„Im Tod sind wir alle gleich“
Ein milder Herbsttag liegt über dem Wiener Zentralfriedhof. Die Sonne bricht durch das goldene Laub der hohen Bäume, das Rascheln der Blätter mischt sich mit einem entfernten Glockenklang und dem Geräusch der Flugzeuge, die über dem Friedhof ihre Bahnen ziehen.
Als ich Brigadier i.R. Rolf M. Urrisk-Obertynski treffe, steht er bereits am Haupttor. Kaum begrüßt, lacht er und fragt: „Haben’s heute eh nichts mehr vor, gell?“ – halb scherzhaft, halb warnend. Denn wer mit ihm über den Zentralfriedhof spaziert, merkt rasch: Das ist keine Führung, sondern eine Zeitreise.
Rolf M. Urrisk-Obertynski ist Hobby-Historiker, Autor, Brigadier im Ruhestand und ein profunder Kenner der Wiener Militär- und Erinnerungskultur. Jahrzehntelang hat er zu Kriegsdenkmälern, Soldatengräbern und militärischer Bestattungstradition geforscht. Seine Buchreihe zu 2.000 Jahre Wiener Garnisonsgeschichte gilt als Standardwerk auf diesem Gebiet.
Doch wenn er über Friedhöfe spricht, klingt er weniger wie ein Gelehrter, sondern mehr wie jemand, der dort oft und gerne verweilt. Seit seiner Pensionierung sind Besuche auf den verschiedensten Friedhöfen sogar zu einem gemeinsamen Hobby mit seiner Frau geworden.
Wir fahren entlang der langen Allee in Richtung der militärischen Sektionen. Schon nach wenigen Metern wird klar: Der Wiener Zentralfriedhof ist kein einheitlicher Ort des Gedenkens, sondern ein Mosaik aus Glaubensrichtungen, Sprachen und Symbolen.
„Was diesen Ort so besonders macht“, sagt Rolf Urrisk-Obertynski, „ist, dass hier alles nebeneinander existiert. Katholisch, evangelisch, orthodox, israelitisch, muslimisch, buddhistisch – alle haben hier ihren Platz. Und im Tod sind wir alle gleich.“ Dieser Satz „Im Tod sind wir alle gleich“ zieht sich wie ein roter Faden durch unser Gespräch. Für ihn ist er nicht nur eine philosophische Haltung, sondern eine Überzeugung.
Wir kommen zur sowjetischen Abteilung. Reihenweise schlichte Grabsteine, alle gleich gestaltet und sauber ausgerichtet. „Die russische Tradition war ursprünglich, Gefallene direkt am Ort des Todes zu bestatten“, erklärt er. „Erst Stalin ließ anordnen, dass alle in Wien gefallenen Soldaten hier zentral beigesetzt werden.“
Auffällig sind auch die französischen Gräber. Schlichte Steine, sorgfältig in Reihen angeordnet – doch ohne Jahreszahlen. Nur die Namen der Gefallenen stehen dort. Gerade diese Reduktion wirkt eindrucksvoll: Sie lenkt den Blick weg vom Wann und hin zum Wer und auf das einzelne Leben, das hinter jedem Namen steht.
Unter den französischen Grabstätten befindet sich übrigens auch das Grab eines Widerstandskämpfers. Das ist eine Besonderheit, wie Rolf Urrisk-Obertynski anmerkt. Dass jemand, der sich aktiv gegen den Krieg gestellt hat, hier, mitten unter Soldaten, seine letzte Ruhe gefunden hat, macht diesen Ort umso bemerkenswerter.
Wir kommen zur österreichischen Militärsektion aus dem Zweiten Weltkrieg. Die einheitlichen Grabsteine sind hier allesamt auf dem zentralen Gedenkplatz ausgerichtet. Hier wird auch jährlich mit der Kranzniederlegung an die gefallenen Soldaten des Zweiten Weltkrieges gedacht.
„Das war einmal sehr genau geregelt“, erklärt Rolf Urrisk-Obertynski. „Nur Soldaten durften hier bestattet werden. Wenn etwa die Gattin des Gefallenen wünschte, mit ihrem Mann gemeinsam beerdigt zu werden, musste das eigens vom Gemeinderat genehmigt werden.“
Etwas später stehen wir vor den israelitischen Gräbern. Viele davon tragen kleine Steine auf den Grabplatten. „Die Steine sind kein Zufall. Das ist ein uralter Brauch, der aus der Zeit stammt, als Juden ihre Toten in der Wüste begruben. Damals legte man Steine auf die Gräber, um sie vor Tieren zu schützen. Später wurde daraus ein Symbol des Gedenkens.“
Rolf Urrisk-Obertynski bleibt vor einem Grab stehen, betrachtet die Inschrift. „Spannend ist, wie viel man manchmal aus den Texten erfahren kann“, sagt er. „Manche Grabsteine nennen nur den Namen, andere erzählen eine ganze Geschichte.“ Besonders bei den jüdischen Gräbern erkennt man oft sofort, was jemand im Leben getan hat, welchen Charakter er hatte oder welchen Platz er in der Gemeinschaft einnahm. Das Gedenken wird damit sehr persönlich.
Während wir weitergehen, erzählt der Brigadier im Ruhestand von der Arbeit an seinem Buch und der intensiven Auseinandersetzung mit militärischen Ritualen. Auch das Lied „Ich hatt’ einen Kameraden“ habe ihn beschäftigt. „Der Text stimmt eigentlich nicht“, meint er. „Wenn jemand fällt, ist er nicht einfach ‚weg‘. Für den, der zurückbleibt, bleibt er Kamerad bis er selbst stirbt“
Rolf Urrisk-Obertynski erzählt, wie er dazu auch Soldatinnen des Bundesheeres interviewt hat. Eine Soldatin hätte betont, dass sich Frauen auf Einsätze anders vorbereiten müssten. „Es ist tief in unserer Gesellschaft verankert, dass der Mann in den Krieg zieht und die Frau daheim alles weiterführt. Wenn er nicht zurückkommt, ist das tragisch, aber irgendwie war das schon immer so. Wenn aber die Mutter nicht zurückkommt, verändert das alles – für die Kinder, für die Familie. Das wird oft übersehen.“
Wir stehen wieder auf dem Hauptweg. Ich frage Rolf M. Urrisk-Obertynski, was den Wiener Zentralfriedhof für ihn einzigartig macht. „Ich glaube, das ist das Besondere am Wiener Zentralfriedhof ist, dass hier nichts eine Rolle spielt – weder Religion, noch Nation oder Rang. Alle liegen sie hier nebeneinander.“ Seine Worte hallen nach. Denn während in der Welt immer wieder neue Grenzen gezogen werden – kulturell, politisch, gesellschaftlich, scheint hier tatsächlich ein Raum zu existieren, in dem all das keine Bedeutung hat.
Der Zeitpunkt dieses Treffens ist kein Zufall. Rund um Allenheiligen und Allerseelen am 1. und 2. November füllen sich Friedhöfe mit Kerzenlicht und Blumenschmuck. Der Tag gilt seit dem frühen Mittelalter als jener, an dem der Verstorbenen besonders gedacht wird. Zu Beginn des 11. Jahrhunderts verfügte die Kirche, die bis dahin verstreuten Totengedenktage zusammenzulegen. Allerseelen wurde zum zentralen Tag des Erinnerns. Damit entstand auch der Brauch, Gräber zu besuchen, zu schmücken und der Verstorbenen zu gedenken.
Bald übernahm das Militär diesen Brauch. Allerseelen wurde zum Tag, an dem man nicht nur der eigenen Toten, sondern auch der Gefallenen gedachte, jener Personen, die in Kriegen ihr Leben verloren oder im Dienst verunglückten. So wurde aus dem religiösen Totengedenken zugleich ein öffentlicher Akt der Erinnerung, der über Generationen hinweg besteht.
„Seit es Kriege gibt,“ sagt Rolf M. Urrisk-Obertynski, „spricht der Mensch wohl als Rechtfertigungsversuch dem Kriegstod einen höheren Sinn zu, der seinen Ausdruck in den verschiedensten Formen der Totenverehrung findet.“ Ein Gedanke, der sich beim stillen Gang zwischen den Gräbern eindringlich bewahrheitet. Hier begegnen sich Geschichte und Gegenwart, Religion und Erinnerung und vielleicht auch jene leise Hoffnung, dass das Gedenken auch ein Akt des Friedens sein kann.
Abschließend lässt sich feststellen, dass es sich lohnt, sich mit Erinnerungskultur auseinanderzusetzen – mit den Formen des Gedenkens, der Geschichte von Soldatengräbern und Kriegsdenkmälern, aber auch mit dem Wandel, den diese Orte im Lauf der Zeit erfahren haben. Allerseelen bietet dafür einen passenden Anlass: Einen Moment der Einkehr, des Nachdenkens und der Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Doch auch jenseits dieses Feiertages ist ein Spaziergang über den Wiener Zentralfriedhof empfehlenswert. Er ist nicht nur ein stilles Erlebnis, sondern eine lebendige Begegnung mit Geschichte, Kunst und Glauben. Wer sich vertiefend mit dem Thema befassen möchte, dem sei Bgdr i.R. Rolf M. Urrisk-Obertynskis Buch „Wien. 2000 Jahre Garnisonsstadt - Ich hatt‘ einen Kameraden ... Treu bis in den Tod! – Militärische Bestattungs- und Gedenkkultur, Soldatenfriedhöfe und Kriegerdenkmäler“ ans Herz gelegt.

