• Veröffentlichungsdatum : 09.07.2019
  • – Letztes Update : 08.07.2019

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Das taktische Führungsverfahren im Gebirge

Johannes Gaiswinkler

Der Gebirgs- und Winterkampf ist kein historisches Relikt, sondern stellt neben den urbanen Herausforderungen ein künftiges Aufgabenfeld dar. Gebirge sind Lebensbasis für zwölf Prozent der Menschheit. Viele Bergregionen haben eine arme Bevölkerung und ungerechte soziale Strukturen. Diese Dysbalance kann zum Konfliktherd in diesen Regionen führen.

„Der Wassermangel, die Klimaveränderung, die das Schmelzen von Gletschern beschleunigt und die Armut im Gebirge erhöht, erfordern neue Studien im Zusammenhang mit den vorhandenen Fähigkeiten der NATO", schreibt die NATO in einer Studie aus dem Jahre 2016. Die Menschen, die in den Bergregionen leben, leiden nicht nur unter schrecklicher Armut, ungerechten sozialen Strukturen, sondern auch unter der Erosion des Bodens. So sollen 40 Prozent der Bevölkerung, das sind in etwa 270 Millionen Menschen, direkt vom Hunger betroffen oder gefährdet sein. Chronischer Trinkwassermangel dürfte bis 2025 etwa drei Milliarden Menschen betreffen. Gebirge sind daher verstärkt Konfliktzonen. Es geht um Ressourcen, Grenzen, Engstellen, Bewegungslinien, Drehscheiben und Gebietsansprüche. Die Besonderheit des Gebirgskampfes könnte in einem Satz wie folgt beschrieben werden: Während man im Flachland das Gelände nutzt, um den Kampf so entscheidungssuchend wie möglich zu gestalten, nutzt man hier den Kampf, um Gelände zu halten oder zu nehmen. Dort ist der Kampf das Ziel, das Gelände nur ein Mittel. Hier ist der Kampf nur ein Mittel, das Gelände aber das Ziel.

Topologische Grundsätze

Die französischen Streitkräfte sprechen von sechs topologischen (Lagebeziehung zwischen Geoobjekten; Anm.) Grundsätzen: 

  • Vorbereitung auf die Einsatzbedingungen;
  • Allgegenwart;
  • Opportunität;
  • Beherrschen des Gefechtsfeldes;
  • Komplementarität der Waffenwirkung;
  • Belagerung des Gegners.

Vorbereitung auf die Einsatzbedingungen

Hierbei gilt es, das Einsatzumfeld zu verstehen und zu beherrschen, die Kräfte müssen auf das Gelände abgestimmt sowie Geist und Körper mit Blick auf das schwierige Einsatzumfeld abgehärtet werden. Man könnte auch formulieren, dass man das Umfeld, in dem man eingesetzt wird, „lieben“ muss.

Allgegenwart

Das Schwergewicht muss jederzeit verlagert werden können, und eigene Reserven sind für den entscheidenden Moment bereitzuhalten. Dies bedingt eine Aufteilung der Reserven.

Opportunität

Gegnerische Schwächen sind zu antizipieren (vorwegzunehmen; Anm.) und jeder Geländevorteil ist als Hebel zur Verstärkung der Wirkung zu nutzen. Dem Gegner muss man an den Schlüsselpunkten des Geländes zuvorkommen.

Beherrschen des Gefechtsfeldes

Durch weit gefächerte Aufklärung im gesamten Raum ist die tatsächliche Lage zu erkennen. Damit kann jede Bedrohung in allen Dimensionen erkannt und bekämpft werden.

Komplementarität der Waffenwirkung

Unter allen Bedingungen muss sofort Feuerkraft zur Wirkung gebracht werden. Die Feuerzusammenfassung ist zu optimieren und die Verwundbarkeit durch räumliche Verteilung unterschiedlicher Vektoren zu reduzieren.

Belagerung des Gegners

Eigene Verbindungslinien sind dauerhaft offenzuhalten, der logistische Aufwand soll trotz redundanter Absicherung gering gehalten werden. Umgekehrt sind gegnerische Verbindungslinien dauerhaft zu bedrohen. Der Gegner ist nicht nur frontal zu werfen, sondern in der Gesamtorganisation seines Widerstandes durch wirkungsvolles Vor- und Durchstoßen sowie durch Nachschubdrosselung zu schlagen.

Eigenarten des Gebirgskampfes

Die Gebirgstruppe muss sich trotz des Geländes und Klimas schnell bewegen. Sie muss trotz mangelnder Bewegungsfreiheit überlegen sein und den Gegner schlagen. Und sie muss trotz Unübersichtlichkeit und persönlicher Unannehmlichkeiten überlegen geführt werden. Dieses „Trotz“ trifft alle gleichermaßen. Daher erfordern Einsätze in diesem Umfeld geschärfte Sinne - und zwar gegenüber der Natur und gegenüber dem Gegner. Ungangbares Gelände bzw. schlechte Umfeldbedingungen gibt es für Gebirgstruppen nicht. Nur mit dieser Einstellung kann im Gebirgskampf der entscheidende Erfolg erzielt werden.

Eine der besonderen Eigenarten des Gebirgskampfes ist die nur bedingte Verwendbarkeit moderner Technologien. Einsatz- und Übungstätigkeit haben gezeigt, dass aufgrund der Umfeldbedingungen moderne Technik versagen kann und man sich binnen Minuten in einer Art „militärischer Steinzeit“ befindet. Daher werden im Gebirgskampf auch scheinbar veraltete Elemente wie Tragtiere, Seilbahnen oder Trägerkolonnen verwendet. Denn diese sind verlässlich und verfügbar. Immerhin können nahezu 50 Prozent der angeforderten Hubschraubereinsätze im alpinen Umfeld nicht durchgeführt werden.

Zum Wesen des Gebirgskampfes gehört auch, dass kleine autarke Elemente oft entscheidende Bedeutung haben. Dies beschreibt Franz von Kuhn: „(…) Nirgends mehr als im Gebirge kommt auch der unterste Führer in die Gelegenheit selbständig zu wirken (…).“

In der Zusammenfassung zu „Mountain Warfare“ schreibt Lieutenant Colonel John E. Sray der U.S. Army im Jahr 1994, dass Überraschung, Entschlossenheit und Kühnheit bei Bergoperationen eine besonders wichtige Rolle spielen und selbst eine kleine Untereinheit das Ergebnis der gesamten Schlacht bestimmen kann. Dies gelingt, indem sie unerwartet um die Flanke eines Verteidigers herum manövriert oder eine dominierende Höhe erobert.

Die Umfeldbedingungen sind also der entscheidende Faktor. Um effektiv führen zu können, braucht es eine ausgezeichnete Lagebeurteilung gepaart mit einem umfassenden Verständnis für die Einsatzumgebung.

Risiko versus taktischer Vorteil

Die Einsatzumgebung Gebirge in Folge als Gebirgslage bezeichnet, wird mehrheitlich als etwas Bedrohendes, etwas zu Meidendes behandelt. Im Zuge des Führungsverfahrens werden Gefahrenpläne erstellt und Geländeteile von der Nutzung ausgeschlossen. Die Frage nach dem taktischen Vorteil wird nahezu ausnahmslos nachrangig behandelt. Diese derzeitige Herangehensweise hat etwas mit dem herrschenden „Vollkasko-Mainstream“ in unseren Breiten zu tun, bei dem die Absicherung - und zwar auch im rechtlichen Sinne - vor Gefahren über alles geht. Doch diese Haltung wird im Einsatz wenig nützen. Hier muss die Wertung umgedreht und als erstes die Frage nach dem taktischen Vorteil/Nutzen gestellt werden. Erst danach sollte das Risiko abgeschätzt werden.

Einleitende Lagefeststellung

Wenn sich abzeichnet, dass die Gebirgslage Einfluss haben könnte, sollte diese Teil des kritischen Informationsbedarfes sein. Denn ein zeitgerechtes Einholen, Verwerten und Aufbereiten von Fach- und Experteninformationen entscheidet über den taktischen Vorteil und dient der Risikominimierung für eigene Truppenteile. Es gilt erste Feststellungen zu eigenen und gegnerischen Fähigkeiten zu treffen, die es ermöglichen, im Rahmen der Gebirgslage erfolgreich zu sein.

Ergibt sich dadurch eine Lageänderung? Wenn es eine grundlegende Lageänderung gibt und keine Verbindung zum übergeordneten Kommando besteht, dann muss die Gültigkeit des Auftrages geprüft werden. Ein Umstand, der gerade bei isolierten Einsatzräumen durchaus eintreten könnte.

Orientierung

In diesem Schritt sind erste Feststellungen zu treffen, inwieweit die „Gebirgslage“ die Einsatzführung beeinflusst:

  • Wie wirken sich meteorologische, geologische und geografische Faktoren auf die Ausdehnung des eigenen Bereiches, oder auf das Heranführen von Kräften aus? Kann die Kampfunterstützung folgen?
  • Steht die Infrastruktur für die Einsatzunterstützung im Gebirge zur Verfügung?
  • Werden Normbreiten und -tiefen durch die Geländestruktur verändert?

Denn das Gelände ist nicht überall in der gleichen Art nutzbar. Marsch- und Gefechtsgeschwindigkeiten unterscheiden sich vom Flachland. In der Praxis ist beim Marsch eine zwei- bis dreifach längere Zeit einzurechnen, als im Handakt Taktik angegeben.

Beeinflusst die Gebirgslage das Zeitkalkül oder die Phasen im Planungsverfahren? Ändern sich Art und Ort der Befehlsausgabe? Ergibt sich ein Zeitgewinn oder ein Zeitverlust durch zum Beispiel ein meteorologisches Ereignis? Dabei ist rechtzeitige vorausschauende Planung gerade im Gebirgskampf ein Schlüssel zum Erfolg. Zumal in der Regel Funkverbindungen, Verfügbarkeit von Kommandanten und Elementen durch die Gebirgslage erschwert sind.

Sofortmaßnahmen

Unter bestimmten Voraussetzungen ist Aufklärung bereits jetzt einzusetzen. Dadurch können beherrschende Höhen an Drehscheiben oder der Bereich eines möglichen Angriffszieles mit Aufklärung erkannt werden. Das verdichtet das Gebirgslagebild frühzeitig und erhöht somit den Handlungsspielraum. Zudem wird ein geschickter Gegner nichts unversucht lassen, um den eigenen Aufmarsch nachhaltig zu stören. Die Gebirgslage verändert das Kraft-Raum-Zeit-Kalkül. Hierzu einige beispielhafte Fragen:

  • Ist das Vorziehen von Kräften in bestimmte Räume aufgrund der nivalogischen Lage (Einflüsse durch Schnee; Anm.) erforderlich?
  • Sind aufgrund eines kurzen „Schönwetterfensters“ Lufttransporte nur mehr kurze Zeit möglich?

Unter den Bereich Sofortmaßnahmen fallen auch die Erkundung, die Datensammlung, das Führen des Planes zur Gebirgslage und der Einsatz von kampfkräftigen Elementen.

Einschränkungen des Handlungsspielraumes

Einschränkungen können sich dort ergeben, wo Regelungen für den Kampf der verbundenen Waffen/Einsatz der verbundenen Kräfte bzw. das Zusammenwirken mit Nachbarn und Reserven zu treffen sind. Der Einfluss der Gebirgslage ergibt sich durch einen längeren Zeitbedarf, isolierte Räume und sonstige Erschwernisse.

Es könnten sich bei diesen Regelungen gegebenenfalls Einschränkungen bzw. Erschwernisse durch zum Beispiel logistische Probleme beim Einsatz von Wirkmitteln aus der Luft oder Steilfeuer ergeben. Auch im Bereich der Einsatzregeln können gerade im Gebirge durch Sonderregelungen wie zum Naturschutz (Nationalparks) Einschränkungen existieren.

Planungsvorgaben des Kommandanten

Hier sollte der Kommandant Befehle zur Problemlösung vorgeben. Zudem kann er Prüfkriterien, die im Beurteilungsschritt „Erwägungen“ anzuwenden sind, festlegen. Ein solches Prüfkriterium könnte z. B. ein Schlechtwettereinbruch sein. Die sich daraus ergebenden Folgerungen können sein:

  • Einsatz kleiner Kampfelemente, um den Gegner zu überraschen;
  • Reduzierung von Einsatzschussweiten und der Ausfall bestimmter Waffensysteme.

Entscheidungsfindung

Lagefeststellung der Konfliktparteien

Beim Erfassen von Strukturen bzw. beim Zusammenfassen von relevanten Gruppierungen ist immer darauf zu achten, dass die Gebirgslage folgende Dinge verlangt: - Gegnerische Aufklärung wird in der Regel kampfkräftig sowie durchhaltefähig sein und soll daher stärker eingeschätzt werden.

  • Es finden sich häufig überdehnte Gefechtsstreifen und isolierte Einsatzräume, in denen auch Teileinheiten mit höherer Autarkie eingegliedert sind.
  • Die Reservenbildung findet auch unterhalb der Ebene Bataillon statt. Bei jedem Gegner, der diese Grundsätze berücksichtigt, bzw. bei dem diese Merkmale erkennbar sind, ist davon auszugehen, dass er versteht, die Gebirgslage für sich zu nutzen.

Beurteilung von Klima, Wetter, Sicht und Tageszeit

Hier werden die folgenden Faktoren beurteilt: Geologie - Geografie, Glaziologie (Gletscherkunde; Anm.), Hydrologie (die Lehre vom Wasser; Anm.), Lunare Einflüsse (Einflüsse des Mondes; Anm.), Meteorologie, Nivalogie (Einflüsse durch den Schnee; Anm.). Diese Faktoren beeinflussen Mensch, Führung, Bewegung, Feuerwirkung, Beobachtung, Tarnung, Täuschung und verlangen besondere Fähigkeiten und Ausrüstung.

Von der Herangehensweise sollte immer zuerst die Frage nach dem taktischen Vorteil gestellt werden. Erst dann sollte man sich der Risiko-Einschränkung widmen. Daraus sind Folgerungen für den taktischen Vorteil der Einsatzführung abzuleiten wie: 

  • die Wahl der „ungeeigneten“ Tageszeit;
  • die Wahl der „unmöglichen“ Witterung;
  • die Wahl des „ungangbaren“ Geländes;
  • die Ausnutzung der natürlich vorhandenen Wirkmittel.

Diese Folgerungen haben das Ziel, den Gegner in unterlegener Gefechtsbereitschaft zu überraschen und zu schlagen. Wichtig ist auch das Einpflegen von Risiken und Einschränkungen in den Plan zur Gebirgslage. Dies darf aber nicht dazu führen, dass sich der militärische Führer von vornherein beschränkt. Auch bei extremsten Bedingungen sind noch viele Aktionen möglich.

Andere Faktoren

Fauna und Flora sind ebenfalls von Bedeutung. Diese beeinflussen Mensch, Führung, Bewegung, Feuerwirkung, Beobachtung, Tarnung, Täuschung und bedingen besondere Fähigkeiten und Ausrüstung. Folgerungen für den taktischen Vorteil der Einsatzführung wären zum Beispiel die Verwertung der natürlichen Tarnmöglichkeiten, die Nutzung von Brand­ereignissen, der Einsatz und das Ausnutzen von bestimmten Verhaltensweisen natürlich vorkommender Tiere (z. B. Fluchtverhalten).

All dies zielt darauf ab, den Gegner in unterlegener Gefechtsbereitschaft zu überraschen und zu schlagen. Einschränkungen könnten sich zum Beispiel auch durch die Übertragungsgefahr von verschiedenen Krankheiten bei bestimmten Tierarten ergeben.

Lage und Verhalten der Bevölkerung, staatlicher und nichtstaatlicher Organisationen (zivile Lage)

Hier geht es um den Faktor Mensch. In Afghanistan beispielsweise ist die Mentalität der Bergbevölkerung für die jeweiligen Invasoren immer Teil der Risiko-Einschränkung geblieben. Eine zerstörte Infrastruktur im Gebirge wirkt sich auf die sich dort befindliche Bevölkerung aus und muss mitbewertet werden. Zerstörte Infrastruktur kann von Kräften mit den entsprechenden Fähigkeiten zum eigenen Vorteil genutzt werden, indem sie bei der Bevölkerung Vertrauen schaffen und so dem Gegner die Basis entziehen.

Beurteilung der Lage der Konfliktparteien

Bewertung des Geländes im Großen

Durch die Grobstruktur - Analyse aller relevanten Geländefaktoren - ergeben sich

  • beherrschende Höhen;
  • Drehscheiben;
  • isolierte Räume;
  • Hauptbewegungslinien;
  • bewegungshemmende Geländeteile;
  • durchgehende Bewegungslinien;
  • Waffengattungen auch im Hinblick auf Gebirgsbeweglichkeit;
  • extreme Geländeanschnitte.

Drehscheiben innerhalb der Gebirgslage leiten sich von den geologischen sowie geografischen Bedingungen ab. Darunter fallen vor allem Bereiche, in denen sich Talfurchen kreuzen, Täler vereinen oder Hochtäler sowie Plateaus abzweigen. Bei Einsätzen im Gebirge ist ein hoher Detaillierungsgrad der Analyse der Geländefaktoren notwendig.

Absicht der Konfliktparteien im Großen

  • Wer ist aufgrund der Gebirgslage und der jeweiligen Gefechtsaufgaben ein möglicher Gegner?
  • Bei welchem Gegner muss man davon ausgehen, dass er unter der Gebirgslage kämpfen will und auch kann?

Einfluss des Geländes auf die Einsatzführung der Konfliktparteien

Wo nützt oder schränkt die Gebirgslage den Gegner ein?

  • In der Qualität der Bewegungsmöglichkeiten;
  • in der Kanalisierung;
  • bei schwer gangbaren Geländeteilen;
  • in isolierten Einsatzräumen;
  • bei den Anlandemöglichkeiten für kleine Kampfelemente;
  • in den Auswirkungen des raschen Wechsels von nahe auf weite Entfernungen;
  • in den Beobachtungs- und Wirkungsmöglichkeiten auf Gegenhänge sowie
  • in der Flanke und im Rücken;
  • in den Stellungs- und Wirkungsräumen schwerer Waffen;
  • in den Einsatzmöglichkeiten von Luftfahrzeugen;
  • in der Fliegerabwehr auf gleicher Höhe bzw. von oben nach unten;
  • in den Möglichkeiten der Einsatz- und Führungsunterstützung?

Hierzu ein Beispiel: Ein Gegner/eine Konfliktpartei wäre zu einer gewissen Zeit in einer gewissen Qualität und Quantität verfügbar. Nun stellt sich die Frage, welches Waffensystem oder welche Sperre bringt welchen taktischen Nutzen in der Gebirgslage, oder was verhindert den Einsatz im Gebirge?

Beurteilung der Möglichkeiten der Konfliktparteien

Das Verhalten der Konfliktparteien ist abhängig von den Möglichkeiten, die die Gebirgslage bietet. Niemals kann mit Bestimmtheit vorausgesagt werden, welche der Möglichkeiten der Kommandant der Konfliktpartei wählt. Daher darf kein Faktor der Gebirgslage als Ausschlussgrund genommen werden. Die Handlungsalternativen der gesamten gegnerischen Gruppierungen, einschließlich Kampfunterstützung, Luftunterstützung und Fliegerabwehr sowie der Einsatz- und Führungsunterstützung sind zu beurteilen. Ebenfalls ist zu beurteilen, wie der Gegner Redundanzen erreicht. Hierzu ein Beispiel: Beim Ausfall von Lufttransportmitteln greift die Konfliktpartei auf Tragtiere oder Träger zurück. Eine Folgerung ist, eine Wirkung auf diese Elemente vorzusehen.

Vermutliche Absicht der Konfliktparteien im Verantwortungsbereich des eigenen Verbandes

Bei mehreren gleich wahrscheinlichen Varianten ist die gefährlichste Variante zu wählen. Dies gilt vor allem im Gebirgskampf. Wetter, hohe Lawinengefahr, extremes Gelände sind Gründe, um eine Aktion durchzuführen.

Beurteilung der Umfeldbedingungen

Beurteilung des Geländes

Während man in der Ebene das Gelände nutzt, um den Kampf so entscheidungssuchend wie möglich zu führen, nutzt man hier den Kampf, um das Gelände zu halten oder zu nehmen. Dort ist der Kampf das Ziel, das Gelände nur ein Mittel. Im Gebirge ist der Kampf nur ein Mittel, das Gelände aber das Ziel.

Taktisch zusammengehörendes Gelände

Taktisch zusammengehörende Geländeteile sollten grundsätzlich in der Hand eines Kommandanten sein. Ergeben sich durch die Tatsache der isolierten Einsatzräume Umstände, die die Normleistung der Nachgeordneten wesentlich überschreiten, wäre eine grundsätzliche weitere Trennungsmöglichkeit zu beurteilen. Unter dem Gesichtspunkt der Gebirgslage allerdings komprimieren oder dehnen sich diese Räume durch den geologisch-geografischen sowie meteorologischen Einfluss in sehr kurzer Zeit. Aus diesem Grund müssen nachgeordnete Führungsebenen in diesen Räumen eine höhere Selbstständigkeit erhalten, da eine spätere Zuführung von Verstärkungen in der Regel nicht machbar sein wird.

Einfluss des Geländes auf die eigene Einsatzführung

Wo fördert, erlaubt, zwingt oder verbietet die Gebirgslage den Einsatz eigener Kräfte? Beim Einsatz weitreichender Aufklärungsmittel, bei der Qualität der Bewegungsmöglichkeiten sowie bei den Stoßmöglichkeiten vor allem in Flanke und Tiefe des Gegners wird Bewegung nach der Zeit berechnet. Das Gelände hat auch Einfluss auf die Einsatzführung durch:

  • die Kanalisierung;
  • schwer gangbare Geländeteile;
  • isolierte Einsatzräume;
  • den Einsatz kleiner Kampfelemente;
  • die Aufteilung der Reserven;
  • den raschen Wechsel von nahe auf weite Entfernungen;
  • die Beobachtungs- und Wirkungsmöglichkeiten auf Gegenhänge sowie in die Flanke und in den Rücken;
  • die Stellungs- und Wirkungsräume schwerer Waffen;
  • die Pionierunterstützung;
  • die Einsatzmöglichkeiten von Luftfahrzeugen;
  • die Luftnahunterstützung;
  • die Fliegerabwehr auf gleicher Höhe bzw. von oben nach unten;
  • die Möglichkeiten der Einsatz- und Führungsunterstützung.

Beurteilung der Eigenen Lage

Verfügbarkeit der Kräfte

Wie viele und welche Kräfte sind wann, wo und in welchem Zustand verfügbar? Daraus ergeben sich kombiniert mit der Gebirgslage die Handlungsoptionen. Das Zeitkalkül wird wesentlich beeinflusst durch die Fähigkeiten, die Einsatzmöglichkeiten der Transportmittel (Hubschrauber vs. Träger), durch die vielfältigen Einflüsse auf Marsch- und Gefechtsgeschwindigkeiten sowie den Zeitbedarf für Maßnahmen zur Erhaltung der Durchhaltefähigkeit.

Kampfkraftvergleich

Was ist kräftemäßig unter der Gebirgslage leistbar? Und welche Handlungsoptionen ergeben sich?

Gemäß Lehrmeinung würden hier nur die Manövertruppen und die Kampfunterstützung als Bonus angeführt werden. Aus Sicht des Autors müssen hier auch jene vorne mitgeführten Einsatz- und Führungsunterstützungselemente mitgerechnet werden, ohne die eine Einsatzführung von vornherein nicht stattfinden kann (Lufttransportmittel, Träger, Tragtiere, Seilbahnen, Relaisstationen). Eine besondere Rolle nimmt bei längeren Einsätzen die Durchhaltefähigkeit ein.

Kräftemultiplikatoren sind: die Anzahl der Spezialisten zur Beurteilung und Nutzung der Gebirgslage, ausgebildete Fähigkeiten und Erfahrung.

Kampfwertvergleich

Wer findet sich im Gebirge besser zurecht? Wer kann und will in diesem Gelände siegen und wer will nur überleben? Bei der Übung CAPRICORN 2013 sind 80 Prozent aller dem Force Provider zugeführten Elemente wegen fehlender Identifikation und unzureichender Vorbereitung ausgefallen.

Erwägungen

Kann die Variante 1, 2 oder 3 auch aus Sicht der Kampf-, Einsatz- und Führungsunterstützung abgedeckt werden? Sind Redundanzbildungen möglich? Wie stellt sich das Zeitkalkül dar? Entscheidungskriterien hierzu können sein:

  • Schnelligkeit vs. Durchhaltefähigkeit;
  • Waffensysteme vs. Munition;
  • Schutz vs. Wirkung.

Hierbei ist überlegene Mobilität und Schnelligkeit zulasten des Schutzes oft ein erheblicher Gewinn an Sicherheit. Der taktische Entschluss hängt im Gebirgskampf in einem viel höheren Maße von der Kampf-, Einsatz- und Führungsunterstützung ab als in anderen Einsatzräumen.

Entschlussfassung

Der Entschluss wird für die erfolgversprechendste Möglichkeit des Handelns gefasst.

Planung der Durchführung

Kriegsspiel-Synchronisationsmatrix-Zeitstrahl sind immer mit der aktualisierten Gebirgslage abzustimmen.

Synchronisation von Kräften und Mitteln

Hier erfolgt die Detailkoordinierung des Zusammenwirkens aller Kräfte und Mittel. Nur Alternativplanungen und Redundanzen sichern den Erfolg. Dazu ein Beispiel: Unter gewissen Bedingungen können einige Systeme nicht wirken. Die Panzerabwehrlenkwaffe 2000 ist bei Gewitter, dichtem Schneefall oder Föhn nicht einsetzbar. Beim Steilfeuereinsatz ergeben sich durch die geologischen bzw. geografischen Bedingungen schusstote Räume. Luftkampfmittel werden durch meteorologische sowie geologisch-geografische Faktoren beeinflusst.

Detailplanung der Durchführung

Zusätzliche Pläne und Führungsunterlagen der Waffengattungen sind immer mit dem Gebirgslageplan abzustimmen.

Befehlsgebung

Frühzeitig erteilte Vorbefehle sparen Zeit, die für die Umsetzung im Gebirge gebraucht wird. Auch hier sind geschlossene Befehlsausgaben anzustreben. Dennoch werden im Laufe des Einsatzes Einzelbefehle die Regel darstellen. Isolierte Einsatzräume, abgetrennte oder vorgeschobene Kräfte und große Distanzen verlangen ein größtes Maß an Selbstständigkeit des örtlichen taktischen Führungspersonals. Im Denken und Befehlen gilt die Reihenfolge:

  • Wo fördert,
  • wo erlaubt,
  • wo zwingt,
  • und erst dann, wo verbietet die Gebirgslage den Einsatz?

Durchführung

Erforderlich ist dabei die ständige Beurteilung der aktuellen Lage in Kombination mit den Spezifika der Umfeldbedingungen und die Überprüfung der Einsatzfortschritte mit flexiblem Treffen von Entscheidungen aufgrund von Än­derungen in der Gebirgslage. Durch isolierte Lagen und die daraus resultierende Notwendigkeit, kleinere autarke Elemente einzusetzen, ergibt sich auch die zusätzli­che Herausforderung für Kommandanten, dass sie mehr Elemente als üblich führen müssen.

Kontrolle

Zur Wahrnehmung der Kontrolle muss der Kommandant über außerordentliche physische und psychische Leistungsfähigkeit und eine „duale Wahrnehmungsfähigkeit“ verfügen. Das bedeutet, dass er die Bedrohungen durch den Gegner und die Bedrohungen durch die Gebirgslage sachlich abwägen und einen Nutzen daraus ziehen kann. Der Kommandant muss persönlich und vor Ort Einfluss ausüben - und zwar vor allem in extremen Situationen. Zusätzlich hat er laufend die reale Lageentwicklung der jeweiligen Einsatzplanung gegenüberzustellen und auf Abweichungen angemessen zu reagieren. Der persönlichen Einflussnahme und Vorbildwirkung durch das taktische Führungspersonal in der Gebirgslage kommt besondere Bedeutung zu. Je schwieriger und extremer es wird, einen taktischen Vorteil zu erzielen, desto straffer muss die Führung sein. Innovatives Führen, ein der Lage angepasstes Meldesystem (funktionierendes Informationssystem), zusätzliches Personal, der permanente Vergleich zwischen Planung und Realität und ein wacher Blick auf die Entwicklungen der Gebirgslage sollen eine funktionierende Kontrolle garantieren. Die persönliche Kontrolle der Auftragserfüllung durch den jeweiligen Kommandanten ist gelände- und zeitbedingt wesentlich erschwert. Aufgrund längerer Reaktionszeiten kommt daher einer vorbereiteten Alternativplanung bzw. Variantenplanung eine entscheidende Bedeutung zu. Sie ermöglicht es, auf Lageänderungen rasch zu reagieren.

Abschließende Bemerkungen

„Bei militärischen Operationen in den Bergen oder bei kaltem Wetter müssen Anführer und Soldaten planen, zwei Feinde zu bekämpfen: die Umwelt und die gegnerische Streitmacht“, schreibt die US-Vorschrift „Mountain Warfare and Cold Weather Operations". Aus diesem Grunde muss die Gebirgslage das Führungsverfahren ständig in allen Schritten begleiten.

Unter dem Titel „(...) Forget big ships and fighter jets, we need mules and ropes for mountain warfare (…)“ beschreibt die „Los Angeles Times“ in einem Absatz die Herausforderungen im Gebirgskampf im März 2017:

„Im Moment produziert das US-Militär Generalisten für alles, die in Städten oder in Wüsten kämpfen können. Natürlich gibt es eine gewisse Logik für diesen Ansatz und man ignoriert dabei die Tatsache, dass der Kampf in großen Höhen grundsätzlich anders ist. Bei über 14 000 Fuß (über 4 200 Meter Seehöhe; Anm.) können die meisten von uns - Soldaten oder Zivilisten - nicht funktionieren. Die Mehrheit der amerikanischen Soldaten ist noch nie so hoch geklettert, und eine allmähliche Eingewöhnung ist erforderlich, um sich sogar auf 10 000 Fuß (etwa 3 000 Meter; Anm.) einzustellen. Nicht nur der menschliche Körper versagt in den Bergen. Panzer und Hubschrauber können oft nicht in rauen und extremen Höhen eingesetzt werden. Bemannte Flugzeuge können nicht landen. Da fortschrittliche Technologie in rauen Höhenlagen enttäuschend sein kann oder einfach nicht nützlich ist, müssen Truppen wissen, wie man auf Schiern läuft, sich abseilt und schießen kann, wie man ein Tier belädt oder eine Zugleine benutzt, um Verletzte zu evakuieren (...)“

Der Gebirgs- und Winterkampf ist kein historisches Relikt, sondern stellt neben den urbanen Herausforderungen ein künftiges Aufgabenfeld dar. Im Lichte dieser Entwicklungen wird 2022 im Rahmen der EUROPEAN MOUNTAIN PHALANX-Übung der Landstreitkräfte die multinational verstärkte 6. Gebirgsbrigade einen Angriff über den Tauernhauptkamm von Süd nach Nord in einem internationalen Szenario durchführen.

Brigadier Johann Gaiswinkler ist Kommandant der 6. Gebirgsbrigade, Heeresbergführer, Heeresschilehrer und staatlich geprüfter Berg- und Schiführer.

 

Ihre Meinung

Meinungen (1)

  • kauf michael // 10.07.2019, 15:17 Uhr Sehr geehrte Redaktion!

    Der Artikel von Hr. Brig. Gaiswinkler ist sehr interessant, informativ und hebt sich wohltuend von vielen anderen öffentlichen Publikationen in den Medien ab. Sehr richtig beschreibt er das Problem unserer "Absicherungsgesellschaft".

    Für mich sehr überraschend ist die Aussage, dass aufgrund der "Gefahr" bestimmte Gebiete/Flächen von militärischen Aktionen ausgeschlossen werden - dass es so etwas tatsächlich früher gegeben hat, kann ich (EF 1977) mich nicht erinnern. Wobei ich hier vom Ernstfall, also wirklich "Krieg" mit allen Konsequenzen rede, nicht von Übungen!
    Natürlich vermeidet man so viel Risiko wie möglich, aber um zu gewinnen, muß jeder (Kommandant) ein Risiko in Kauf nehmen. Dass dies heute in Friedenszeiten nicht gesagt wird, mag sein, aber Kommandanten aller Ebenen müssen lernen, dass Einsätze, egal wo, bis zum Tode führen können und dies akzeptieren, andernfalls sind sie fürs Militär - zumindest im nicht gewünschten Ernstfall - nicht geeignet! Lehrbeispiele für todesmutige Aktionen nicht nur im Gebirge findet man im 1. Weltkrieg in den Dolomiten, etc.. genug.

    Zum Thema der Ausstattung und Transportmittel möchte ich auch erwähnen, dass es damals u.a. die Mob-Verpflichtung von Fahrzeugen, Baumaschinen, etc. gegeben hat. Ob heute noch weiß ich nicht, aber ich kann Ihnen sagen, was meine Kameraden und ich damals, in einem echten Krieg auf Leben und Tod, gemacht hätten, wenn es zu wenig Mittel gegeben hätte. Nämlich alles beschlagnahmt was benötigt wird, egal ob es dafür einen Mobschein gegeben hätte oder nicht.

    Ob sich das heute jemand auch nur zu denken traut, wäre interessant zu wissen. Ich bin aber überzeugt, dass es nicht anders gehen würde, wenn wir Erfolg haben wollen.
    Dasselbe gilt für die unsicheren Gebiete - darauf würde ein ernstmeinender Angreifer, vor allem wenn es irreguläre Kräfte sind, kaum Rücksicht nehmen. Vermutlich leider auch auf Kulturschutzgüter, usw. . Ich glaube nicht, dass ich mich hier irre (siehe IS, Syrien, Afgahnistan, Sudan,..)..

    Ich weiß, dass solche "harten" Ansichten unmodern und unbeliebt sind, daher öffentlich ignoriert werden, aber schon der tägliche Blick in die Medien zeigt die Realität!

    Mit kameradschaftlichen Grüßen!
    Michael Kauf, OltddRes