• Veröffentlichungsdatum : 16.08.2016
  • – Letztes Update : 20.01.2017

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  • 2699 Wörter

1900 bis 1914: Der lange Friede und die kurzen Kriege

Lothar Höbelt

Von der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg wurde Europa von fünf Großmächten beherrscht. Die Industrielle Revolution beschleunigte die wirtschaftliche Entwicklung, die aber in den einzelnen Staaten unterschiedlich verlief und ein Ungleichgewicht verursachte. Das Bündnissystem und die Konflikte auf dem Balkan legten schließlich den Grundstein für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

Serie: Der Erste Weltkrieg in Europa 

Über lange Zeit wurde Europa von fünf Großmächten beherrscht: Zu dem alten Gegensatzpaar Frankreich und die Habsburgermonarchie kamen die so genannten „Flügelmächte“ England und Russland mit ihren starken außereuropäischen Interessen sowie der „Aufsteiger“ Preußen, der sich erst unter Friedrich dem Großen einen Platz unter den Großmächten erkämpft hatte und unter Bismarck nach den deutschen Einigungskriegen (1864 - 1871) schließlich zur größten Landmacht Europas aufstieg. Alle anderen Staaten und Reiche, die einst Großmachtstatus beansprucht hatten (wie Spanien, Schweden oder das Osmanische Reich), waren weit zurückgefallen. Diese fünf Großmächte hatten alle ihre speziellen Stärken und Schwächen, aber sie galten als ebenbürtig. Zuweilen nahmen sie sich auch ein Interventionsrecht heraus und handelten auf ihren Kongressen über die Köpfe der Betroffenen hinweg Lösungen für anstehende Probleme aus.

Dieses internationale System war seit dem Wiener Kongress 1814/15 durch lange Friedenszeiten charakterisiert, wie sie Europa in den Jahrhunderten zuvor nicht gekannt hatte. Es gab kaum Kriege und wenn, so waren sie kurz und verursachten deshalb auch keine allzu großen Verluste. Im 17. und 18. Jahrhundert sprach man von 30-jährigen, 9-jährigen und 7-jährigen Kriegen. Im 19. Jahrhundert hingegen verlor Österreich 1859 und 1866 zwei kriegerische Auseinandersetzungen, die jede für sich keine sechs Wochen dauerten. Selbst der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 war binnen eines halben Jahres zu Ende. Nur Kolonialkriege oder Bürgerkriege konnten sich länger hinziehen. Diese immer wieder bestätigte Erfahrung prägte die Vorstellung von einem kurzen Krieg, von der 1914 so ziemlich alle Planer ausgingen, auch wenn sich dies - wie die Geschichte lehrt - als Illusion erweisen sollte.

Die Industrielle Revolution und das europäische Gleichgewicht

Drei Entwicklungen hatten das europäische Mächtesystem seit den 1870er Jahren verändert. Erstens machte sich die Industrielle Revolution nun auch auf dem Kontinent deutlich bemerkbar. Damit war eine Verschiebung des Gleichgewichtes verbunden, die nichts mit gewonnenen oder verlorenen Provinzen zu tun hatte, sondern mit „ungleichem Wachstum“. Im Zeichen von Eisenbahnen und Schwerindustrie sowie Kohle und Stahl waren die Wachstumschancen ungleich verteilt. Das Deutsche Reich produzierte 1870 gleich viel Stahl wie Frankreich und so viel wie England und 1913 bereits soviel wie das ganze restliche Europa zusammengenommen. Hinter Deutschland aber begann das riesige, jedoch wirtschaftlich rückständige Russland ab der Jahrhundertwende mit seiner industriellen Aufholjagd. 

Zweitens begannen die europäischen Mächte sich in fixen Blöcken zu organisieren. Seit den 1870er Jahren gab es zwei Gegensatzpaare in Europa: Deutschland - Frankreich im Westen und Österreich-Ungarn - Russland im Osten. Die Habsburgermonarchie brauchte den Rückhalt beim Deutschen Reich, wenn sie Russland auf dem Balkan entgegentreten wollte. Deutschland brauchte Österreich-Ungarn, um im Falle eines Zweifrontenkrieges nicht ganz allein dazustehen. Nachdem Deutschland und Österreich-Ungarn 1879 einen Zweibund gegründet hatten, gingen schließlich Frankreich und Russland eine Allianz ein. Italien suchte wegen seiner Rivalität mit Frankreich im Mittelmeer Rückendeckung beim Zweibund, der deshalb 1882 zum Dreibund wurde. Diese Bündnisse mit ihren militärischen Beistandsverpflichtungen hatten zwiespältige Folgen: Sie bargen die Gefahr in sich, dass eine Auseinandersetzung zwischen zwei Mächten nicht isoliert bleiben konnte (wie 1866 oder 1870), sondern sofort zum Weltkrieg eskalierte. Aber es gab auch die andere Seite der Medaille: Die Bündnisse übten als so genannte „restraining alliances“ auch eine gewisse Bremswirkung aus. Es kam immer wieder vor, dass ein Partner von seinen Verbündeten vor vorschnellen Aktionen abgehalten wurde.

Drittens war die Zeit ab den 1870er Jahren vom Wettlauf der europäischen Mächte um die letzten weißen Flecken auf der Landkarte bestimmt. Dabei ging es um die Aufteilung Afrikas und um Stützpunkte und Einflusssphären in Asien. Es wurde oft behauptet, dass diese imperialistischen Rivalitäten, mit ihren wirtschaftlichen Lobbies im Hintergrund, früher oder später zum Krieg zwischen den Großmächten führen würden. Interessanterweise trat das Gegenteil ein: Es gab immer wieder Kolonialkriege, aber für das europäische Mächtesystem wirkten die überseeischen Rivalitäten nahezu als eine willkommene Ablenkung. Denn in Übersee waren die potenziellen Gegner andere als in Europa. Für Frankreich z. B. war in Europa Deutschland das Feindbild, in Afrika hingegen England. Insbesondere für eine Macht wie Österreich-Ungarn, die keine Kolonien besaß und sich an diesem Spiel nicht beteiligte, galt der alte Spruch: Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte.

Die Entstehung der „Entente“

Als die Streitigkeiten in Übersee nach der Jahrhundertwende beigelegt wurden und sich das Interesse aller Mächte wieder mehr nach Europa zurückverlagerte, wurde es für Österreich-Ungarn wieder bedrohlicher. Zwei Entwicklungen trafen hier aufeinander: Russland hatte 1904/05 einen „Kolonialkrieg“ geführt, der sich als etwas ganz anderes herausstellte, nämlich als ein Konflikt mit einer asiatischen Macht, die militärisch bereits durchaus europäisches Niveau erreicht hatte: das Kaiserreich Japan. Nach einer Fahrt um die halbe Welt wurde die russische Flotte 1905 in der Seeschlacht von Tsushima vernichtet. Die Niederlage gegen Japan schwächte Russland natürlich nur kurzfristig. Die unerwünschte Nebenwirkung für die Österreicher bestand darin: Sobald seine Expansionsabsichten im Fernen Osten sich als unrealisierbar herausstellten, wandte sich die Aufmerksamkeit Russlands wiederum Europa zu oder zumindest einer Randzone Europas, nämlich dem Balkan und den Meerengen des Bosporus und der Dardanellen. Denn der Großteil der russischen Exporte, vor allem das Getreide aus der Ukraine, musste auf dem Weg vom Schwarzen Meer ins Mittelmeer diese Meerengen passieren. Daraus ergab sich ein vitales Interesse Russlands an Konstantinopel. 

England hatte das deutsch-österreichische Bündnis ursprünglich begrüßt. Denn ein Gegengewicht zu Russland war England willkommen. England mit seiner Herrschaft über Indien war auch eine asiatische Macht und sah Russland als Rivalen an, von den Meerengen über Persien und Afghanistan bis China. Doch dort hatte Japan die russischen Vorstöße inzwischen gestoppt. England war deshalb zu einem Kompromiss bereit. Es schloss 1904 mit Frankreich und 1907 mit Russland eine „Entente“ ab (wörtliche Bedeutung: ein „Übereinkommen“), das alle kolonialen Konflikte zwischen ihnen aus der Welt schaffen sollte. Dabei spielte einerseits die deutsche Flottenpolitik eine Rolle, die von England als Bedrohung empfunden wurde, andererseits aber auch das Kalkül, dass Russland den Briten in Asien immer noch viel mehr Schwierigkeiten bereiten konnte als Deutschland. Ein Ausgleich mit Russland war daher dringlich. Die Entente war kein Militärbündnis. England hatte keine formale Verpflichtung übernommen, Frankreich und Russland im Kriegsfall beizustehen, lediglich eine gewisse moralische Verpflichtung. Daher machten sich 1914 manche deutsche Staatsmänner auch noch Hoffnungen, England würde in einem großen Krieg neutral bleiben.           

England war in erster Linie eine See- und Finanzmacht. In einem kurzen Krieg wäre England keine so maßgebliche Rolle zugefallen wie in diesem langen Krieg. Doch auch in einem kurzen Krieg konnte England sein Gewicht an einem Punkt in die Waagschale werfen, wo es für Österreich-Ungarn sehr unangenehme Folgen hatte. Denn Italien mit seinen langen ungeschützten Küsten konnte keinen Krieg gegen die britische Marine riskieren, die das Mittelmeer beherrschte. Diese Einschränkung war ursprünglich sogar in den Dreibundvertrag mit Italien aufgenommen worden. Wenn Italien daher 1914 nicht auf der Seite Österreich-Ungarns in den Krieg eintrat, so spielten nicht „Verrat“ oder der Wunsch nach der Erwerbung von Trient und Triest dabei die entscheidende Rolle, sondern geopolitische Faktoren.

Die Donaumonarchie und der Balkan

Während die Welt unter den europäischen Mächten aufgeteilt wurde, hatten sich die Grenzen in Europa dreißig Jahre lang nicht verändert. Das sollte sich 1912/13 ändern, und zwar an einem für Österreich-Ungarn besonders neuralgischen Punkt: auf dem Balkan. Deutsche und Italiener hatten fünfzig Jahre zuvor ihre Einigungskriege geführt. Jetzt versuchten Serben, Bulgaren und Griechen diese Entwicklung nachzuvollziehen. Ein Teil von ihnen lebte nach wie vor unter osmanischer (türkischer) Herrschaft. Um einen Krieg gegen die Türken zu führen, war jeder einzelne Balkanstaat zu schwach. Noch dazu herrschten zwischen ihnen selbst große Spannungen, z. B. über das Schicksal Makedoniens. Unter russischer Vermittlung kam 1912 dennoch ein Balkanbund zustande. Im Oktober 1912 erklärten die Balkanstaaten der Türkei den Krieg.

Von den Serben lebten 1912 weit mehr unter österreichisch-ungarischer Herrschaft als unter türkischer. Die serbische Öffentlichkeit erhob offen Ansprüche auf diese von Serben bewohnten Gebiete Österreich-Ungarns. Damit standen einander zwei unvereinbare Prinzipien gegenüber: Es war legitim, nationale Einigung nicht bloß für die Westeuropäer, sondern auch für die Osteuropäer einzufordern. Es war aber genauso legitim, den Bestand des eigenen Reiches gegen alle potenziellen Bedrohungen zu sichern, wie es alle Großmächte taten. Jede Stärkung Serbiens war aus der Sicht Wiens besorgniserregend. Österreich-Ungarn hatte damit zu rechnen, dass sich Serbien im Kriegsfall den Gegnern der Monarchie anschließen würde. Ein vergrößertes Serbien würde einen Teil der österreichischen Armee binden, der anderswo fehlte. Deshalb hatte Franz Conrad von Hötzendorf als Generalstabschef immer wieder gefordert, Serbien in einem Präventivkrieg niederzuwerfen, bevor es soweit kommen konnte. Doch Kaiser Franz Joseph hatte all diese Pläne immer zurückgewiesen.

Anfangs war in Wien bei Ausbruch des Balkankrieges noch Wunschdenken vorherrschend. Vielleicht würden die Türken den aufmüpfigen Balkanvölkern eine Lektion erteilen. Dann bliebe alles beim Alten und es gab keinerlei Handlungsbedarf. Doch der 1. Balkankrieg entwickelte sich zu einem „Blitzkrieg“. Die Türken wurden bis auf ein paar Festungen und das Gebiet um Konstantinopel (Istanbul) binnen zwei, drei Wochen aus Europa vertrieben. Die Großmächte, die geglaubt hatten, die Kleinstaaten in Südosteuropa würden sich wie folgsame Kinder an ihre Vorgaben halten, wurden vor vollendete Tatsachen gestellt.

Nun war guter Rat teuer, und das im wahrsten Sinn des Wortes: Zwischen Oktober 1912 und Oktober 1913 griff die Monarchie mehrmals zum Mittel eines Ultimatums, um ihre Interessen auf dem Balkan zu verteidigen. Sie stellte Forderungen und drohte mit einer militärischen Intervention, wenn Serbien oder Montenegro ihnen nicht bis zu einem gewissen Zeitpunkt nachkamen. Das Muster war immer wieder das gleiche: In Österreich-Ungarn erfolgte eine Teilmobilmachung. Reservisten wurden aus dem Alltag gerissen, Truppen und Material an die Grenze transportiert. Die Spannung stieg, bis die Serben im letzten Moment nachgaben. Österreich-Ungarn errang auf diese Weise diplomatische Pyrrhussiege: Es konnte die Ausdehnung Serbiens bis an die Adria verhindern und die Bildung eines unabhängigen Albanien durchsetzen. Aber an der Verdoppelung des Territoriums und der Bevölkerung Serbiens war nicht zu rütteln.

Für diese zweifelhaften Erfolge hatte die Monarchie hunderte Millionen Kronen ausgegeben. Österreich-Ungarn war im Rüstungswettlauf schon lange zurückgefallen. Die Sicherheitsvorkehrungen an seiner Südgrenze 1912/13 kosteten mehr als die Schlachtschiff-Division, die sich die k.u.k. Flotte vor 1914 zulegte. Während andere Mächte ihr Heeresbudget in Kader und Kanonen investierten, verpulverten die Österreicher die Millionen, die sie nicht hatten, in den militärischen „Konsum“, sprich: in die ergebnislosen Aufmärsche in Bosnien. 

Das europäische Mächtesystem beruhte darauf, dass Kleinstaaten den Großmächten nicht in die Quere kamen. Österreich-Ungarn plante keine imperialistische Expansionspolitik auf dem Balkan. Es wollte seine Ruhe haben. Der österreichisch-ungarische Außenminister Graf Leopold Berchtold versuchte dieses Verlangen seinen Verbündeten klarzumachen, wenn er schrieb: „Es verträgt sich weder mit dem Prestige der Monarchie, noch kann es ihr vom finanziellen oder militärischen Gesichtspunkte zugemutet werden, daß sie sich noch einmal der Eventualität ausgesetzt sieht, wegen Serbien außergewöhnliche militärische Maßnahmen ergreifen zu müssen.“ Dieses Verlangen war genauso verständlich wie schwer zu realisieren. 

Franz Joseph hatte die Präventivkriegspläne Conrads immer abgelehnt, aber nach der letzten Mobilmachung im Herbst 1913 entschied auch er, es dürfe keine Mobilmachung ohne Krieg mehr geben. Das hieß nicht, dass man zum Krieg entschlossen war. Aber es hieß, dass bei der nächsten Balkankrise nur mehr die Wahl bestand, die Krise entweder zu ignorieren oder tatsächlich militärisch einzugreifen. Wenn eine solche Krise z. B. in der Ägäis ausgebrochen wäre, wo es zwischen Türken und Griechen 1914 zu einem hektischen Wettrüsten zur See kam, hätte sich Österreich-Ungarn mit einer Zuschauerrolle begnügt. Doch die Ermordung des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 war eine Provokation, die man kaum ignorieren konnte. Natürlich stand die serbische Regierung nicht hinter dem Attentat. Aber es genügte, dass sie es nicht zu verhindern vermochte, dass staatliche Stellen die Attentäter schulten und ausrüsteten.

Im Jahr davor hatte es eine Zeitlang noch so ausgesehen, als ob sich für die österreichischen Probleme auf dem Balkan auch noch eine andere Lösung anbieten würde. Die Sieger des Ersten Balkankrieges begannen über die Beute zu streiten. Makedonien wies von seiner Bevölkerungsstruktur her die engsten Verbindungen mit Bulgarien auf, war aber von serbischen und griechischen Truppen besetzt worden. Österreich-Ungarn trat für die bulgarischen Ansprüche ein. Doch es war nicht in der Lage, Bulgarien auch militärisch zu unterstützen, solange Bulgarien sich nicht mit Rumänien verständigte, das mit Österreich-Ungarn verbündet war. Die österreichischen Diplomaten versuchten hier im Sommer 1913 vergeblich zu vermitteln. Doch die Bulgaren waren zu keinen Konzessionen bereit und überspannten den Bogen. Sie griffen im Zweiten Balkankrieg (Juli 1913) die Serben an, ohne vorher Rumänien zufrieden zu stellen. Rumänien fiel Bulgarien daraufhin in den Rücken und vervollständigte die Niederlage Bulgariens.

Die eigentliche Niederlage der österreichischen Diplomatie 1913 bestand nicht nur in der Vergrößerung Serbiens, sondern vor allem darin, dass es sich mit seiner Politik auf dem Balkan zwischen alle Stühle gesetzt hatte. Es hatte mit seiner pro-bulgarischen Haltung seinen alten Verbündeten Rumänien verärgert, ohne dem potenziellen neuen Verbündeten Bulgarien im kritischen Moment zu Hilfe zu kommen. Es konnte sich bei der nächsten Krise auf dem Balkan daher auf keine Verbündeten stützen.

Die Welt 1914

Die Balkankriege verschärften den Gegensatz zwischen Österreich-Ungarn und Russland, das sich als Beschützer der orthodoxen Balkanstaaten verstand, mit seinen Ansprüchen auf Konstantinopel im Hintergrund. Auf der anderen Seite bewährte sich damals noch ein letztes Mal die Funktion der Blöcke als „restraining alliances“. Deutschland und England wollten einem Konflikt ausweichen und versuchten, den Krieg lokal zu beschränken. Die Probleme, die das deutsch-englische Verhältnis belastet hatten, wurden schrittweise entschärft: Die deutsche Flottenpolitik war seit 1911 zurückgefahren worden, über den Ausbau der Bagdadbahn hatte man sich verständigt und in Afrika einigte man sich auf eine Aufteilung von Angola und Mosambik, falls Portugal seine Kolonien vielleicht einmal verkaufen würde.

Der Hoffnung auf eine Entspannung mit England stand auf der anderen Seite eine wachsende Bedrohung auf dem Kontinent gegenüber. Sollte Deutschland jemals in einen Zweifrontenkrieg verwickelt werden, so lautete sein Plan, zuerst Frankreich zu schlagen und sich dann erst gegen Russland zu wenden, das zur Fertigstellung seines Aufmarsches viel mehr Zeit brauchte. Frankreich zog daraus den Schluss, dass es am effektivsten in seine Sicherheit investieren konnte, wenn es den Russen half, ihre Mobilmachung zu beschleunigen. 1913 steckte Frankreich deshalb riesige Summen in den Ausbau der strategischen Eisenbahnlinien in Russland. Mit deren Fertigstellung war 1917/18 zu rechnen. War die russische Dampfwalze dann noch zu stoppen? Beide Seiten konnten davon ausgehen, dass die Erfolgschancen der Mittelmächte in jedem großen Krieg von diesem Zeitpunkt an rapide abnehmen würden.

Im Nachhinein wissen wir es freilich besser: Die ersten Schlachten erwiesen sich keineswegs als entscheidend. Die Feuerkraft der Maschinengewehre kam in erster Linie der Defensive zugute. Die Mittelmächte mochten auf den ersten Blick zahlenmäßig unterlegen sein, aber das deutsche Industriepotenzial verhalf ihnen auf manchen Sektoren sogar zu einem Vorsprung. Wenn man all diese Faktoren in Rechnung stellte, hätte man die Situation viel entspannter betrachten können. Die Zukunft sah für Deutschland und Österreich-Ungarn nicht so bedrohlich aus, wie man 1913/14 annahm. So aber mussten alle deutschen und österreichischen Militärs auf die Frage, ob man einen Krieg besser früher oder später führen könne, ohne Zögern antworten: Besser früher. Es war nicht überschäumendes Selbstbewusstsein, das 1914 dazu verleitete, einen Krieg zu riskieren, sondern im Gegenteil eine eher pessimistische Lagebeurteilung.

Die große Frage war, wie sich England im Falle einer großen Krise verhalten würde. England hielt daran fest, über eine Schlachtflotte zu verfügen, die mindestens so groß war wie die beiden nächstgrößeren zusammen („Two-Power-Standard“). Aber es verfügte über keine große Armee und über keine allgemeine Wehrpflicht. Man ging daher davon aus, dass es für die Entscheidung zu Lande keine allzu große Rolle spielen würde. Dennoch machte man sich über die Haltung Englands in Berlin und Wien sehr wohl Gedanken. Über ein Eingreifen der USA in Europa dachte im Juli 1914 noch niemand im Entferntesten nach. Die USA blieben auch 1914 neutral, doch mit einer gewissen Schlagseite: Ein Krieg gegen England galt in den USA von vornherein als völlig ausgeschlossen, für einen Krieg gegen Deutschland galt das nicht unbedingt.

Deutschland produzierte soviel Stahl wie der Rest Europas zusammen. Die USA soviel wie der Rest der Welt zusammen. De facto war Amerika schon damals die Weltmacht Nummer Eins, auch wenn Briten, Deutsche und Russen immer noch davon ausgingen, dass diese Position für sie reserviert wäre. 


Dr. Lothar Höbelt ist Professor an der Universität Wien und der Theresianischen Militärakademie.

 

Ihre Meinung

Meinungen (2)

  • Andreas // 09.10.2016, 11:30 Uhr Hallo,
    kurze Info - die Bildbeschreibung bei dem letzten Foto ist wohl nicht ganz korrekt: "Berliner blicken auf ein Extrablatt im August 2014." Ich gehe davon aus, dass das Jahr 1914 gemeint war :)
    Andreas
  • Chrisom // 08.05.2018, 00:01 Uhr Endlich eine sachlich-umfassende, hervorragende Erklärung der Zustände vor dem 1. Weltkrieg!