsgefangene nutzten ihre zivilen Kenntnisse, um ihren Lebensunterhalt aufzubessern, wodurch eine regelrechte kleine Stadt mit Handwerkern, Händlern und Künstlern entstand. Blättert man im Lageranzeiger, fallen die liebevoll gestalteten Werbeanzeigen ins Auge: „Cigarrenhandel Schmitz&Härter“, „Lagergarküche“, „Lagerschlächterei“ und ein vornehmes Restaurant „Kristall-Palast“. Ferner tat sich ein Chemiker mit einem Apotheker zusammen und gründete ein „Chemisches Laboratorium“, das Haarwasser, Zahnpaste, Abführmittel und Kurfürstlichen Magerbitter anbot.

Neben dem Angebot von eigenen Erzeugnissen wurden von den deutschen und österreichisch-ungarischen Handwerkern vielfach auch japanische Männer und Frauen in unbekannten Handwerkstechniken ausgebildet.

Vielfältiges kulturelles Angebot

Besonders hervorgehoben werden müssen die kulturellen Aktivitäten im Lager Bando. Im Gefangenenlager gab es viele Musik- und Theaterbegeisterte, die sich zusammenfanden und Schauspielgruppen und Orchester gründeten. Die Qualität der Darbietungen reichte von einfachen Laienstücken bis hin zu professionellen Aufführungen von Theaterstücken der Weltliteratur und Konzerten von Musikstücken großer Meister. Den Höhepunkt bildete die japanische Uraufführung von Ludwig van Beethovens 9. Symphonie am 1. Juni 1918.

Bei den Kulturaufführungen waren auch die Japaner der umliegenden Ortschaften gern gesehene Gäste. Neben Konzerten und Theateraufführungen eröffneten auch Ausstellungen von deutschen bildnerischen Kunstwerken und Handwerkskunst neue Möglichkeiten, der ortsansässigen Bevölkerung Kunstfertigkeiten näherzubringen. Hiezu stellte die Gemeinde eigene Räumlichkeiten zur Verfügung, um gezielt Ausstellungen für die japanische Bevölkerung zeigen zu können. 

Folgeverwendung

Das Kriegsgefangenenlager Bando wurde nach dem 1. April 1920 als Truppenübungsplatz für das kaiserlich-japanische Heer benutzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg dienten die Baracken der Unterbringung von heimkehrenden Flüchtlingsfamilien.

Unter ihnen befand sich auch die Familie Takahashi. Eines Tages entdeckte Frau Takahashi beim Sammeln von Brennholz den von Büschen zugewachsenen Gedenkstein verstorbener deutscher Kriegsgefangener. Frau Takahashi begann daraufhin mit ihrem Mann und einigen Nachbarn die Stätte zu pflegen und im Nahbereich einige Kirschbäume zu pflanzen. Die gute Tat der Frau Takahashi begann sich herumzusprechen, so dass bald der deutsche Botschafter in Japan in die Gegend zu Besuch kam. In der Folge kam es zu einem regen Austausch von Briefen und Besuchen ehemaliger Kriegsgefangener in Bando. Frau Takahashi wurde schließlich 1969 für ihre Verdienste das deutsche Bundesverdienstkreuz verliehen.

1972 wurde das „Deutsche Haus Naruto“ als Museum eröffnet; 1993 ersetzte der Neubau das ehemalige Deutsche Haus Naruto. In diesem Neubau ist ein sehenswertes Museum über die Kriegsgefangenschaft der deutschen und österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen untergebracht.

Wissenschaftliche und künstlerische Betrachtung 

Über Bando gibt es einige wissenschaftliche Arbeiten, populärwissenschaftliche Darstellungen und einen Film mit dem Titel „baruto no gakuen“ („baruto“ weist auf Kaiser Wilhelms Bart hin, den der Lagerkommandant Matsue trug, und „gakuen“ auf das Lager als musikalische Stätte, in dem unter anderem wie bereits erwähnt Beethovens 9. Symphonie aufgeführt wurde), in dem in den Hauptrollen Bruno Ganz und Ken Matsudaira den deutschen Kommandanten und den japanischen Lagerkommandanten verkörpern. 2007 kam dieser Film auch auf Deutsch in die Kinos. Eine besondere Auszeichnung fand das Deutsche Haus durch den Besuch des Thronfolgers Kronprinz Naruhito am 25. Oktober 2005. 

Das Kriegsgefangenenlager Narashino

Das Kriegsgefangenenlager Narashino wurde auf einer Fläche von rund 95 000 Quadratmetern östlich von Tokio Anfang September 1915 eingerichtet. Im Lager Narashino wurden zunächst rund 250 Kriegsgefangene der Lager Tokio-Asakusa, Shizuoka, Oita und Fukuoka untergebracht, darunter auch Besatzungsmitglieder der SMS „Kaiserin Elisabeth“. Das Lager Narashino bestand in seiner letzten Ausbaustufe aus acht Wohnbaracken, einem Wirtschaftsgebäude, in dem die Küche, das Bad und der Vorratsraum untergebracht waren, Waschbänken und Toilettenanlagen und einigen Offiziersbaracken.

Prominente Bewohner

Nach und nach wurden kleinere Lager aufgelöst und die Insassen dieser Lager ebenfalls nach Narashino transferiert, so dass in der Spitzenzeit im Lager Narashino bis zu 890 Kriegsgefangene untergebracht waren, darunter auch Kapitän zur See Meyer-Waldeck und Fregattenkapitän Richard Makoviz. Kommandant im Lager von Narashino war Oberstleutnant Saigo Torataro, der Anfang Jänner 1919 an der Spanischen Grippe verstarb. Der damals in Japan wütenden Spanischen Grippe fielen auch 25 Kriegsgefangene zum Opfer. Nachfolger von Saigo wurde General Yamazaki, der am 26. Jänner 1920 Meyer-Waldeck verabschiedete, der nach den Aufräumarbeiten als Letzter das Lager Narashino verließ.

Tagesablauf im Lager

Das Lagerleben verlief in den einzelnen Lagern nach einem geordneten Zeitplan. Unterschiede gab es in Bezug auf die Strenge und Härte bei der Einhaltung der Zeitordnung. Dies hing wiederum von der Einstellung der Lagerkommandanten gegenüber den Gefangenen ab. Je nach Jahreszeit und Lager waren zwischen sechs und acht Uhr Wecken und danach Körperpflege angeordnet, welche meist - Winter wie Sommer - draußen an den Waschbänken zu erfolgen hatte.

Eine Stunde nach dem Wecken war Zählappell. Dabei mussten die Gefangenen vor den Baracken antreten. Ein japanischer Offizier ließ sich daraufhin die Vollzähligkeit melden und kontrollierte dann anhand einer mitgebrachten Liste die gemeldeten Angaben. Anschließend gab es das Frühstück, zumeist Tee und Brot. Wenn man Geld hatte, konnte man sein Frühstück durch Butter, Marmelade, Bohnenkaffee etc. aufbessern. Nach dem Frühstück waren die Gefangenen zumeist sich selbst überlassen. Viele der Lagerinsassen nutzten die Zeit zum Lernen, vor allem von Sprachen. Dies sollte sich im Lauf der nächsten Jahre der Gefangenschaft bezahlt machen. 

Zum Arbeiten im Lager wurden nur die Mannschaften herangezogen, etwa zum Wasserpumpen, Kartoffelschälen, Reinigen des Lagers etc. Die Küche wurde von Soldaten betreut, die sich freiwillig dazu gemeldet hatten. Das Mittagsessen gab es täglich zwischen 1200 und 1300 Uhr. Es wurde von der Küche abgeholt und in den Barackenräumen gegessen. Zumeist gab es Schweinefleisch, Rindfleisch, Fisch und natürlich viel Reis - zubereitet in vielen Variationen. Am Nachmittag war für die körperliche Betätigung vorgesorgt; so durften die Gefangenen unter militärischer Aufsicht Ausflüge in die Umgebung machen sowie auf dem Hof des Lagers Sport betreiben.

Am Nachmittag war auch die Kantine für einige Stunden geöffnet. Dort konnten sich die Lagerinsassen Lebensmittel aller Art und alkoholische Getränke kaufen. Zwischen 0600 und 0700 Uhr gab es das Abendessen - zumeist Tee und Brot. Hin und wieder gab es am Abend auch eine Suppe, Kartoffelsalat oder Ähnliches. Um 2100 Uhr war der Abendzählappell - danach mussten sich die Mannschaftsdienstgrade zum Schlafen niederlegen, und das Licht wurde abgedreht. Unteroffiziere durften bis 2200 Uhr aufbleiben. Danach hatte im gesamten Lagerbereich Ruhe zu herrschen, und jeder musste sich in den Baracken aufhalten. Die Baracke nachtsüber zu verlassen, war nur gestattet, um die Notdurft zu verrichten.

Ausbruch aus dem Lager und Disziplinarstrafen

Obwohl das Leben in den Lagern mit Ausnahme des Lagers Kurume durch die „gast- und deutschfreundliche Haltung“ der japanischen Lagerkommandanten für die Kriegsgefangenen erträglich war, sind mehr als ein Dutzend Ausbruchsversuche dokumentiert. Trotz der fremden Landessprache und Kultur sowie der Insellage Japans versuchten immer wieder einige Gefangene - aus welchen Gründen auch immer - auszubrechen und in die Heimat zurückzukehren. Beim Aufgreifen der Geflohenen wurden von den Lagerkommandanten unterschiedliche Strafen verhängt. Diese reichten von Disziplinarstrafen bis hin zu mehrjährigen Zuchthausstrafen. Neben der Bestrafung des Delinquenten verhängten die Lagerkommandanten auch Kollektivstrafen, vor allem Postverbote und Briefsperren. 

Anekdoten um nicht-deutschsprachige Gefangene

Da die Lagerbesatzungen aus Soldaten und Zivilisten aus dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn bestanden, sprachen einige der Lagerinsassen nicht Deutsch als Muttersprache. Unter den Deutschen gab es u. a. Gefangene aus Elsass-Lothringen und dem Norden Schleswig-Holsteins; unter den Lagerinsassen aus Österreich-Ungarn neben den deutschsprachigen Österreichern auch Ungarn, Kroaten, Bosnier, Slowenen und Italiener. Deshalb kam es während der Gefangenschaft oft zu Feindseligkeiten zwischen den einzelnen Volksgruppen.

In der Nähe des Lagers Narashino wurden die Franzosen aus Elsass-Lothringen untergebracht, die aus allen anderen Lagern gesammelt wurden. Eines Tages hissten sie die französische Trikolore und sollten als Neu-Franzosen auf die französische Verfassung angelobt werden. Zu dieser Zeremonie war auch ein hochrangiger Vertreter der französischen Botschaft in Tokio angereist.

 Als die Zeremonie begann, stellte sich ein deutscher Gefangener mit seiner Trompete an den Zaun des Lagers Narashino und blies mit voller Kraft das ehemalige deutsche Kampflied: „Es braust ein Ruf wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und Wogenprall. Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein! Wir alle wollen Hüter sein.“ Das störte offensichtlich die feierliche Handlung, und es erschien ein Bote, der dem japanischen Lagerkommandanten zu verstehen gab, dass er diese Störungen zu unterbinden habe. Diese herablassende Art missfiel dem Lagerkommandanten und er erklärte dem Boten, dass es den Kriegsgefangenen ausdrücklich erlaubt sei, Musik zu machen und er könne daher das Trompetenspiel nicht verbieten.

In einem anderen Fall hatten sich die Angehörigen der, nach dem Krieg in die Unabhängigkeit strebenden, Länder der Donaumonarchie zum frühzeitigen Abtransport gemeldet. Dies wiederum missfiel den Österreichern und Ungarn und sie überfielen die Kroaten, Bosnier und Slowenen und verprügelten sie so entsetzlich, dass sich diese Schutz suchend in japanische Obhut begeben mussten. Die Japaner sperrten daraufhin die an der Schlägerei beteiligten Österreicher und Ungarn bei Wasser und Brot 14 Tage lang ein. Als sie wieder frei kamen, wurde ihnen im Lager ein liebevoller Empfang bereitet und ein reichliches Mahl serviert.

Zurück in die Heimat

In den Weihnachtsfeiertagen des Jahres 1919 begann der Rücktransport der Deutschen, Österreicher und Ungarn. Insgesamt standen dafür die sechs Transportschiffe „Kifuku Maru“, „Hofuku Maru“, „Himalaya Maru“, „Hudson Maru“, „Ume Maru“ und „Nankai Maru“ zur Verfügung. Anhand des rund 6 000 BRT umfassenden Handelsschiffes „Kifuku Maru“ (Kifuku = Glück, Maru = Schiff) der Reederei Nippon-Yusen-Kaisha soll der Rücktransport dargestellt werden.

Notwendiger Umbau

Da das Schiff ein reines Handelsschiff war, musste es vor der langen Reise erst in ein Passagierschiff umgewandelt werden. Es wurden Schlafräume für die Mannschaft und Unteroffiziere eingerichtet sowie Offizierskabinen geschaffen. Ferner wurden eine Krankenstube, Klosettanlagen und alle notwendigen Einrichtungen der Versorgung für die Reisenden eingebaut. Vor der Einschiffung erschien vor den Gefangenen noch ein Gesandter der Schweizer Botschaft, der den angetretenen Heimkehrern eine Botschaft der japanischen Regierung zu verlesen hatte, die lautete: „Im Auftrag der japanischen Regierung erkläre ich ihnen, dass Ihre Kriegsgefangenschaft mit diesem Augenblick beendet ist. Sie sind jetzt frei. In wenigen Stunden sticht ihr Schiff noch heute in See.“

Ausschiffung in die Freiheit

Am 28. Dezember 1919 verließ die „Kifuku maru“ mit rund 930 ehemaligen Kriegsgefangenen Kobe - darunter auch die Rest-Österreicher (61 Österreicher, 70 Ungarn und zwei österreichische Zivilisten). In Tsingtao wurde noch ein kurzer Halt eingelegt und der Hausrat einiger deutscher Familien aufgeladen. Der Name des Schiffes bewährte sich bei der Überfahrt nach Europa. Es hatte keine schweren Stürme zu bestehen und kam am 28. Februar 1920 nach einer Reise von 66 Tagen in Wilhelmshaven an der Nordseeküste an. Die Weiterfahrt der Österreicher und Ungarn mit der Bahn erfolgte über Bremen, Halle, Leipzig, Regensburg und Passau nach Österreich, wo die ehemaligen Angehörigen der Donaumonarchie am 3. März 1920 eintrafen.

Vergessene Heimkehrer

Die Österreicher und Ungarn erwartete keine jubelnde Masse in ihrer Heimat. Die Kriegsgefangenen in Fernost waren damals in der täglichen Wahrnehmung, der vom Krieg traumatisierten Bürger, mittlerweile vergessen und betraten ein Heimatland mit einer ungewissen Zukunft.

Was blieb von den Kriegsgefangenen in Japan

Wie bereits erwähnt, setzten sich die Verteidiger von Tsingtao zum Großteil aus eingezogenen Reservisten zusammen, die zumeist einen zivilen Beruf erlernt hatten. Diesen Beruf konnten sie während der Kriegsgefangenschaft nutzbringend ausüben. Die vielen Gefangenen mit unterschiedlichen Berufen erzeugten Güter und Dienstleistungen, die in Japan wenig bis gar nicht bekannt waren. Die betreffenden Professionisten waren daher bei der japanischen Bevölkerung begehrt, und auch die offiziellen Stellen in Tokio versuchten, die Errungenschaften der Handwerker zu erwerben.

Das wohl bekannteste Beispiel betrifft den Metzgermeister Karl Jahn, der im Kriegsgefangenenlager Narashino eine Schlächterei führte. In diesem Betrieb stellte Jahn viele Wurstsorten her. 1918 verriet der Metzgermeister dem Ministerium für Landwirtschaft und Handel in Tokio das Geheimnis seiner Herstellungstechnik für Würste. Seine Technik wurde in den Kursen der Versuchsanstalt für Viehzucht den Fleischverarbeitern vermittelt und so in ganz Japan verbreitet. Dies ist der maßgebliche Grund dafür, dass das Kriegsgefangenenlager Narashino als die Wiege der Wurst in Japan gilt. Ferner gaben Handwerker die Herstellungstechnik für Kondensmilch, Rezepte für das Backen von Kuchen und Färbetechniken preis. 

Forschungen über die Kriegsgefangenen in Japan

Die Kriegsgefangenen während des Ersten Weltkrieges in japanischen Lagern bildet an einzelnen japanischen Universitäten und sonstigen Einrichtungen ein eigenes Forschungsthema. Die Aufarbeitung ist zumindest in Japan bereits weit fortgeschritten. Ein großes Zentrum der Forschungen über die Donaumonarchie gibt es an der Universität in Kobe. Dort lehrt Univ.-Prof. Dr. Otsuru Atsushi; unter anderem erforscht er auch das Schicksal der Kriegsgefangenen aus der ehemaligen Donaumonarchie.

In Deutschland forschen einige Wissenschafter zu diesem Thema. In Österreich ist bislang kein eigener umfassender Forschungsbedarf erkannt worden - lediglich Mitarbeiter des Staatsarchivs setzten sich mit dieser Thematik auseinander. Dies mündete auch in eine Ausstellung des Staatsarchivs in Zusammenarbeit mit der Stadt Ono und der Universität Kobe im Jahre 2008 über das Kriegsgefangenenlager von Aonogahara.

 

In aller Kürze

Die äußerst humane Behandlung der Kriegsgefangenen durch die japanischen Lagerkommandanten und die Höflichkeit, die den Gefangenen von der Zivilbevölkerung entgegengebracht wurde, machte die Gefangenschaft erträglich. Die Kriegsgefangenschaft der österreichisch-ungarischen und deutschen Soldaten in japanischen Kriegsgefangenenlagern zwischen 1914 und 1919 ist daher der Musterfall für eine menschenwürdige Behandlung von Kriegsgefangenen. 

In der Geschichte blieb seitdem diese Behandlung in ihrer Art einzigartig, sollte aber von allen kriegführenden Nationen als Maßstab ihres Handelns bei der Behandlung von Kriegsgefangenen Beachtung finden. Mit der Verbreitung ihrer Kunstfertigkeiten und der Zubereitung von in Japan weitgehend unbekannten Lebensmitteln wie Würsten, Wiener Schnitzeln, Mehlspeisen etc. wurden die Kriegsgefangenen zu Türöffnern für die Geschäftstätigkeit von deutschen und österreichischen Unternehmen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. 

Die ehemaligen Verteidiger von Tsingtao und Kriegsgefangenen prägten damit wesentlich das Bild von Deutschland und Österreich, das in der japanischen Gesellschaft als sehr positiv aufgenommen wurde. Damit wurde auch der Grundstein für die sehr guten Beziehungen zwischen Japan, dem Deutschen Reich und Österreich in der Zwischenkriegszeit und während des Zweiten Weltkrieges gelegt.

Brigadier Prof. Mag. Dr. Dr. Harald Pöcher ist Abteilungsleiter im Bundesministerium für Landesverteidigung und Sport.

 

Ihre Meinung

Meinungen (2)

  • Wm.d.Res. Ing. Harald Bechmann // 10.06.2018, 17:42 Uhr Sehr schöner Überblick über das hierzulande nahezu unbekannte Thema der österreichischen Kriegsgefangenen in Japan. Schade, dass sich die heeresgeschichtliche und japanologische Forschung in Österreich nicht näher damit beschäftigt und dies Mitarbeitern des Staatsarchivs und Privatleuten bzw. Forschern in Deutschland und Japan überlässt.
  • Herbert Gundlfinger // 05.10.2020, 17:42 Uhr sehr guter Bericht über dir österr.Kgf. in Japan. Gibt es eigentlich eine Liste der Österreicher in jap. Lagern? Sie wäre mir bei meiner Erstellung einer Ausstellungssammlung sehr nützlich.